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Titel
Erziehung zur "Volksgemeinschaft". Volksschullehrkräfte im "Dritten Reich"


Autor(en)
Stern, Kathrin
Reihe
Nationalsozialistische ›Volksgemeinschaft‹ (10)
Erschienen
Paderborn 2021: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lena Heerdmann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Rolle der Volksschullehrkräfte, insbesondere ihres außerschulischen Engagements, wird gemeinhin unterschätzt – konkret für die nationalsozialistische Ideologisierung sowohl von Schulkindern als auch der Bevölkerung auf dem Land. Von dieser Prämisse ausgehend untersucht die Oldenburger Dissertation, die im Kontext des Niedersächsischen Forschungskollegs „Nationalsozialistische Volksgemeinschaft? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“ entstand, die Funktion und Bedeutung der Volksschullehrer:innen beim „Transfer der nationalsozialistischen Ideologie in die Schulen und Dörfer“ (S. 29). Kathrin Stern beschränkt sich dabei mikroperspektivisch auf die Volksschullehrer:innen des protestantisch geprägten ostfriesischen Landkreises Leer.

Ausgangspunkt von Sterns Arbeit ist die im Laufe der Weimarer Republik erfolgte Verbesserung des sozialen Status der Volksschullehrer:innen, die insbesondere durch das Ende der geistlichen Schulaufsicht und die Akademisierung der Lehramtsausbildung resultierte. Außerdem wurde dadurch ihr Selbstbewusstsein als Teil der „dörflichen Führungselite“ aufgewertet (S. 1). Der Mehrwert der Studie liegt daher vor allem in der Betrachtung außerschulischer Handlungspraxen sowie der vielfältigen Einbindung der Lehrkräfte in die dörflichen Strukturen, welche sie für die Nationalsozialisten als „Volkslehrer“ prädestinierten. Damit positioniert sich Stern einerseits in der kontrovers geführten Debatte, ob es sich bei dem Begriff der „Volksgemeinschaft“ um einen Quellenbegriff oder einen Analysebegriff handelt. Sie spricht sich aufgrund seiner „handlungsleitenden Dimension“ (S. 14) für die Nutzbarkeit des Begriffs für ihre Analyse aus und kann dabei auf breite Forschungen zurückgreifen.1 Andererseits verortet Stern sich auch in der bildungshistorischen Forschung, grenzt sich jedoch durch den sozialhistorischen Zuschnitt ihres Forschungsdesigns von den üblicherweise erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisrichtungen der Historischen Bildungsforschung ab.2

Die Studie überzeugt durch ihr theoretisches und methodisches Fundament. Der alltäglichen Handlungspraxis der Volksschullehrer:innen des Landkreises Leer nähert sich die Autorin mit einem regionalgeschichtlichen und mikrohistorischen Ansatz. Die praxeologische Analyse der angestrebten Gemeinschaftserziehung steht dabei im Vordergrund. Erwähnenswert ist die Analyse sowohl quantitativer als auch qualitativer Quellen sowie deren Zusammenführung. Stern nimmt zunächst eine systematische Auswertung von 478 Personalakten der Lehrkräfte im Landkreis Leer zwischen 1933 und 1945 vor. Hinzu kommen Berichte in der lokalen Tageszeitung, die Entnazifizierungsakten der Lehrkräfte, Schulchroniken sowie amtliche Verordnungen. Durch eine kollektivbiographische Annäherung an die Volksschullehrer:innen im Landkreis Leer erfolgt im zweiten Kapitel der Einstieg in den Hauptteil.

Das dritte Kapitel beleuchtet die „Einordnung“ der Volksschullehrer:innen in eine „Erziehergemeinschaft“ sowie die konkret an die ostfriesischen Volksschullehrer:innen adressierenden Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sowohl auf lokaler Ebene als auch auf Gau-, Landes- und Reichsebene. Zum einen analysiert Stern die Tätigkeitsberichte, die die Prüflinge an den Hochschulen für Lehrerbildung im Rahmen der zweiten Lehramtsprüfung bis 1940 schreiben mussten. Sie bezeichnet diese als „Initiationsritual“ (S. 113), innerhalb dessen die Nutzung von ideologiehaltiger Sprache mehr darüber aussagt, was die Prüflinge über die amtlichen Vorgaben und die Erwartungen der Prüfer wussten, als über ihren tatsächlichen Grad der Nazifizierung. Dennoch liege hier eine Instrumentalisierung der Prüfung vor. Auch Stimmungsberichte aus den verschiedenen Schulungslagern dienten hauptsächlich der Propaganda für das angestrebte Gemeinschaftsgefühl in den Lagern und zeugen als Quellenmaterial eher von dem Wissen der Schreibenden um die richtigen sozial erwünschten Äußerungen als von tatsächlicher Praxis.

Das vierte Kapitel fokussiert die Handlungspraxis der Lehrkräfte an den Volksschulen des Landkreises Leer. Über die bereits viel erforschten Konfliktpotentiale zwischen Hitlerjugend (HJ) und Lehrpersonal hinaus möchte Stern vor allem die weniger beachtete „freiwillige oder auch erzwungene Kooperationsbereitschaft des Lehrpersonals“ untersuchen (S. 242). Anhand der Tatsache, dass die Integration der Schulkinder in die HJ im Landkreis Leer in den einzelnen Schulen zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten gelang, sieht Stern das jeweilige Lehrpersonal am Erfolg der Mitgliederwerbung nicht unwesentlich beteiligt. Für den Turn- und Geschichtsunterricht greift Stern hauptsächlich auf Visitationsberichte der Kreisschulräte und -sportlehrer zurück. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass insgesamt die „Formationserziehung“ in Form von verschiedenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen an den Volksschulen besser gelang als die eigentliche Wissensvermittlung nach nationalsozialistischen Vorstellungen im Unterricht. Diesen Befund erklärt Stern mit der Schulungspraxis im Landkreis, in der ebenfalls die „Charaktererziehung“ über die Fachschulung erhoben wurde.

Im letzten themenspezifischen Kapitel wird die außerschulische Einbindung der Lehrkräfte untersucht. Die Idee der „Volksgemeinschaft“ sowie die ideologische Überhöhung des Bauerntums verbesserten das soziale Ansehen der Landlehrkräfte als „Meinungsführer“ im dörflichen Gefüge (S. 293). Im Rahmen ihres vielseitigen außerschulischen Engagements, etwa als Chorleiter oder als Funktionär in der Partei und den ihr angeschlossenen Verbänden und Gliederungen, gestalteten sie die „Volksweihnacht“ sowie die „Heldengedenkfeier“ aktiv mit, sammelten Spenden für das Winterhilfswerk (WHW) und organisierten Konzerte, als Ortsgruppenschulungsleiter hielten sie insbesondere 1933 und 1934 weltanschauliche Vorträge. Am Beispiel der Mitarbeit der Volksschullehrer für das WHW zeigt Stern, dass Engagement jedoch nicht gleich Prestige bedeutete. So dürfte beispielsweise die Organisation von Konzerten zugunsten des WHW die Rolle der Volksschullehrer als dörfliche Meinungsführer erfolgreicher aufgewertet haben als reine Sammlungstätigkeiten, die viele Dorfbewohner:innen durchaus als belästigend wahrnahmen.

Mit der propagierten Schaffung einer egalitären „Erziehergemeinschaft“, die Standesunterschiede auch zwischen den unterschiedlichen Lehramtsgruppen aufheben sollte, gingen für die ländlichen Volksschullehrkräfte vielfältige Hoffnungen auf Prestigeerhöhung einher, die nur begrenzt erfüllt worden sein dürften. Sterns Analyse zeigt, dass sie vor allem dann zentrale Aufgaben übernahmen, wenn geeignetes Personal für diese Funktionen aus nationalsozialistischer Perspektive fehlte. Neben ihren traditionellen Rollen im dörflichen Gefüge wurden neue Führungsrollen an sie herangetragen. Dazu gehörten beispielsweise Funktionen in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) oder im Ortsgruppenstab der NSDAP. Eben diesen Dualismus traditioneller und neuartiger Rollen sieht Stern zentral für das Gelingen einer nachhaltigen Ideologisierung der Schulkinder und der Dorfbevölkerung.

Die Stärke von Sterns Studie liegt darin, die Bedeutung des außerschulischen Engagements der Volksschullehrer:innen zu erforschen – einschließlich der Frage, wie sie in das dörfliche Leben für die Eingliederung der Dorfbevölkerung in die „Volksgemeinschaft“, die dabei als allgegenwärtiges Narrativ auch handlungsleitende Qualität hatte, eingebunden wurden. Sterns Leistung besteht insbesondere darin, die Lehrkräfte in ihrer Rolle im dörflichen Gefüge zu betrachten und dadurch den Blick auf Konstellationen zu ermöglichen, in denen es zu Spannungen zwischen beruflichen und ehrenamtlichen Rollen kam. Anhand derer legt die Autorin anschaulich dar, wie die Lehrkräfte sich durch starkes Engagement in der „nationalsozialistischen Bewegung“ gegenüber ihren schulischen Vorgesetzten profilieren konnten. Neben ihrer umfassenden Quellenbasis gelingt es Stern durch das Heranziehen der Forschungsliteratur, ihre eigenen Ergebnisse mit reichsweiten Entwicklungen sowie den Zuständen in strukturell unterschiedlichen Regionen abzugleichen und zu verknüpfen. Zwar klingt eingangs der Wunsch der Autorin an, das einseitige Bild der Volksschullehrkräfte als soziale Aufsteiger:innen und Opportunist:innen zu hinterfragen. Dem Topos der „lang gehegten Sehnsüchte der Volksschullehrer nach sozialer Anerkennung“ (S. 369) bleibt Stern jedoch im Verlauf ihrer Untersuchung von alltäglicher Handlungspraxis verhaftet.

Kathrin Stern legt eine durchdachte und lesenswerte Studie zur Rolle der Volksschullehrkräfte im dörflichen Gefüge der Gemeinden des ostfriesischen Landkreises Leer zwischen 1933 und 1945 vor. Damit präsentiert sie neue interessante Forschungsergebnisse, indem sie den Volksschullehrerstand praxeologisch untersucht und zudem einen Beitrag zur Erforschung der dörflichen Interaktionsräume zur Zeit des Nationalsozialismus leistet. Mit ihrer Arbeit stößt sie also in gleich mehrere Forschungslücken. Insbesondere die umsichtige analytische Nutzung des Begriffs der „Volksgemeinschaft“ erwies sich hier als ertragreich.

Anmerkungen:
1 Für die Erforschung der „Volksgemeinschaft“ siehe unter anderem aus selbiger Reihe: Annette Blaschke, Zwischen „Dorfgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“. Landbevölkerung und ländliche Lebenswelten im Nationalsozialismus, Paderborn 2018; Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg.), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2017; Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hrsg.), Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft, Paderborn 2013.
2 Eine grundlegende Studie dieser Ausrichtung: Ottwilm Ottweiler, Die Volksschule im Nationalsozialismus, Weinheim 1979.

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