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Titel
Erschöpfte Utopien. Dahrendorf, Habermas und das Ende der ›trente glorieuses‹


Autor(en)
Hansl, Matthias
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit
Erschienen
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Hertfelder, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

Die Frage nach der Rolle von Intellektuellen hat die Geschichte der Bundesrepublik von Anfang an begleitet, jedoch erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts einen rasch erblühenden Zweig der Zeitgeschichtsforschung hervorgebracht.1 Zahlreiche Arbeiten haben seitdem die Funktion, Position und Bedeutung von Intellektuellen etwa unter typologischen2, generationellen3, ideengeschichtlichen4 und biographischen5 Aspekten diskutiert. In einem gewaltigen, posthum erschienenen Fragment über die „Medien-Intellektuellen“ der Bundesrepublik hat Axel Schildt zuletzt plausibel gemacht, in welch fundamentaler Weise das Wirken einzelner Intellektueller von ihrer Sicht- und Hörbarkeit, mithin von medialen Konstellationen und individuellen Bündnissen mit mächtigen Medien bestimmt war.6

Zwei „engagierte Beobachter der Moderne“ (Gangolf Hübinger), die auf dieser Klaviatur zu spielen wussten wie wenige andere, hat sich Matthias Hansl in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation vorgenommen. Seine Hauptthese lautet, dass sich eine „theoriegeleitete, utopische Herrschaftskritik“ (S. 4) in Ralf Dahrendorfs und Jürgen Habermas' ideenpolitischem Wirken der 1950er- und 1960er-Jahre den günstigen Rahmenbedingungen der „trente glorieuses“ (Jean Fourastié) verdankt habe. Nach dem Ende des Booms, also ab Mitte der 1970er-Jahre, sei das sozialtheoretische Denken der beiden „Agenten einer grundlegenden Demokratisierung“ (S. 6) indessen von einer rasch zunehmenden Ernüchterung, ja einer „Ort-, Rat- und Ziellosigkeit“ (S. 4) bestimmt gewesen. Diese Beobachtung sucht Hansl zeitgeschichtlich zu fundieren.

Dahrendorf und Habermas (beide Jahrgang 1929) waren Weggefährten zunächst als Angehörige jener „langen“ Generation der „45er“ (so der etwas unscharfe, durch A. Dirk Moses prominent gemachte Begriff), die unter dem tiefen Eindruck der Zäsur von 1945 die Entwicklung der Bundesrepublik mit sozialwissenschaftlicher Expertise und publizistischer Intervention kritisch begleiteten. Auch der disziplinäre Hintergrund – beide wurden in Philosophie promoviert, bevor sie sich der neuen Leitdisziplin Soziologie zuwandten – verband diese Intellektuellen. Beide fanden zudem früh eine öffentliche Bühne, auf der sie über Jahrzehnte hinweg Begriffe prägten, Themen setzten, ja zeitweise geradezu den Ton vorgaben.

Zu Recht weist Hansl aber auch auf entscheidende Unterschiede hin: Während der Linke Habermas mit seinen Anläufen zu einer Großtheorie der Gesellschaft ein riesiges, weltweit rezipiertes Œuvre schuf und schon zu Lebzeiten in den sozialtheoretischen Kanon eingegangen ist, hat der Liberale Dahrendorf die Möglichkeit einer solchen Theorie stets bestritten. Seine zunächst einflussreichen soziologischen Ansätze (etwa seine Konflikt-, Herrschafts- und Rollentheorie) gerieten bald in Vergessenheit, während seine zeitdiagnostischen Essays noch bis zu seinem Tod 2009 ein aufmerksames Publikum fanden.

In ihrer frühen Auseinandersetzung mit Karl Marx haben Dahrendorf wie Habermas einen wichtigen Grundstein für ihre intellektuelle Profilierung gelegt – der eine, indem er Marx „enthegelte“ und Elemente der Marx’schen Theorie für seine Klassenanalyse fortgeschrittener Industriegesellschaften fruchtbar zu machen suchte; der andere, indem er an die philosophischen Ursprünge der Marx’schen Theorie anknüpfte. Wenn man, so Hansls plausible Beobachtung, in einem durch und durch antikommunistischen Umfeld mit Marx argumentieren wollte, so musste man zugleich gegen ihn argumentieren. Dabei sorgte der Boom der Wirtschaftswunderjahre dafür, dass Dahrendorf wie Habermas die Marx'sche Krisen- und Zusammenbruchstheorie verabschiedeten.

Habermas verschärfte den 1961 von Dahrendorf angestoßenen „Positivismusstreit in der Soziologie“ und entwarf daran anknüpfend in „Erkenntnis und Interesse“ (1968) eine erkenntniskritisch fundierte Theorie eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses. Hansl spricht hier von einer „utopischen Zielbestimmung“ in Habermas' Denken (S. 83), das sich allerdings nicht zuletzt am wenig diskursiven Gebaren revoltierender Studenten in Frankfurt brach. Dahrendorfs „utopisch erhöhten Fortschrittsoptimismus“ (S. 53) sieht Hansl wiederum in dessen konfliktsoziologisch fundierter Konzeption des gesellschaftlichen Wandels begründet, die nur vor dem Hintergrund des scheinbar krisenfreien Nachkriegskapitalismus begreiflich sei.

In einem Land, das „vom Staat her“ zu denken gewohnt war7, verband das „Denken von der Gesellschaft her“ die beiden Intellektuellen erneut. Bei Habermas trat dieses Denken prominent in der Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zutage (Erstausgabe als Buch 1962). Hansl liest sie überzeugend als „Gegenprojekt zur Schmitt-Schule“ (S. 124), namentlich zu Reinhart Kosellecks Dissertation „Kritik und Krise“ (Erstausgabe 1959), als Kritik an Adenauers akklamatorischer Kanzlerdemokratie sowie als kräftigen Impuls für weiteres demokratietheoretisches Engagement. Zeichnete Habermas im „Strukturwandel“ das „Schreckensszenario einer ‚Arkanpolitik der Interessenten‘“ (S. 135), so habe Dahrendorf in seiner Kritik an einer neuen „Dienstklasse“ das „Schreckensszenario der nivellierten Massendemokratie“ (ebd.) an die Wand gemalt. Diese Deutung verkennt, dass die „Dienstklassengesellschaft“ für Dahrendorf keine „nivellierte“ war, sondern sich als kritischer Anwendungsfall seiner Klassen- und Herrschaftssoziologie darstellte.

Hansl zeichnet den Habermas der 1960er- und frühen 1970er-Jahre als einen radikaldemokratischen Sozialisten, während er den Autor von „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“8 als Schüler von Karl Popper und Isaiah Berlin etwas vorschnell in die neoliberale Ecke stellt (S. 137–140).9 Die ideenpolitische Situation der mittleren 1960er-Jahre, als die gesellschaftliche Liberalisierung der Bundesrepublik noch mächtige Gegner hatte und der autoritäre Etatismus noch wortgewaltige Fürsprecher fand, wird durch diese Zuordnung jedenfalls eher vernebelt als erhellt. Habermas' Hoffnung auf die baldige evolutionäre Überwindung des Kapitalismus kulminierte schließlich in der berühmten Krisenschrift „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973).

Auf den „zuversichtlichen Theoriegestus“ der „Legitimationsprobleme“ sei Anfang der 1980er-Jahre die „pessimistische Kehre“ des Sozialtheoretikers gefolgt (S. 202), so die dramatisierende Formel, die Hansl als Reflex auf das Ende der sozialliberalen Reformära interpretiert. Auch bei Dahrendorf, der nach seinem Ausflug in die Bundes-und Europapolitik seit 1974 als Direktor der London School of Economics and Political Science (LSE) wirkte, habe sich nun ein „Ernüchterungsprozess“ bemerkbar gemacht (S. 220): London als Brennpunkt des british disease habe dem liberalen Intellektuellen die Probleme jener Wettbewerbsgesellschaft, für die der Soziologe in der Bundesrepublik stets geworben hatte, drastisch vor Augen geführt. Angesichts der tatsächlichen Probleme, mit denen sich Großbritannien in den 1970er-Jahren herumschlug und die Dahrendorf damals als „corporate bias“ beschrieb10, erscheint diese Interpretation ähnlich verkürzt wie die „pessimistische Kehre“ bei Habermas.

Die Desillusionierung der beiden Intellektuellen hatte aber auch mit dem Aufstieg des Neokonservatismus zu tun, mit dem sich Habermas und Dahrendorf seit den späten 1970er-Jahren auseinandersetzten. In einem langen, „Die Rache des Konservatismus“ überschriebenen Kapitel (S. 228–314) skizziert Hansl die Debatten im Umfeld des Münchner „Tendenzwende“-Kongresses von 1974, die Kontroverse um den Begriff der „Demokratisierung“ auf dem Duisburger Politologentag 1975 und schließlich die polemischen Gefechte, die sich Habermas mit Hermann Lübbe, Helmut Schelsky, Ernst Wolfgang Böckenförde, Peter Graf Kielmansegg und immer wieder Wilhelm Hennis lieferte, der in Hansls Darstellung zum wortgewaltigen Herold des Politikwechsels und Habermas' eigentlichem Gegenspieler avanciert (S. 260–269). Dahrendorf, der in manchen Punkten ähnlich wie Hennis argumentiert hatte, kommt hier kaum zur Sprache. Angesichts des allgemeinen konservativen Drift habe Habermas seinen liberalen Widerpart nun zunehmend als Bundesgenossen gesehen. In Hansls Deutung hat Habermas angesichts einer intellektuell bereits eingeleiteten und politisch alsbald eintretenden „neokonservativen“ Wende „vor dem spätkapitalistischen Status Quo resigniert“ (S. 287), seine Hoffnung auf eine radikaldemokratische sozialistische Gesellschaft begraben und vor diesem Hintergrund seine „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) entwickelt.

Als aufschlussreich erweisen sich immer wieder Begriffe und Denkfiguren, in denen sich die beiden Intellektuellen nahekamen. So hat Habermas im genannten Hauptwerk Analysen angestellt, die er in jungen Jahren an Dahrendorfs Arbeiten noch als „formalsoziologisch“ kritisiert hatte. Während der Starnberger Sozialphilosoph nun den Begriff der „Lebenswelt“ für seine Theorie stark machte, dachte der Direktor der LSE in seinem Suhrkamp-Band „Lebenschancen“ schon 1979 über posttraditionale „Ligaturen“ nach, die in Zeiten der „neuen Unübersichtlichkeit“ (so Habermas 1985) individuellen Optionen Sinn und Richtung geben sollten. Dass für beide Intellektuelle die „Zivilgesellschaft“ zehn Jahre später zu einer zentralen Kategorie wurde, ließe sich ergänzen. Von einer „geschichtsphilosophisch moralischen Wende“ (S. 290), die Hansl bei Dahrendorf nun erkennen will, kann bei näherer Betrachtung freilich nicht die Rede sein.

Matthias Hansls Arbeit hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Sein Ansatz, die Denkwege der beiden Großintellektuellen auf Topoi der zeitgeschichtlichen Analyse zu beziehen – die „trente glorieuses“, den „Strukturbruch“ und die „neokonservative Wende“ –, ist besonders dort reizvoll, wo sich die Protagonisten trotz fundamental unterschiedlicher theoretischer Herangehensweise begegnen. Dennoch überzeugt der Versuch, die beiden Gesellschaftsdenker im Narrativ „Von der Utopie zur Ernüchterung“ zu interpretieren, nicht wirklich. Dies liegt erstens daran, dass Hansl auf eine aus der überreichen Forschung abgeleitete Begründung des gewählten kategorialen Rahmens sowie auf die Klärung zentraler Begriffe und methodischer Entscheidungen verzichtet. Dadurch bleibt etwa die Rede vom „utopischen“ Gehalt im frühen Denken von Habermas und Dahrendorf notorisch unscharf; für den Autor von „Pfade aus Utopia“ lässt sie sich m.E. ohnehin nicht plausibilisieren.11 Zweitens leistet Hansl keine nähere Rekonstruktion der Theorieentwürfe beider Denker. Damit bleibt aber die angestrebte Fundierung der ideenpolitischen Konstellation in der Zeitgeschichte – im Boom und seinem Ende – etwas spekulativ, zumindest aber einseitig. Denn bei einem so eminenten Theoretiker wie Habermas läge es durchaus nahe, auch zu zeigen, wie ihn seine Suche nach einer umfassenden Sozialtheorie immer wieder in theoretische Sackgassen und dann wieder hinaus geführt hat – bis zum Opus magnum, das man nur aus einem nicht näher ausgewiesenen, normativen Blickwinkel als Zeugnis der Resignation lesen kann. So schwankt die Studie zwischen der Schilderung ideenpolitischer Konstellationen, knappen Skizzen des zeitgeschichtlichen Hintergrunds und einer saloppen Essayistik, die mit platter Polemik nicht spart: Dahrendorf wird etwa karikiert als „Theoriedarwinist“ (S. 47 und öfter), „Popper im Miniaturformat“ (S. 24) oder „intellektueller Posterboy“ (S. 179).

Anmerkungen:
1 Vgl. Alexander Gallus / Sebastian Liebold / Frank Schale (Hrsg.), Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2020.
2 Ingrid Gilcher-Holtey, Konkurrenz um den „wahren“ Intellektuellen. Intellektuelle Rollenverständnisse aus zeithistorischer Sicht, in: Thomas Kroll / Tilmann Reitz (Hrsg.), Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland. Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2013, S. 41–52; Gangolf Hübinger, Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, Göttingen 2016.
3 A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007.
4 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006; ders., Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009; Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008.
5 Z.B. Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2014; ders., Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2011; Franziska Meifort, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2017.
6 Axel Schildt, Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik, hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora u. Detlef Siegfried, Göttingen 2020.
7 Vgl. Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004.
8 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.
9 Vgl. Thomas Hertfelder, Neoliberalismus oder neuer Liberalismus? Ralf Dahrendorfs soziologische Zeitdiagnostik im späten 20. Jahrhundert, in: Frank Bösch / Thomas Hertfelder / Gabriele Metzler (Hrsg.), Grenzen des Neoliberalismus. Wandlungen des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 261–294.
10 Ralf Dahrendorf, On Britain, London 1982.
11 Ders., Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, München 1967.

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