Der Krieg in der Ukraine hat in der ersten Woche der Kampfhandlungen die Kurse russischer Staatsanleihen auf Talfahrt geschickt.1 Grund dafür sind die scharfen Sanktionen des Westens, die bis zum Einfrieren russischer Zentralbankreserven reichen. Dieser Kursverfall ist ein Beleg dafür, dass Finanzmarktakteure Informationen (einigermaßen) effizient verarbeiten und ihre Erwartungen im Hinblick auf die Fähigkeit zur Bedienung von Staatsschulden anpassen.
An diese Annahme knüpft Tobias Jopp an, indem er danach fragt, wie der Amsterdamer Kapitalmarkt im Laufe des Ersten Weltkriegs die Chancen der Kriegsparteien eingeschätzt hat. In diesem Ansatz werden die Veränderungen in den Renditen von Staatsanleihen als eine Änderung der öffentlichen Meinung in Bezug auf die Siegchancen eines Staates oder einer Allianz und die damit verbundene Solvenz der Staatshaushalte interpretiert. Insgesamt stehen Jopp Informationen zu über 280 unterschiedlichen Staatsanleihen zur Verfügung, die sich auf 38 Staaten verteilen. Den größten Anteil machen dabei russische (77) und brasilianische (30) Staatsanleihen aus. Der Datensatz umfasst aber Anleihen fast aller Kriegsparteien, zudem sind viele neutrale Staaten enthalten. Ein großes Manko besteht allerdings im Fehlen von Titeln der Vereinigten Staaten. Hinzu kommt die Tatsache, dass für Großbritannien und Frankreich nur inoffiziell gehandelte Werte zur Verfügung stehen. Insgesamt legt Jopp hier aber im Vergleich zu anderen Studien den umfangreichsten Datensatz vor, der zudem nicht nur die Kriegsjahre, sondern auch die Friedensmonate der Jahre 1914, 1918 und 1919 umfasst.
Die Arbeit reiht sich in ähnliche Studien zum amerikanischen Bürgerkrieg und zum Zweiten Weltkrieg ein. Der große Vorteil seiner Quelle liegt laut Jopp jedoch darin, dass der niederländische Kapitalmarkt ein weitgehend unverzerrtes Bild der öffentlichen Meinung widergebe. Der Grund dafür sei in der niederländischen Neutralität zu finden. Dieses Argument überzeugt jedoch nicht ganz, da Jopp eine genauere Beschreibung der Sozialstruktur der Amsterdamer Finanzmarktakteure schuldig bleibt. So bleibt unklar, ob individuelle Investoren oder Banken für Kursänderungen verantwortlich waren und aus welchen sozialen Schichten die Investoren stammten. Im Hinblick auf die Frage, welche Informationen den Investoren zur Verfügung standen, dürfte dies nicht unerheblich gewesen sein, stellten diese Daten doch den Pool dar, aus denen die Finanzmarktinvestoren die heterogene öffentliche Meinung zu einem Wert (dem Tagespreis der Staatsanleihe) kondensierten. Zudem bleibt offen, in welchem Ausmaß ausländische, nicht-neutrale Investoren den niederländischen Kapitalmarkt nutzten – etwa um Beschränkungen auf den heimischen Märkten zu umgehen. Der Grad der Neutralität des Amsterdamer Kapitalmarkts bleibt somit ungewiss. Unbeantwortet bleibt außerdem, durch welche Medien sich Finanzmarktakteure über den Fortgang des Krieges informierten und wie es um deren Neutralität bestellt war.
Das Buch verfolgt zwei miteinander verflochtene Fragestellungen, die auf drei bereits 2014 und 2018 im Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte sowie 2016 im European Review of Economic History erschienene Aufsätze zurückgehen. Zunächst untersucht Jopp, wie die Teilnehmer am Amsterdamer Kapitalmarkt die Kriegsanstrengungen und die Siegchancen der einzelnen Kriegsparteien wahrnahmen. Es geht ihm an dieser Stelle um die Frage, welche Ereignisse in den Augen der Zeitgenossen wichtig waren. Technisch löst Jopp diese Aufgabe mit einer agnostischen Strukturbruchanalyse, d.h. er stellt ausschließlich auf Basis einer statistischen Analyse fest, wann die Kurse der untersuchten Staatsanleihen außergewöhnliche Bewegungen aufwiesen. Problematisch erscheint mir hierbei, dass nicht wenige Staatsanleihen nur selten oder in geringer Stückzahl gehandelt wurden und damit die Summe der aggregierten Einzelmeinungen teilweise sehr gering war. Gerade in diesem Zusammenhang wäre detailliertes Wissen über die dominierenden Marktakteure relevant. Die Ergebnisse der Strukturbruchanalyse nutzt Jopp zu einem interessanten methodischen Beitrag, indem er nach der Objektivität der „allwissenden“ Historiker:in fragt. Anders als nachgeborene Historiker:innengenerationen wussten die Zeitgenossen nämlich nicht, welche Ereignisse sich später als Wendepunkte der Geschichte herausstellen sollten. Zu fragen sei also, ob Historiker:innen wichtige Ereignisse übersehen haben. So spannend die Frage ist, so enttäuschend ist ihre Umsetzung. Jopp nutzt nämlich lediglich Zeittafeln aus sieben zufällig ausgewählten Weltkriegsdarstellungen, die zwischen 1997 und 2011 erschienen sind, um seine These zu prüfen. Ob diese Zeittafeln als Kondensat der jeweiligen Darstellung dienen können, ist sehr zu bezweifeln. Die Frage, ob und warum Historiker:innen und Zeitgenossen bestimmte Ereignisse unterschiedlich einschätzen, verlangt nach einer eigenen, ausführlichen Darstellung, die aber auf der hier vorliegenden Grundlagenarbeit Jopps aufbauen kann.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Wahrnehmung der Glaubwürdigkeit der am Krieg beteiligten Allianzen, den Ententemächten, den Mittelmächten und einem zum Vergleichszweck konstruierten dritten, „neutralen“ Block. Beantwortet wird diese Frage mittels Kointegrationstests, mit denen sich untersuchen lässt, inwiefern die Veränderungen der Zeitreihen innerhalb eines Blocks beziehungsweise zwischen den Blöcken ähnlichen Mustern folgen. In den Augen des Amsterdamer Finanzmarkts existierten Allianzen nur bedingt. Lediglich das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn wurde als solches wahrgenommen, jenes mit dem Osmanischen Reich und Bulgarien demgegenüber nicht. Gleiches gilt für die Ententemächte und ihre Verbündeten. In dieser Allianz wurde die Verbindung zwischen Frankreich und Großbritannien, nicht aber die Verbindung zu Russland als glaubwürdig wahrgenommen. Allerdings macht sich hier das Fehlen der Daten für die Vereinigten Staaten bemerkbar. Gingen die Akteure am Amsterdamer Finanzmarkt bereits vor dem Kriegseintritt der USA von einem stabilen Bündnis zwischen Großbritannien und Frankreich aus? Dies wäre eine spannende Frage. Gleichzeitig findet Jopp eine Kointegration über die Bündnisgrenzen hinweg. Die Amsterdamer Investoren haben also erkannt, dass der Krieg aufgrund der vielfältigen Verflechtungen in einer globalisierten Welt alle Parteien beeinflusst. Ein wichtiges Ergebnis, das grade wieder hochaktuell ist. Eine weitere Möglichkeit, so Jopp, besteht darin, dass die Investoren die Konsequenzen der „trench (warefare) trap“ erkannt hätten: Der Grabenkrieg verlängerte die Kampfhandlungen und trieb die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten für alle Parteien in die Höhe. Dies wiederum musste – solange sich keine Partei als Sieger herauskristallisierte – die Staatsfinanzen aller Kriegsparteien negativ beeinflussen.
Der Text richtet sich aufgrund seiner technischen Komplexität in meinen Augen hauptsächlich an Wirtschaftshistoriker:innen sowie Wirtschaftswissenschaftler:innen. Eine über die Aufsätze hinausgehende Integration der Forschungsergebnisse in die Geschichtswissenschaft gelingt nicht. Zuletzt muss auf das mangelnde Lektorat seitens des Verlags hingewiesen werden. Das Englisch liest sich sehr deutsch („If we wanted to look beyond Amsterdam“, S. 90; „A question naturally suggesting itself to be asked“, S. 96) und wäre auch in der Übersetzung nicht sehr elegant. Da nicht alle Tabellen und Abbildungen in der Druckversion Platz gefunden haben, stellt der Verlag auf seiner Website einen umfangreichen Online-Appendix von 153 Seiten zur Verfügung.2 Im Buch wird zwar immer wieder auf diesen Appendix verwiesen, es findet sich aber kein Link oder Hinweis darauf, wo er zu finden ist. Der komplette Datensatz soll über die Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Journal Data Archive des Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft (ZBW)3 verfügbar gemacht werden.
Anmerkungen:
1https://www.finanzen.net/anleihen/a19kja-russland-anleihe.
2https://www.mohrsiebeck.com/uploads/tx_sgpublisher/produkte/zusatzmaterial/9783161595363.pdf.
3https://journaldata.zbw.eu.