Die Autoren kündigen das Werk als alltags- und sozialgeschichtlich angelegtes „kollektives Porträt“ der Mitarbeiter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) an, deren Persönlichkeit Einfluss auf die Besatzungspolitik gehabt habe und die „in letzter Instanz für das Fiasko der sowjetischen Politik in Ostdeutschland verantwortlich“ gewesen seien (S. 7). Dieses Diktum wird weder zeitlich noch sachlich eingebettet, die Aussage bleibt taub. Daher sei gleich hier korrigiert, dass das Narrativ, wonach die UdSSR im Unterschied zu USA und Großbritannien „unvorbereitet“ Besatzungsaufgaben übernommen habe, weil sie – im altmodischen Sprachstil ausgedrückt – „die Hauptlast des Krieges“ trug, nur als Litanei von der neuerdings vom russischen Strafrecht geschützten ewigen Opfer- und Erretterrolle Russlands verstanden werden kann. Erstens haben 1943 in Moskau mehrere interministerielle Kommissionen die Nachkriegsplanung aufgenommen, und in London planten die Alliierten 1943–45 im Rahmen der Europäischen Beratenden Kommission; ihre Ergebnispapiere sind in Moskauer Archiven überliefert. Zweitens unterschieden sich die exekutierten Besatzungspolitiken der vier Mächte stark voneinander, personell war die sowjetische Besatzungsverwaltung etwa zehnmal stärker als die US-amerikanische. Drittens belegen Akten auch sowjetische Detailplanungen, und zwar unabhängig von der 1943 eingesetzten Nachkriegsplanung der Moskauer Exil-KPD.
Die Verfasser stellen als Hauptfrage vor, zu welchem Grad die Mitarbeiter der Besatzungsverwaltung im repressiven ideologischen Umfeld ihre persönliche Unfreiheit als Indiz ihrer Befangenheit wahrnahmen. Ihre Arbeitshypothese lautet, dass der Mensch des Spätstalinismus in der ungewöhnlichen Okkupationssituation eine Subkultur entwickelt habe, die die ehemaligen Mitarbeiter der Besatzungsverwaltung in die UdSSR zurückbrachten. An einigen Stellen taucht „Europäisierung“ als Stichwort auf. Das lege neue Aspekte der stalinistischen Alltagskultur frei. Spätstalinismus wird ausschließlich chronologisch als Nachkriegs-Stalinismus definiert, wobei sich zum „Stalinismus“ keine Erklärungen finden lassen.
Im Zentrum der Darstellung steht das Personal der Kommandanturen als der untersten Gliederung der Besatzungsverwaltung, angesprochen und behandelt wird es als „kleine Sowjetunion“. Dieser Ansatz wird nicht weiter verankert. Tatsächlich waren in der SMAD Russen überrepräsentiert, und 1946 waren 55 Prozent, 1948 dann 70 Prozent der SMAD-Beschäftigten Mitglied oder Kandidat der sowjetischen Staatspartei, während ihr 1950 nur vier Prozent der sowjetischen Bevölkerung angehörten. Mit solchen harten Fakten gehen die Autoren aber sehr sparsam um, die Fachliteratur wird kaum beachtet. Die detailreiche Erzählung basiert in diesem Buch schwerpunktmäßig auf der Überlieferung der Grundorganisationen der VKP(B) und des Komsomol in der Besatzungsverwaltung. Im Zentrum stehen Parteiverfahren wegen Verletzung dienstlicher und parteilicher Vorschriften, die aufgrund persönlicher Denunziationen, Meldungen der Post- und Telefonüberwachung usw. eingeleitet wurden; zur Illustration werden Dokumente anderer Abteilungen der SMAD herangezogen.
Das Buch transportiert zahllose wertvolle Details, aus Platzgründen ist hier jedoch Konzentration auf zentrale Aussagen erforderlich: Als Zäsur behandeln die Autoren das Jahr 1947. Die ersten beiden Nachkriegsjahre werden als eine Phase der Erholung charakterisiert – das nicht vorbereitete und unqualifizierte Personal sei mit Besatzungsaufgaben überfordert gewesen. Überlastet war es bereits mit vielfältigen innersowjetischen Aufgaben wie Parteischulungen usw. Trotz eines umfangreichen Kaderkarussells seien 1946/47 Versuche zur politischen „Säuberung“ des Personals vom Einfluss der „kapitalistischen Umzingelung und der bürgerlichen Moral“ sabotiert worden, angeblich aufgrund der „Erinnerung“ an die Säuberungen der 1930er-Jahre (S. 30). 1947/48 war ein Drittel des SMAD-Personals jünger als 25 Jahre und 60 Prozent zwischen 26 und 44 Jahren alt, solche Fakten findet man aber nicht im Buch. Im Alltag der SMAD habe außerdem eine Spannung wie in der sowjetischen Gesellschaft der Vorkriegszeit, in der eine Atmosphäre der Furcht und des Misstrauens herrschte, gefehlt.
Eine Trendwende im Sozialverhalten sei 1947 eingetreten. Als Ursachen werden genannt: Stalin und die Parteiführung bemühten sich um Rückkehr zu Vorkriegsnormen der Parteiarbeit und der Maschinerie der Furcht, außerdem die Verschärfung der Geheimhaltung und der antiwestlichen Kampagne im Sommer 1947. Sozialgeschichtlich habe der Umgang mit Kriegstrophäen die soziale Hierarchie der 1930er-Jahre verändert und der „reale Kapitalismus“ die verinnerlichten sozialpsychologischen Schablonen deformiert. Deshalb war, begleitet von „spontaner Entideologisierung“ und einem „emotionalen Niedergang“ des Parteilebens an der Basis, die soziale und politische Kontrolle nicht mehr wie in den 1930er-Jahren total gewesen, sondern nur noch die Furcht vor ihr (S. 149). Die „Paradoxie des Spätstalinismus“, den Alltagskonflikt zwischen persönlicher Autonomie und der politischen Realität, hätten die „Russen“ überwunden, indem sie sich maskierten und die Disziplinierungsrituale mit minimalem Aufwand bedienten. Die „Deutschen“ wiederum hätten sehr früh den „russischen Papierkrieg“, wie sie intern die sowjetische Verwaltungspraxis nannten, durchschaut und den Umgang mit ihr erlernt, indem sie etwa Befehle der Besatzungsmacht ignorierten.
Die Autoren resümieren: Den Spätstalinismus kennzeichnete nicht die totale Durchherrschung der Gesellschaft, sondern deren Inkonsequenz – das sei positiv für das Regime gewesen, negativ für die Gesellschaft. Die „lauen“ Kommunisten hätten mit zur Schau getragenem Optimismus ohne Bezug zur Wirklichkeit bürokratische Routinen vollstreckt (S. 120–121). Dieser Befund ist im Kontext dahingehend zu interpretieren, dass sich die Menschen durch geheuchelte Systemloyalität zu schützen wussten, was das Regime auf Kosten der atomisierten Gesellschaft festigte. Hinzuweisen bleibt hier ergänzend auf die implizite russische Distanz zum Totalitarismus-Paradigma; der Vergleich der UdSSR mit dem nationalsozialistischen Deutschland ist kürzlich in Russland für strafbar erklärt worden. In der Darstellung überrascht nicht so sehr die Intensität der sozialen und politischen Überwachung durch die staatlichen und parteilichen Instanzen in der SMAD als Abbild der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft, sondern vielmehr die als heuchlerisch charakterisierte freiwillige Unterwerfung unter sie. Nicht immer wird das Typische (oder Atypische) der Deutschland-Erfahrung deutlich.
Mit dem Konzept hadert man an mancher Stelle, es lässt viele Fragen unbeantwortet. Bei den Quelleninhalten blieb das Prinzip der kognitiven Dissonanz unbeachtet: Verschriftlicht wurden seinerzeit doch nur Fakten, die die Auffassung der Quellenbildner bestätigten, was laut SMAD-Befehlen schon bei der Aktenherstellung zu beachten war. 1946 beanstandete die SMAD-Zensur, dass Deutsche im schriftlichen Verkehr präventiv eine „Taktik“ der formellen Loyalität und „Demut“ beachten, also „Verbotenes“ nur mündlich äußerten. Dies entsprach der konstatierten zweckoptimierten Risikominimierung mittels Heuchelei.
Die pragmatische Phase bis 1947 ließe sich zwar mit dem Hinweis auf einen Kaderaustausch erklären – 1948 dominierte die SMAD in Moskau ausgewähltes Personal –, doch das widerspräche dem Erklärungsansatz. Nebenbei ignoriert die sehr kritische Behandlung der Personalpolitik die Tatsache, dass der Auslandsaufenthalt sowjetischer Dienstpersonen im Grundsatz auf drei Jahre begrenzt war, um einer Entfremdung vom Heimatland vorzubeugen.
Einige Fakten, etwa zur Versorgungssituation in Ostdeutschland, sind unkritisch aus den Quellen übernommen. So wurden zwar die hohen Berliner Lebensmittelnormen propagandistisch „ins Schaufenster gestellt“, streng geheim blieb aber für Jahrzehnte die Bestimmung, dass für drei Millionen Berliner – je nach Überlieferung – nur die Herausgabe von einer Million1 bzw. zwei Millionen2 Lebensmittelkarten vorgesehen war. Im Winter 1946–47 war die Sterblichkeitsrate in der Sowjetischen Besatzungszone dreimal höher als in der Vorkriegszeit. Im Text werden unkritisch weitere ältere Klischees bedient. Geografische Angaben sind nicht geprüft worden und fehlerhaft übertragene Namen kleiner Orte lassen die Örtlichkeiten nur mit großem Aufwand identifizieren.
Ein Gesamturteil fällt nicht leicht. Die verständlich geschriebene Erzählung legt einerseits bei kritischem Herangehen Details frei, die auf unentdeckte systemische Zusammenhänge hinweisen könnten, andererseits bleibt eine angekündigte Behördensoziologie, wie man sie hierzulande angehen würde, sehr blass und in der Struktur der Darbietung unverständlich. Die künstliche räumliche und zeitliche Einhegung des sowjetischen Spätstalinismus verdrängt das Opfer der Millionen zwangsrepatriierter sowjetischer Kriegsgefangener als potentielle Bewohner der „kleinen Sowjetunion“, die günstigenfalls für ein Jahrzehnt im Gulag-Zwangssystem verschwanden. Inwieweit die Autoren selbst das von ihnen beschriebene Prinzip der vorausschauenden Risikominimierung anwandten, lässt sich nicht beurteilen. Dieser Verdacht stellt sich beim Lesen oft ein und irritiert heftig. Faktisch setzten die in den letzten Jahren in Russland verabschiedeten Strafrechtsbestimmungen die Wissenschaftsautonomie außer Kraft. Der russische Geschichtsrevisionismus hat den Stalinismus, wie er außerhalb Russlands verstanden wird, längst rehabilitiert.
Anmerkungen:
1 Anordnung des Kriegsrats der 1. Belorussischen Front über die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung Berlins Nr. 063 vom 11. Mai 1945, URL: <http://www.rus-obr.ru/ruweb/6534> (07.06.2013, Seite nicht mehr aufrufbar), sowie URL: <http://www.gsvg88.narod.ru/gsvg/063_11_05.html> (09.04.2022).
2 Anordnung des Kriegsrats der 1. Belorussischen Front über die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung Berlins vom 11. Mai 1945, in: Elektronnaja biblioteka istoričeskich dokumentov, URL: <http://docs.historyrussia.org/ru/nodes/217510-postanovlenie-voennogo-soveta-1-go-belorusskogo-fronta-o-snabzhenii-prodovolstviem-goroda-berlina-11-maya-1945-g#mode/inspect/page/2/zoom/3> (09.04.2022). Vgl. jeweils Punkt 4. Laut Volkszählung von 1946 hatte Berlin 3,08 Millionen Einwohner.