E. Baragwanath: Motivation and Narrative

Cover
Titel
Motivation and Narrative in Herodotus.


Autor(en)
Baragwanath, Emily
Reihe
Oxford Classical Monographs
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 374 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die Emily Baragwanath 2005 in Oxford fertig gestellt hat. 2008 wurde das Buch mit dem Conington Preis des Board der Faculty of Classics ausgezeichnet, der jährlich für Dissertationen an der Universität Oxford vergeben wird. Das Ziel der Verfasserin ist es, die Erzählstrategien Herodots zu untersuchen, um so die Motivationen menschlicher und göttlicher Akteure in den Historien freizulegen. Sie will zeigen, welcher Mittel sich Herodot bedient, um seine Leser und deren Aktivität herauszufordern.

Diese Vorstellung vom vielstimmigen und dialogischen Charakter der Historien verdankt in methodischer Hinsicht sehr viel den Arbeiten von Wolfgang Iser, dem neben Hans Robert Jauß maßgeblichen Vertreter der Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik, die seit den 1970er-Jahren weiten Einfluss gewonnen hat.1 Der tätige Leser eines fiktionalen Textes reagiert dabei in einem dialogischen Akt auf ‚Leerstellen’ und ‚Unbestimmtheitsstellen’ im Text, stellt selbst Hypothesen über die Art der Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen und Weltsichten her, die der Autor durch Erzählstrategien ‚steuert’. So lassen sich etwa Handlungen, Normen und vor allem Motivationen im Gefüge der fiktiven Handlung auf verschiedene Figuren bzw. Perspektivträger verteilen. Durch den Wechsel der Perspektiven im Textverlauf soll über die so für den Leser ermöglichte 'gegenseitige Beobachtbarkeit' der Leser veranlasst werden, unter den möglichen Bedeutungen einzelner Erklärungen, Motivationen etc. unter Rückgriff auf das Bisherige selektiv auszuwählen.

Die Autorin fügt sogar noch eine weitere Ebene ein, indem sie die geharnischte Kritik des antiken Lesers Plutarch (De malignitate Herodoti) mit einbezieht. Insbesondere aus der Kommunikation zwischen Plutarch und Herodot gewinnt sie einige wesentliche Aspekte: der Täuschungsvorwurf, den Plutarch gegenüber Herodot (z. B. im Hinblick auf die Alkmeoniden) erhebt, lässt sich auch als Hinweis des Autors Herodot an seine Leser verstehen, Diskrepanzen zu erkennen und dazu Stellung zu nehmen. Genauso ist die Markierung eines Geschehens als bestaunenswert oder verwunderlich als Technik zu erkennen, bei dem Leser Unsicherheiten in Bezug auf die Motivationen der Akteure zu wecken, ebenso auch die immer wieder bei Herodot zu erkennende Gegenüberstellung völlig unvereinbarer Alternativen.

Dieser interessante Ansatz wird systematisch auf das gesamte Werk Herodots angewandt, indem die Verfasserin das Motivationsthema für die Samischen und Persischen Logoi (Buch III), die Athener Logoi (Buch I, V, VI), den ionischen Aufstand (Bücher V, VI), die Umstände des Medismos (Buch VII, IX), für die Figur des Xerxes (Buch VII-IX) und des Themistokles (Buch VII-IX) analysiert. Ein exakter und sehr detaillierter Quellenindex macht es möglich, die zahlreichen Einzelanalysen schnell zu erschließen und zu vergleichen.

Grundsätzlich geht die Verfasserin jedoch einem wesentlichen Problem aus dem Weg, nämlich der Frage nach dem Verhältnis des Fiktiven zum historischen Kontext. Das ist insofern schade, als sie mit ihren Analysen einen wesentlichen Beitrag zu der Erschließung des diskursiven Charakters des herodoteischen Werkes leistet. Wird diese Frage so völlig ausgeblendet, dann leistet man der Ansicht von der Repräsentationsschwäche fiktionaler Texte Vorschub, zu denen auch die historiografischen gehören. Insofern als Fiktionalisierung in geschichtlicher Erfahrung immer schon vorhanden ist, weil das historische Ereignis erst durch Wahrnehmung und Rekonstruktion, aber auch durch Darstellung und Deutung konstituiert wird, hätte die Frage der historischen Erfahrung nicht so komplett außen vor bleiben dürfen, denn: „Die Fiktion macht die Anschauungsformen der geschichtlichen Erfahrung selbst erfahrbar.“2

Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991. Von der Verfasserin werden die englischen Übersetzungen „The implied Reader“, München 1974, „The Act of Reading“, München 1978 verwendet. Weiterhin legt sie von Wolfgang Iser „Prospecting. From Reader Response to Literary Anthropology“, Baltimore 1989 zugrunde.
2 Karlheinz Stierle, Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie, in: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte. München 1986, 85-118, hier 98; vgl. dazu Ch. Schubert: Zum problematischen Verhältnis von res fictae und res factae im Nomadendiskurs, in: Alexander Weiß (Hrsg.), Der imaginierte Nomade. Formel und Realitätsbezug bei antiken, mittelalterlichen und arabischen Autoren, Wiesbaden 2007, 17ff.

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