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Titel
Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem russischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung. Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation


Autor(en)
Fein, Elke
Reihe
Spektrum Politikwissenschaft 38
Erschienen
Würzburg 2007: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
XX, 695 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Stykow, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, München

Verfassungsgerichte können politische Prozesse nachhaltig beeinflussen. Einen in dieser Hinsicht besonders folgenschweren Fall analysiert Elke Fein in ihrer Dissertationsschrift: Das Ende 1991 geschaffene Verfassungsgericht der jungen Russischen Republik verhandelte zwischen Mai und November 1992 die Frage, ob die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die Kommunistische Partei Russlands verfassungsmäßige Organisationen waren und ob Präsident Jelzin das Recht hatte, sie im Herbst 1991 zu verbieten. Es kam zu der Entscheidung, die KPdSU sei keine Partei gewesen, sondern ein „staatlicher Mechanismus“. Weil ihre Führungsorgane auch nach dem März 1990 (als Artikel 6 der sowjetischen Verfassung über ihre „führende Rolle“ gestrichen wurde) in diesem Sinne agierten, sei Jelzins Verbot der zentralen Parteiorgane rechtmäßig gewesen. Es erstrecke sich aber nicht auf die Basisorganisationen der Partei, die auch berechtigt seien, neue nationale Führungsstrukturen zu bilden. Für seine frühere KPdSU-Mitgliedschaft dürfe niemand diskriminiert werden. Die Frage nach einer generellen Verfassungswidrigkeit der KPdSU beantwortete das Verfassungsgericht nicht. Es begründete dies damit, dass die Führungsstrukturen der Partei nicht mehr existierten.

Im Mittelpunkt von Feins Studie stehen die rhetorisch-argumentativen Auseinandersetzungen im Umfeld und während des KPdSU-Prozesses. Die Autorin interpretiert das Gerichtsurteil, das meist als „ausgewogen“ oder gar „salomonisch“ bewertet wird, als „tendenziell pro-kommunistisch“ (S. 643). Es sei aufgrund einer diskursiven Dynamik zustande gekommen, die sich aus dem Zusammenspiel der kommunistischen diskursiven Strategie, der Schwäche der antikommunistischen Diskursstrategie und der Prozesspolitik des russischen Verfassungsgerichts ergeben habe. Seine Folge für die russische Gesellschaft bestehe in einem „langsamen Abschied von der Vergangenheit“: Das Urteil ermöglichte die „Integration bzw. Inkorporation sowjetischer Systemelemente“ (S. 646) und von Systemgegnern und habe Reformblockaden verursacht. Es entstand aber kein konstruktiver geschichtspolitischer Konsens, der das neue politische System vom Vorgängerregime abgrenzte. Das normativ-symbolische Verhältnis zwischen Demokratie und Kommunismus blieb ungeklärt. „Der Verzicht des obersten russischen Gerichts auf eine klare Stellungnahme zur Vergangenheit der KPdSU führte […] zu einer Delegitimierung und damit Schwächung des Projekts einer Demokratie, die sich zumindest teilweise über eine Abgrenzung von der nicht-demokratischen Vergangenheit definierte“. Das habe zur bis heute andauernden „impliziten Ablehnung demokratischer, vielfach als ‚westlich’ diffamierter, Universalität beanspruchender Werte und Deutungsangebote“ und zu „Kontinuitäten im Denken und Verhalten der maßgeblichen Akteure sowie dem daraus resultierenden Funktionieren der Institutionen“ geführt (S. 648).

Die Arbeit besteht aus vier großen Teilen. Zunächst wird die gesellschaftliche und politische Situation Russlands zu Beginn der 1990er-Jahre geschildert. Danach wird der KPdSU-Prozess als „politischer Machtkampf“ interpretiert, an dem sich der zunehmend hegemoniale kommunistische Diskurs, eine zurückhaltend operierende antikommunistische Diskurskoalition sowie das Verfassungsgericht als formal neutraler, faktisch jedoch zugunsten der Kommunisten auftretender „Mediator“ beteiligten. Im dritten Teil erscheint der Prozess als „geschichtspolitischer Deutungskampf“ um die gültige Interpretation der Rolle der Kommunistischen Partei in der Sowjetgeschichte. Der vierte Teil diskutiert die Auswirkungen des Urteils. Die Studie gewährt damit detaillierte Einblicke in eine dramatische Phase der jüngeren russischen Geschichte, die weit über ihren unmittelbaren Gegenstand hinausgeht. Neben der Analyse des KPdSU-Prozesses finden sich höchst informative Darstellungen wichtiger Entwicklungen der frühen 1990er-Jahre, der Entstehungsbedingungen des Verfassungsgerichts, seiner Ausstattung und des Selbstverständnisses seiner Richter. Dafür wird eine außerordentlich breite Materialgrundlage genutzt, die vom publizierten Prozessprotokoll und den im Archiv zugänglichen Prozessakten über die Berichterstattung in der russischen Presse bis zu Interviews mit Verfassungsrichtern, Prozessteilnehmern und Beobachtern reicht.

In ihrem umfassenden Darstellungsanspruch liegen sowohl Stärke als auch Schwächen der Studie begründet. Feins sehr sorgfältige und gründliche Einbettung des KPdSU-Prozesses in eine Situation, deren Komplexität heute bereits wieder in Vergessenheit geraten ist, überzeugt. Plastisch tritt hervor, wie sich ein „politisches Spiel“ entwickelt, in dem die beteiligten Akteure unter den Bedingungen widersprüchlicher institutioneller Spielregeln versuchen, ihre Ziele mit rechtlichen und moralischen Argumenten durchzusetzen. Leider gerät das Buch aber viel zu dick. Gut lesbar, wenn auch manchmal etwas umständlich geschrieben, wird die Konzentration des Lesers überfordert, da jedes Detail ebenso ausführlich empirisch entwickelt wie in wechselnde diskurs- und transaktionsanalytische Konzepte gegossen wird. Die Struktur des Textes ist durchdacht, erschließt sich von außen aber mitunter schwer.

Aufgrund des Vorgehens erscheinen sowohl die Erklärung des Zustandekommens des KPdSU-Urteils wie auch die Interpretation seiner Folgen als überladen. So überzeugt die zentrale These der Studie nicht. Sicherlich ist es zutreffend, dass die Richter ihr Urteil nicht im luftleeren Raum fällten und „die gesellschaftliche und politische Situation sowie der kommunistische und oppositionelle Diskurs im und außerhalb des Prozesses einen recht großen Einfluß auf sie“ hatten (S. 554). Aber dies zu konstatieren, erklärt weder das konkrete Urteil noch das Abstimmungsergebnis des Gerichts: Es wurde letztlich nicht durch rhetorische Strategien der Kommunisten verursacht, sondern durch individuelle Entscheidungen der Richter, von denen neun das Urteil befürworteten und drei ein Sondervotum abgaben. Zwar lässt sich diskursanalytisch der Inhalt öffentlicher Auseinandersetzungen über die Geschichte rekonstruieren – was Fein akribisch tut –, die Richterentscheidung lässt sich damit aber nicht erklären, hier ist ein missing link zur Erklärung individueller Handlungen zu konstatieren.

Im Zusammenhang damit scheint das KPdSU-Urteil insgesamt als „Weichenstellung und Richtungsentscheidung“ (S. 649) überbewertet. Ist es nicht weniger die Ursache als ein (freilich kontingenter) Ausdruck dessen, dass die russische Gesellschaft in den frühen 1990er-Jahren nicht zu einer allseits akzeptierten Deutung der kommunistischen Vergangenheit gefunden hat (sondern erst in den letzten Jahren – mit einer bezeichnenderweise bruchlosen imperialen Geschichtsinterpretation)? Unmittelbare Folgen des Urteils sind hingegen die Gründung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (1993) und wahrscheinlich auch die Parteiengesetzgebung der 1990er-Jahre: Weil die „unversöhnliche Systemopposition“ auf dem Weg des Verbots nicht zu beseitigen war, gestalteten die „Demokraten“ die Spielregeln so, dass möglichst viele politische Akteure am Wettbewerb teilnehmen konnten. Dies schwächte das Parteiensystem insgesamt und damit auch ihre stärkste Organisation, die Kommunisten. Leider spielt dies in der Untersuchung keine Rolle.

Gleichzeitig bleiben einige bedeutsame und über das unmittelbare Ereignis hinausweisende Aspekte wenig beachtet. Dies betrifft insbesondere die „Umwidmung“ des Prozesses noch vor seinem Beginn: Der Präsident hatte das Verbot mit der Beteiligung der KPdSU am Augustputsch 1991 und mit Verstößen gegen nicht näher bezeichnete Menschenrechte begründet. Die Rechtmäßigkeit seines Vorgehens sollte auf Antrag einer Gruppe kommunistischer Parlamentarier der verfassungsrichterlichen Prüfung unterzogen werden. Ein sozialdemokratischer Gegenantrag ergänzte die Agenda des Verfassungsgerichts, indem er die KPdSU – anders als Jelzin, der sie als illegitime staatliche Institution behandelte – als politische Partei konzipierte, die nicht erst seit März 1990 verfassungswidrig agierte, sondern bereits davor, weil sie sich „im Verlauf einer langen Zeit […] die staatlichen Zwangsfunktionen angeeignet“ habe (zit. auf S. 147). Fein rekonstruiert dies detailliert, aber aufgrund ihrer Vorgehensweise auch derart dezentralisiert und mit vielerlei interessanten Ablenkungen versehen (etwa, dass es sich bei dieser Interpretation um einen strategischen Schachzug handelte), dass es schwierig ist, die grundsätzliche Bedeutung dieser Umwidmung stets im Blick zu behalten: Der KPdSU-Prozess ist oft mit den „Nürnberger Prozessen“ verglichen worden, aber der sozialdemokratische Antrag zielte letztlich auf ein Pendant zum alliierten Kontrollgesetz Nr. 2 (Oktober 1945), mit dem die NSDAP zu einer „Verbrecherorganisation“ erklärt worden war. Eine solche klare Regelung – und die auf dieser Grundlage denkbaren Folgen – wurden vermieden, indem das Verfassungsgericht den betreffenden Teil des Antrags nicht beschied.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus vollzog sich nicht aufgrund einer ausländischen Besetzung. Seine juristische Aufarbeitung lag ausschließlich in den Händen von Akteuren, die im Staatssozialismus gelebt hatten und biographisch durch ihn geprägt waren. Was war unter diesen Bedingungen Anderes oder gar Besseres zu erwarten als eine relativ langwierige, kontrovers und öffentlich geführte Debatte anlässlich eines Gerichtsprozesses? Hätte ein Verbot der KPdSU eine tragfähige und akzeptierte Lösung dargestellt? Und ist es dem Verfassungsgericht vorzuwerfen, dass es eine Entscheidung traf, die „eben keine klare Richtung favorisierte“ – sondern „eine Kompromißlösung zwischen gegensätzlichen Zielen und Interessen“ als „Bestandteil einer ungeschriebenen russischen Staatsraison“ (S. 650)? Solche Fragen schließen an die seit Jahren lebhaft geführte Diskussion zum Thema „Übergangsjustiz in postautoritären Demokratien“ an. Diese erweist sich als zunehmend sensibel für nicht aufzulösende Widersprüche der „Vergangenheitsbewältigung“, wie sie etwa zwischen den Forderungen nach „Abrechnung“ und „Versöhnung“, nach „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“ sowie nach „Bestrafung“ und „Integration“ der Täter bestehen. Das KPdSU-Urteil kann unter diesem Blickwinkel in erster Linie als Versuch der Deeskalation einer politisch höchst aufgeladenen Situation gesehen werden, die im Herbst 1993 dann doch durch einseitige Gewaltanwendung des russischen Präsidenten gegenüber der Opposition aufgelöst wurde. Welches dieser beiden Ereignisse der jungen russischen Demokratie größeren Schaden zufügte, muss offen bleiben. Andererseits sind durchaus erfolgreiche Demokratisierungsfälle in Ländern bekannt, wo sich das Nachfolgeregime nicht von seinem Vorgänger legitimatorisch absetzte. Es wäre interessant gewesen, hätte Feins Studie ihre Befunde auch in diese Debatte eingeordnet, damit deren Bedeutung über den konkreten Fall hinaus deutlich geworden wäre.

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