Die Zeitschriftenforschung wurde noch 2010 als „Trümmerfeld“ bezeichnet.1 Die damaligen Perspektiven ließen sich schwer zu einem theoretischen oder methodologischen Grundgerüst zusammenfügen: In der einschlägigen Forschungsliteratur wurden zwar neue Erkenntnisse gewonnen, jene historisch-deskriptiv angelegten Arbeiten erfüllten jedoch nicht die Erfordernisse der aktuellen Kultur- und Medienwissenschaft. Dieser methodologische Nachholbedarf war auch der Tatsache geschuldet, dass der Umgang mit dem Medium Zeitschrift an die Grenzen der verschiedenen disziplinären Aufmerksamkeitspolitiken stieß. Als Nicht-Buch blieb die Zeitschrift wenig gewichtig für die historisch ausgerichtete Buchwissenschaft, die Literaturwissenschaft zeigte wiederum kaum Interesse an Massenmedien, die vermeintlich keine genuinen Orte autonomer Kunst waren. Zahlreiche kulturgeschichtliche Einzelstudien zogen Zeitschriften als Textkorpora heran und rekonstruierten die Entwicklung der jeweiligen intellektuellen Gruppen; die intermediäre Rolle von Literatur- und Kulturzeitschriften in historischen Wissensgefügen wurde weitgehend außer Acht gelassen.
In den letzten Jahren kam es zu einer bemerkenswerten Institutionalisierung der Zeitschriftenforschung. 2009 formierte sich die European Society for Periodical Research, eine interdisziplinäre Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus Europa und den USA. Zu einem wichtigen Austauschforum wurde das Journal of European Periodical Studies – eine Zeitschrift, die sich zum Ziel setzt, die Zeitschriftenforschung historiografisch und methodologisch im transnationalen Kontext neu zu denken.2 Im Jahr 2017 startete an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz das Projekt „Transnational Periodical Cultures“ und im interdisziplinär angelegten Berliner Arbeitskreis Kulturwissenschaftlicher Zeitschriftenforschung im Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung werden diverse Perspektiven auf den „selbstverständlich-unselbstverständlichen“ Gegenstand Zeitschrift diskutiert, wobei bewusst auf die Homogenisierung verschiedener theoretischer Zugänge aus Literatur-, Kultur-, Kunst-, Geschichts- und Medienwissenschaft, Soziologie oder Politologie verzichtet wird.3
Mit ihren Büchern liefern David Bebnowski und Moritz Neuffer wichtige Beiträge zur internationalen Zeitschriftenforschung und zeigen, welchen Anteil die von ihnen untersuchten Medien am intellektuellen Austausch in der Bundesrepublik und in Europa hatten. Das Narrativ beider Monographien setzt Mitte der 1950er-Jahre ein: Die Autoren blicken zurück auf die massiven Verwerfungen innerhalb der kommunistischen und sozialistischen Bewegungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, auf die Neuorientierungsversuche ideologisch entwurzelter Intellektueller und auf die sich bereits seit 1956 konstituierende Neue Linke; sie analysieren die Entstehung eines transnationalen Protestzusammenhangs vor 1968 und die Entwicklung der nichtdogmatischen marxistischen Theorie. Beide Bücher eint der intellektuelle Biotop West-Berlins, in dem 1958 die alternative zunächst unter Ansgar Skriver als kleines Literaturmagazin begann und dann mit Hildegard Brenner zu einer Theoriezeitschrift und einem theoriehistorischen Projekt wurde, wo die an der Freien Universität gegründeten Argument und PROKLA zu den auflagenstärksten Periodika auf dem „Markt für Marx“ gehörten.
Die vorhandenen Vor- und Nachlässe boten Bebnowski und Neuffer die Möglichkeit, die redaktionelle Praxis der analysierten Periodika auf der Grundlage einer breiten Quellenbasis zu rekonstruieren: Typoskripte, Übersetzungen, Korrespondenzen, Redaktionsprotokolle und Verlagsunterlagen geben wertvolle und spannende Einblicke in Debatten um einzelne Hefte und Themen, in Transfers von intellektuellen Konzepten sowie in materielle Umstände, unter denen sich die Arbeit der Herausgeber sowie ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vollzog. Mit der überragenden Fülle in der Quellenlage gehen die Autoren, deren Büchern die gleichnamigen Dissertationen zugrunde liegen, aber recht unterschiedlich um.
David Bebnowski liest die Inhalte der akademisch-marxistischen Periodika, um Auskünfte über die politische Verfasstheit der Neuen Linken einzuholen. Die spezifische Leistung, welche von den Kulturzeitschriften reklamiert wird, liegt für Bebnowski in ihrem indizierenden Wert für den jeweiligen Stand einer ideengeschichtlichen Entwicklung. Wie einst Hans Paeschke, für den Zeitschriften „seismographische Apparaturen des kulturellen Lebens“ waren4, registriert Bebnowski mit seinen Untersuchungsobjekten das „Verhältnis von Theorieformung und Veränderungsprozessen des politischen Feldes“ und erhält „Einsichten in Teilbereiche der Politik- und Zeitgeschichte Westdeutschlands und West-Berlins“ (S. 444). Das Hauptanliegen des Autors ist es, die „Formation der Gedanken, ihre Verbindung zur Trägergruppe der Neuen Linken und ihre Relevanz im Augenblick der Formulierung zu erfassen“ (S. 23). Diese Spurensuche nach Lektüren und Debatten wird über weite Teile des Buches spannend dargestellt. Der Leser erfährt, wie die weitestgehend konservativen Hochschulen sich im Verlauf der 1960er-Jahre zu Produktionsstätten marxistischer Theorie entwickelten, auf welche Muster die Akteure der Neuen Linken setzten und warum gerade die Freie Universität Berlin besondere Voraussetzungen für einen intergenerationellen Austausch bot und sich in der Zeit der Blockkonfrontation des Kalten Krieges sich zu einem Zentrum des linken Denkens entfalten konnte.
Dass die Geschichte der Zeitschriften Das Argument und PROKLA durch Bebnowski in die breit erzählte Sozialgeschichte der deutschen Teilung, der Teilung Berlins und der Formierung der akademischen Landschaft der frühen Bundesrepublik so detailliert eingefügt worden ist, mag gute Gründe gehabt haben. An zahlreichen Stellen stellt sich dennoch die berechtigte Frage, ob die vielen Kapitel zur politischen Entwicklung beider deutschen Staaten, zur Funktion deutscher linker Exilanten im kulturpolitischen Netzwerk der US-Behörden, zum transnationalen Rahmen der Neuen Linken oder zu akademischen Aufstiegsmöglichkeiten und Universitätssatzungen tatsächlich notwendig sind. Im abgeschlossenen Dissertationsprojekt waren solche Ausführungen über sozialgeschichtliche und institutionelle Kontexte sicherlich erwünscht und zweifelsohne positiv begutachtet worden, im Buch drohen sie aber in ihrer Menge mitunter auszuufern. Ähnliches betrifft die gegenseitige Positionierung der untersuchten Zeitschriften. Bebnowski beschreibt sehr präzise die „tektonischen Verschiebungen“ innerhalb der Neuen Linken anhand biografischer und sozialgeschichtlicher Einzelheiten, deren barocke Fülle die Lektüre bisweilen erschwert. Schreibt der Autor in den letzten Partien seines Buches über die „Verinselung“ dieses intellektuellen Milieus, die Neukonstituierung der DKP sowie die antirevisionistische Einstellung der PROKLA, dann wird die Anhäufung der Namen, Organisationen, Basisgruppen und internen Spaltungen immer weniger überschaubar.
Anders verfährt Moritz Neuffer. Er setzt seine Erzählung dort an, wo vor Jahren geplante Forschungsvorhaben auf der Strecke geblieben sind. Er verweist unter anderem auf ein Thesenpapier von Klaus Schlösser, in dem der damalige Student der Literatur- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Bremen und spätere Mitbegründer der Bremer taz im letzten Erscheinungsjahr der alternative forderte, die Krise der Zeitschrift dürfe nicht einfach nur ihr Ende bedeuten, sondern müsse zu ihrem Gegenstand werden (S. 11). Zeitgleich erinnert Neuffer an ein 1974 verfasstes Dissertationsprojekt, mit dem Peter Gente „theoretische Diskussion in den Zeitschriften des SDS“ behandeln wollte. Damals riet ihm Jacob Taubes in einem Gutachten an, die Theoriegeschichte als Mediengeschichte aufzufassen: Zeitschriften sollten nicht ausschließlich als Spiegel, Abbilder oder Archive einer bestimmten Zeit gelesen werden; es gelte zu beachten, „auf welche Weise sie ihre Inhalte hervor- und zur Darstellung bringen“ (S. 16).
Aus diesen konzeptionellen Vorarbeiten hat Neuffer wichtige Impulse für seine eigene Arbeit gewonnen. Obwohl er die Relevanz der Zeitschrift alternative für Epochendiskurse der langen 1960er-Jahre untersucht, interessiert er sich vorrangig dafür, wie die publizierten Texte in das jeweilige Nebeneinander von verlegerischer, redaktioneller und ökonomischer Ordnung eingelassen sind und welche Konsequenz dies für den Status und die genuin theoretischen wie literarischen Verfahrensweisen der einzelnen Texte selbst hat. Es geht ihm weniger darum, „welchen inhaltlichen Problemstellungen und Lösungsvorschlägen die fünfundzwanzig Jahrgänge der alternative Raum gaben, sondern [...] wie sie dies qua ihrer journalistischen Form taten“ (S. 361). Neuffers Buch entspricht somit mehr den Anforderungen der modernen Zeitschriftenforschung als die rein ideengeschichtlich profilierte Abhandlung Bebnowskis: Während für den Letzteren die Zeitschriften hauptsächlich Aufschluss über das umgebende politische Feld geben, beschreibt Neuffer ihre mediale Eigenlogik und analysiert solche Textsorten wie Rezension oder Interviews als eigenständige Organisationsformen des Wissens.
Die Geschichte der alternative wird interessanterweise von ihrem Ende aufgerollt, eine seltene Herangehensweise, die Neuffer in einem Buch des französischen Kultursoziologen René Lourau gesehen habe: „Im Vergleich zu kraftvollen, geschichtsträchtigen Anfängen bleiben die Enden [...] oft unterbelichtet. Sie zerstreuen sich, werden zerschlagen, verlieren ihr Gewicht, werden institutionalisiert und musealisiert. Das ist nicht zuletzt der Quellenlage geschuldet: Gründungstexte artikulieren Ansprüche und entwerfen Erwartungshorizonte, während Auflösungen häufiger undokumentiert vonstattengehen.“ (S. 329) Erst dann widmet sich Neuffer den „Anfangstheorien“ (Edward Said), ihren „vielschichtigen temporalen Logiken“ und „Möglichkeiten der Revision“ (S. 72). Er zeigt, dass in der Entstehungsgeschichte der Neuen Linken die Zeitschriften keinesfalls neutrale Träger von Ideen waren und dass gerade ihre mediale Form der Bewegung Zusammenhang verliehen hatte. Einerseits schreibt Neuffer die Chronik der alternative in chronologischer Reihenfolge, indem er zum Beispiel im ersten Kapitel den Duktus der alten Redaktion unter Skriver wiedergibt und im zweiten Kapitel den zweiten Anfang unter Brenner skizziert. Andererseits zieht sich durch den gesamten Text fast unsichtbar, dennoch sehr gut spürbar der rote methodologische Faden, womit das Buch nicht nur in historiographischer Hinsicht interessant ist. Die Theorie wird durch Neuffer selten explizit präsentiert, sie dient aber als Hilfsmittel gegen die Informationsbelastung, unter der Bebnowskis Buch leidet. Die Methodologie der Zeitschriftenforschung organisiert die notwendige Selektivität, ermöglicht aber auch bestimmte Dinge auf andere Weise zu sehen: innovativer, interessanter, anregender.
So wird beispielsweise im dritten Kapitel dargestellt, wie die Zeitschriften ihre Produktivität im Prozess des strukturalistischen Theorieimports entwickelten: „Wenn Zeitschriften theoretische Modelle präsentieren und rezipieren, so die These, führt dies wieder zu neuen Produktionsleistungen, die die dargestellten Modelle mit jedem Rezeptionsvorgang als solche konsolidieren, sie aber gleichzeitig verändern. Nachvollziehen lässt sich dies vor allem anhand solcher Fälle, in denen Antagonismen konfligierender theoretischer Modelle durch Zeitschriften sichtbar und produktiv gemacht wurden.“ (S. 156) Neuffer demonstriert schrittweise die multiplen Vorgänge der Theorieübertragung, etwa die bundesdeutsche Anpassung des Strukturalismus an den akademischen Marxismus. Er zeigt, dass der Transfer aus einer Ausgangskultur in eine neue Zielkultur das Transferierte erheblich verändert, indem es den Bedürfnissen und Interessen der aufnehmenden Kultur anverwandelt wird. Diesen Aspekt der Anverwandlung hat bereits Michel Espagne sehr früh in seinen Gründungstexten zur Theorie des Kulturtransfers exponiert: Hegel in Frankreich war eben nicht Hegel in Deutschland; die aufnehmende Kultur akkulturierte ihn gemäß ihrer eigenkulturellen Interessenlage.5 So zeigt auch Neuffer die Sinnproduktion von Zeitschriften, die von der Redaktion und anderen Mittlerinstanzen vorgenommenen „Über- und Umschreibungen theoretischen Wissens durch Übersetzung“ (S. 170).
Auch die einst von Ulrich Raulff erzeugte Metapher der „Distanzgesten“, mit denen Zeitschriften ihre Netzwerke formieren, setzt Neuffer an mehreren Stellen fruchtbar ein: Die Geschichte der alternative beginnt in seinem Buch mit ausführlich dargestellten Distanzgesten gegen die Theorie und in den 1970er-Jahren grenzt sich die Zeitschrift mit dem kritisch eingeführten Feminismus gegen multiple journalistische Umwelten ab. Während zahlreiche Mitstreiter im verlegerischen Feld den Erfahrungs- und Subjektivitätsdiskurs literarisch und theoretisch explorieren, spricht die alternative ihr Missfallen gegenüber der importierten écriture féminine aus und attestiert den Konzepten des weiblichen Schreibens die „Gefahr einer anthropologischen Lesart des Spezifischen der Frau“ (S. 293). Gerade in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, so Neuffer in den Schlussbemerkungen, liege aber Potenzial für eine weitere Beschäftigung mit der alternative: Es sei die einzige „hauptverantwortlich und maßgeblich von Frauen produzierte intellektuelle Zeitschrift der Bundesrepublik“ und stelle somit einen „Kontrapunkt zu den männlich dominierten Repräsentationen der politisch-intellektuellen Kultur von 1968“ dar (S. 363).
Neuffers Geschichte der alternative und Bebnowskis Kämpfe mit Marx sind als künftige Standardwerke über Aufkommen und Dämmerung des akademischen Marxismus sowie als Pflichtlektüre im Bereich der (deutschsprachigen) Zeitschriftenforschung einzustufen. Während Bebnowski sich aber selbstbewusst einer positivistischen Rekonstruktion der Ideengeschichte verpflichtet fühlt, erkennt man bei Neuffer sein Verständnis der Theorie nicht nur an einer systematischen Darlegung oder an bestimmten terminologischen Registern, sondern auch daran, dass sich nicht wenige Fragmente seines Buches für andere Nutzerinnen und Nutzer als übertragbar und paradigmatisch erweisen. Auch wenn seine Monographie vorrangig als relativ materialnahe und historisch interessierte Studie gemeint war, kann sie als Theoriebeitrag aufgefasst werden.
Anmerkungen:
1 Peter Lutz, „Trümmerfeld“ Zeitschriftenforschung, Magisterarbeit Universität Wien 2010, https://doi.org/10.25365/thesis.11725 (01.01.2023).
2 Marianne Van Remoortel u.a., Joining Forces: European Periodical Studies as a New Research Field, in: Journal of European Periodical Studies 1 (2016), S. 1–4.
3 Moritz Neuffer, Editorial, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 45 (2020), Heft 1, S. 103–111, hier S. 105.
4 Hans Paeschke, Der Geist des Auslands im Spiegel seiner Zeitschriften, in: Merkur 5 (1951), S. 574–587, hier S. 574.
5 Dirk Kemper, Kulturtransfer und Verlagsarbeit – Suhrkamp und Osteuropa, in: Dirk Kemper / Natalia Bakshi / Paweł Zajas (Hrsg.), Kulturtransfer und Verlagsarbeit. Suhrkamp und Osteuropa, Paderborn 2019, S. 5–21, hier S. 15.