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Titel
Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Lebenswege und Entscheidungen


Autor(en)
Koch, Magnus
Reihe
Krieg in der Geschichte, Bd. 42
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Thomas Kühne, Strassler Center for Holocaust and Genocide Studies, Clark University

Die Deserteure der Wehrmacht – die genaue Zahl ist unbekannt, 15.000 verurteilte die NS-Militärjustiz zum Tode – waren nach 1945 Gegenstand außerordentlich wechselhafter öffentlicher und wissenschaftlicher Diskussion. Bis Ende der 1970er-Jahre im Zeichen der Wiederbewaffnung Deutschlands und des weithin ungetrübten Bildes von der Wehrmacht tabuisiert oder stigmatisiert, verschaffte ihnen das friedensbewegte Klima der 1980er-Jahre und der Anstieg der Kriegsdienstverweigererzahlen ungeahnte Popularität; oft wurden sie als die eigentlichen (Anti-) Helden der Wehrmacht und die wahren Widerstandskämpfer gegen den NS-Terror gefeiert. Erst in den 1990er-Jahren hat sich allmählich eine andere Sichtweise durchgesetzt, derzufolge die meisten Deserteure nicht so sehr aus prinzipiellem Widerstand gegen das NS-Regime oder gar gegen seine Vernichtungspolitik gehandelt hätten, sondern aus dem Verlangen nach Zivilität und Individualität, das heißt aus Überdruss am militärischen Schikanierungs- und Unterdrückungsapparat – auch wenn dabei berücksichtigt blieb, dass in einer auf totale Beherrschung und Kontrolle seiner Bürger ausgerichteten Diktatur schon dieses Beharren auf einem ‚eigenen Leben’ Protest darstellt. In dieser in den letzten Jahren abgeflauten Diskussion um Motive, Lebenswege und Entscheidungsprozesse der Wehrmachtdeserteure schafft es Magnus Koch mit seiner an der Universität Erfurt bei Alf Lüdtke entstandenen Dissertation in zweierlei Hinsicht einen Meilenstein zu setzen.

Erstens methodisch. Die Forschung zu den Wehrmachtdeserteuren ist mit dem Problem konfrontiert, dass sie in der Regel aus zwei stark tendenziösen Quellengruppen schöpfen muss, von denen im konkreten biographischen Einzelfall oft nur eine bereitsteht. Zum einen die Ermittlungsakten der Wehrmachtjustiz, die von den Vernehmungen bis hin zum Urteil von der stigmatisierenden Sicht auf den Deserteur als Feigling, Drückeberger und – im Nationalsozialismus – Gemeinschaftsschädling geprägt sind und die dessen Motive auch deswegen im privaten Bereich verorten, weil der Beschuldigte schlecht beraten gewesen wäre, prinzipielle Ablehnung des NS-Regimes zu Protokoll zu geben, da ihm dies unweigerlich die Todesstrafe eingebracht hätte. Zum anderen Selbstdarstellungen der Deserteure, hauptsächlich aus der Erinnerungsperspektive der Nachkriegszeit geschrieben oder auf Tonband gesprochen. Diese Quellen sind tendenziös in umgekehrter Richtung, da die ehemaligen Deserteure nach dem Krieg um soziale und politische Anerkennung (und oft materielle Entschädigung) suchten und geneigt waren, sich gerade als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime auszugeben. Koch löst dieses Problem auf die denkbar eleganteste Weise, indem er beide Perspektiven zusammenbringt. Seine Studie basiert auf der Sichtung von 193 Flüchtlingsakten aus dem Berner Bundesarchiv, die die oft relativ detaillierten Vernehmungen von deutschen Deserteuren durch die Schweizer Behörden dokumentieren. Daraus hat Koch sechs Fälle ausgewählt, für die er beträchtliches weiteres Material, insbesondere die Fahndungs- und Personalakten der Wehrmacht sowie teilweise umfangreiche autobiographische Zeugnisse der Soldaten ermitteln konnte. Durch die sorgfältige, dem Leser im Detail mitgeteilte Analyse dieser verschiedenen Quellen ist er in der Lage, die verschiedenen zeitlichen Schichten der Selbststilisierung – der Art und Weise, wie die Deserteure ihr Handeln mit ‚Sinn’ ausstatteten – herauszuarbeiten und so am Ende nuancierte Einblicke in den militärischen Erfahrungshorizont, ideologische Koordinaten und private Sehnsüchte der Soldaten zu geben.

Das führt zweitens zum inhaltlichen Ertrag der Arbeit. Die sechs Fälle – durchweg handelt es sich um Deserteure der Jahre 1941 und 1942 - werden als biographische Fallstudien in je eigenen, 25 bis 65 Seiten umfassenden Kapiteln präsentiert, deren Redundanz leider an der Grenze des Erträglichen liegt und die zudem noch durch eine ebenfalls zu lang geratene Einleitung und eine wenig konzise Zusammenfassung ergänzt werden. Dass der Text ohne jedweden Substanzverlust um die Hälfte hätte gekürzt werden können, macht allerdings auch die einzige Schwäche des Buches aus. In den sechs Fallstudien fragt Koch nach biographischen Vorprägungen, nach dem Verhältnis zum Militärdienst, zu Vorgesetzten und Kameraden sowie zum Nationalsozialismus, dann auch nach ihren Männlichkeitsvorstellungen, nicht zuletzt zum Wissen um Wehrmachtverbrechen und Holocaust. Dabei zeigen sich Unterschiede zwischen den Deserteurspersönlichkeiten, aber auch Gemeinsamkeiten. Den weltgewandten Katholiken Hermann Rombach – die Namen sind teilweise Pseudonyme – trieben schikanöse und arrogante Vorgesetzte, die Verrohung der Truppe im Osten und vor allem Kriegsmüdigkeit in die Desertion, weniger die unmittelbaren Kameraden, denen gegenüber er wohl, wie seine Selbstzeugnisse ausdrücken, zeitlebens ein schlechtes Gewissen behielt. Helmut Gravenstein verkörpert, seiner eigenen Selbstdarstellung zufolge, den Typus des Außenseiters im Militär, der nicht nur geborene Zielscheibe des Terrors der Unteroffiziere ist, sondern auch das soziale Leben der Zwangsgemeinschaft perhorresziert, keinen Anschluss an die Kameraden findet und infolge „Nervenschwäche“ (S. 140) desertiert. Gerhard Schulz repräsentiert eine völlig andere Figur – den sportlichen, draufgängerischen, furchtlosen Soldaten und „unbequemen Streiter gegen die militärischen Vorgesetzten“ (S. 180), der aus Empörung gegen diese desertiert. Ludwig Metz, seltener Fall eines desertierenden Offiziers, entfremdet sich von der Wehrmacht, weil er deren Bruch mit dem christlich-konservativen, in seiner Sicht „preussischen“ Soldatenethos nicht mittragen will; er hatte hinlängliche Kenntnisse von den Massenerschießungen und weiteren Verbrechen im Osten und auch von der Beteiligung der Wehrmacht daran. Werner Heineck desertiert als NS-feindlicher “politischer Akteur” (S. 279). Anton Brandhuber war einziger Sohn eines Bauern in Niederösterreich und wollte als Soldat ausschließlich eines, nämlich zurück, um seinen Hof zu bewirtschaften, der seine Lebensidentität darstellte.

Dies ist das vielleicht wichtigste Ergebnis von Kochs Fallstudien: den einen Deserteurstyp gab es nicht. Dennoch scheinen in allen Biographien bestimmte Orientierungs- und Erfahrungsmuster auf, wenn auch unterschiedlich stark. Empörung über allgegenwärtige schikanöse Vorgesetzte ist ein solches. Ein anderes ist das traditionelle Männlichkeitsbild, das Stärke, Tapferkeit, Opfergeist und Leidensfähigkeit fordert und Schwäche und Egoismus ablehnt. Diesem Männlichkeitsbild hingen die sechs Deserteure zwar in stark unterschiedlichen Maßen an, aber frei davon war keiner. In ihren Rechtfertigungen und Erinnerungen versuchten sie, wenigstens ein Stück davon für sich in Anspruch zu nehmen, und sei es, indem sie ihre Leiden am Krieg und am Militär (und damit ihre Leidensfähigkeit) betonten oder aber indem sie ihre Tat als Ausweis von Eigenständigkeit und Souveränität darstellten. Schließlich zeichnen sich die sechs Soldaten durch zwar unterschiedlich intensive, aber doch durchgängige Abwehrhaltungen gegenüber den Kriegs- und Menschheitsverbrechen der Deutschen im Osten aus; Kenntnis davon hatten alle sechs, und sei es durch Gerüchte. Das ist es, was sie mit den Millionen anderer deutscher Soldaten vereinte. Ihre ablehnende Haltung dagegen, auch das geht aus ihren Selbstzeugnissen und Vernehmungen hervor, machte sie zur Ausnahme – wie wir auch aus mittlerweile unzähligen anderen Zeugnissen wissen, die den antisemitischen Konsens und das gemeinsame Wissen der Soldaten um den Holocaust belegen. Insofern bietet dieses gründliche Buch doch eine Grundlage für eine wenn auch dezente Heroisierung der Wehrmachtdeserteure. In einem sozialen und politischen Organisationsgefüge, das wie wenig andere denkbare durch Konformität, Anpassung und Mitmachen auf der Ebene des Handelns, Denkens und Fühlens geprägt war, beharrten sie auf individueller Verantwortung und scherten aus.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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