Um Verwirrungen zu vermeiden: Dies ist keine Studie zur Frage, wie sich Russland zur Rohstoffmacht entwickelte, sondern eine Geschichte der Sowjetunion, die als Wirtschafts- und Energiegeschichte erzählt wird. Das erstaunt zunächst, weil in der Einleitung Fragen und Vorhaben formuliert werden, die auf eine akteursbezogene dichte Quellenarbeit schließen lassen: Hier stellt Jeronim Perović die These auf, dass die Nutzung von energetischen Potentialen davon abhänge, „wie Menschen diese Möglichkeiten in bestimmten kulturellen und historischen Kontexten wahrnehmen und deuten“ (S. 19). Um zu verstehen, welche Energieprojekte realisiert wurden und welche nicht, „muss untersucht werden, wie Entscheidungsträger in Ost und West über Öl und Gas und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten für den Handel und die internationalen Beziehungen nachdachten“ (ebd.). Aber weder steht die Wahrnehmung noch das Nachdenken der Akteure im Mittelpunkt. Was Jeronim Perović schreibt, ist eine Synthese aus seinen eigenen, führenden Arbeiten zur Energiegeschichte der Sowjetunion und den wichtigen Promotionen seiner Doktorand:innen. Müsste man das Buch in eine Sparte einsortieren, gehörte es zu den Überblicksdarstellungen, die dieses Jahr zum 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion erscheinen. Aber der Clou ist, dass Jeronim Perović diese hundert Jahre aus der Perspektive von Öl- und Gaswirtschaft erzählt. Konsequent setzt er sein Desiderat um, die Energiegeschichte und den Außenhandel in den Mittelpunkt der Erzählung zu rücken. Sein Buch versteht er als Korrektiv zu den Geschichten des Kalten Krieges, die immer noch die Wirtschaftsgeschichte nur streiften, und zu den globalen Energiegeschichten, die oft genug sowohl die Rolle des Kalten Krieges als auch der Sowjetunion ausblendeten (S. 20). Der Schwerpunkt und das Verdienst dieses Buches ist daher die Fokusverschiebung und damit der Entwurf einer anderen Meistererzählung, die sich nicht nach der Außen- oder Innenpolitik richtet, sondern die Wirtschafts- und Handelsgeschichte in den Mittelpunkt der Staatsgeschichte rückt.
Natürlich ist gerade kaum etwas aktueller als eine Geschichte des russischen Gases und Öls. Man muss allerdings gleich hinzufügen, dass das Manuskript im Herbst 2021 und damit vor dem Ende von Nord-Stream 2, vor dem Krieg und vor den Sanktionen fertiggestellt wurde. Eine Einordnung der europäischen Versuche, die Energiemärkte wieder zu entflechten und sich von russischer Energie unabhängig zu machen, wäre zwar hoch interessant gewesen. Aber das Fehlen eines solchen Abschnitts tut der Bedeutung des Buchs keinen Abbruch. Es ist in fünf Kapitel gegliedert, die sich an die üblichen Zäsuren anlehnen.
Im ersten Kapitel holt der Autor weit aus und erzählt eine globale „Kurzgeschichte des Erdöls“. Die Besonderheit Russlands habe stets darin bestanden, dass „die staatliche Energiepolitik nie in erster Linie darauf ausgerichtet gewesen [war], Energievorkommen außerhalb der Landesgrenzen zu kontrollieren, sondern die eigenen Ressourcen zu erschließen“ (S. 36). Dabei ging es immer sowohl um die Überwindung großer Distanzen und des widrigen Klimas, als auch um den Import von westlichen Technologien. Dies ist der rote Faden, den Perović durch die bislang bekannte sowjetische Geschichte legt und sie damit auf neue, ungewohnte Weise präsentiert: Im Bürgerkrieg war für die Bolschewiki nicht nur entscheidend, die Kontrolle über alle unabhängigen Länder und Gebiete, sondern auch über die Ölfelder im Kaukasus wiederzuerlangen; auf der Konferenz von Genua 1922 ging es nicht nur um Fragen von Kriegsreparationen und Schuldenerlass, sondern auch um Öl-Konzessionen, von denen die Bolschewiki während der NÖP 330 an ausländische Firmen vergaben. „Mit Stahlrohren und Pipelinetechnik aus den USA, Deutschland und Großbritannien wurden zwischen 1925 und 1928 zwei wichtige Exportpipelines ans Schwarze Meer gebaut [...].“ (S. 61) Zu diesem Zeitpunkt steuerte das Öl 15 bis 20 Prozent des Gesamtwert des sowjetischen Exports bei und ersetzte damit teilweise den Weizen, der in der Zarenzeit den Export dominiert hatte (S. 65f.). Als der Ölpreis Anfang der 1930er-Jahre einbrach, erzwang Stalin die verstärkte Ausfuhr von Getreide, um mit den Erlösen die Industrialisierung zu finanzieren, und verursachte so die katastrophale Hungersnot von 1932/33. Der Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Getreideimport ist geläufig; das Zusammenspiel mit dem Ölpreis hingegen nicht. Es war zu 40 Prozent sowjetisches Öl, das in Folge des Hitler-Stalin-Pakts die deutschen Treibstofflager für den Krieg füllte (S. 73). Wie bekannt, galt der Vorstoß der Wehrmacht im Kaukasus vor allem den Ölfeldern von Baku, die aber nicht erreicht wurden.
Dienten die Nachkriegsjahre insbesondere dem Wiederaufbau der eigenen Infrastruktur, bekam die Energiepolitik nach Stalins Tod eine neue Qualität, als das Politbüro endgültig Öl und Gas erste Priorität gegenüber Kohle und Wasserkraft einräumte. Es startete gleichzeitig eine Offensive, beides gewinnbringend ins Ausland zu verkaufen, vor allem um die für die Erschließung benötigte Technik zu erhalten. Doch selbst das von der alarmierten NATO verhängte Röhrenembargo 1962 konnte den Ausbau des sowjetischen Pipelinenetzes nicht aufhalten. Der Wechsel von Stalin zu Chruschtschow brachte also nicht nur neue Freiheiten für die Gesellschaft, sondern auch einen Aufbruch in der Energiepolitik. Es war auch das Wissen um die sagenhaften Öl- und Gasvorkommen, das die Parteiführer beflügelte, 1961 zu verkünden, die Sowjetmenschen würden bis zum Jahr 1980 im Kommunismus leben (S. 95). Zu diesem Zeitpunkt, 1960, war die Sowjetunion bereits zum zweitgrößten Produzenten von Erdöl nach den USA aufgestiegen.
Die nächste große Zäsur setzt Perović nicht wie üblich bei der Absetzung Chruschtschows und dem Ende des Tauwetters 1964, sondern 1973, als infolge des Jom-Kippur-Kriegs die arabischen Staaten ein Embargo gegen alle Israel unterstützenden Länder verhängten und die Sowjetunion als weißen Ritter dastehen ließen. 1973 lieferte die UdSSR zudem das erste Gas nach West-Deutschland und musste realisieren, dass die Exportverpflichtungen nun so groß waren, dass es für die eigene Bevölkerung nicht mehr reichte, sodass die Menschen vor allem in der Ukraine im Winter frieren mussten. Die weiteren Handlungen des Westens, aus der Sowjetunion mehr Energie zu ordern, und der Sowjetunion, unbedingt im großen Stil die Energiereserven Sibiriens zu erschließen, folgten aus diesen Ereignissen 1973. Selbst mit den USA und Japan wurden ernsthafte Verhandlungen über die Lieferung von Gas über den Hafen von Murmansk geführt. Der große Energiehunger der westlichen Welt veranlasste das Politbüro, den Bruderstaaten höhere Preise in Rechnung zu stellen und sie aufzufordern, sich selbst um andere Energieträger zu kümmern. Die Realisierung der Großpipeline nach Sibirien in Kooperation mit einem westeuropäischen Konsortium nahm aber erst an Fahrt auf, als durch die Revolution im Iran auch dessen Gas für den Westen ausfiel. Die Spannungen zwischen der UdSSR und den USA hatten zu diesem Zeitpunkt schon wieder derart zugenommen, dass letztere Ende 1981 ein neues Pipelineembargo verhängten, das aber erneut wenig Wirkung zeigte.
Die Gorbatschow-Jahre erzählt Perović als Zeit des verfallenden Ölpreises, der ab Mitte der 1980er-Jahre erheblich zum wirtschaftlichen Verfall und damit Zusammenbruch der Sowjetunion beitrug. Die 1990er-Jahre unter Jelzin waren nicht nur allgemein die Zeit des „Wild-West-Kapitalismus“, sondern gerade auch ein Gefeilsche und Geschachere um die lukrativen Erdölunternehmen, das die Oligarchen erst hervorbrachte. Es war Putin, der ab dem Jahr 2000 deren Macht beschnitt und die Ölproduktion wieder unter Staatskontrolle brachte, während die Gasfelder weitestgehend durchgängig Staatseigentum waren. Putin konnte auch deshalb mit Stabilität und Wohlstand punkten, weil just mit seinem Amtsantritt die Ölpreise wieder anzogen und dem Staat saftige Gewinne bescherten.
„Energiegeschichte ist aufs Engste mit dem Aufstieg Russlands zur modernen Großmacht verbunden“, so Perović (S. 195). „Es ist diese toxische Verbindung zwischen Energie und Macht, die gesellschaftliche Dynamik verhindert und damit auch die dringend nötigen Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen Systems so schwierig machen.“ (S. 198)
Das Buch ist eine lohnende Lektüre mit einem erfrischend anderen Blick auf eine bekannte Geschichte und vielleicht der Beginn eines „economic turns“, dem sich andere anschließen sollten.