K. Stengel: Die Überlebenden vor Gericht

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Titel
Die Überlebenden vor Gericht. Auschwitz-Häftlinge als Zeugen in NS-Prozessen (1950–1976)


Autor(en)
Stengel, Katharina
Reihe
Schriften des Dubnow-Instituts (34)
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
548 S., 7 SW-Abb., 16 Tafel-Abb.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vera Kallenberg, Arbeitsbereich Zeitgeschichte / Interdisziplinäres Zentrum für Geschlechterforschung, Universität Bielefeld

„Es gab eine Wannseekonferenz mit dem Beschluss zur Endlösung der Judenfrage. Dazu gehörte eine gewisse Maschinerie. Alle, die an dieser Vernichtung bzw. der Bedienung der Vernichtungsmaschinerie mehr oder minder beteiligt waren, werden daher angeklagt wegen Mitwirkung an der ‚Endlösung der Judenfrage‘“, zitiert Katharina Stengel (S. 51) den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1963). Er versuchte im ersten Auschwitzprozess vergeblich, ein strafrechtliches Konzept zu etablieren, das den gesamten Massenmord als eine Tat- und Handlungseinheit bewertete. Hätte es sich durchgesetzt, so Bauer, hätte der Auschwitzprozess viel kürzer sein können. Doch die bundesdeutsche Justiz hielt an den im Strafrecht üblichen kleinteiligen Konstruktionen von Handlungseinheit und Tatbeteiligung fest. Da Sachbeweise weitgehend fehlten, war die Strafjustiz für die Überführung der NS-Täter auf Zeugen angewiesen, die juristisch als schwierigstes Beweismittel gelten.1

„Neutrale Augenzeugen“ gab es im Fall von Auschwitz nicht; aussagebereit waren allein die „Opferzeugen“.2 Sie mussten glaubhaft versichern können, den Angeklagten an einem bestimmten Tag bei der unmittelbaren Ausführung der Tat gesehen zu haben. Daraus ergab sich eine strukturelle Verzerrung, die den Anschein erwecken konnte, als stünden die Überlebenden vor Gericht, eine Täter-Opfer-Umkehr, die Stengels doppeldeutiger Buchtitel treffend zum Ausdruck bringt. Die ehemaligen Auschwitz-Häftlinge erlebten, dass ihre Aussagen wiederholt angezweifelt wurden. Während das Interesse der Gerichte juristisch belastbaren Aussagen zur konkreten Tatbeteiligung der Angeklagten galt, schilderten die Zeugen, in Gegenwart von NS-Tätern im Gerichtssaal, „in Wahrheit die Zerstörung ihres Lebens“ (so Staatsanwältin Helge Grabitz 1985; zit. auf S. 56). Besondere Schutzvorkehrungen für NS-Verfolgte gab es in der bundesrepublikanischen Strafjustiz bis in die 1980er-Jahre nicht.

Wie grotesk es den aussagenden Überlebenden erschien, im Fall der NS-Verbrechen von Auschwitz die überkommene Praxis der Strafrechtsprechung beizubehalten, wird in Stengels Studie vielfach deutlich. Ein Beispiel ist die Vernehmung des Krakauer Mediziners Władysław Fejkiel im ersten Frankfurter Auschwitzprozess, der als ehemaliger Häftlingsarzt im Stammlager zu den Ermordungen durch Phenolinjektionen in den „Krankenbauten“ aussagte. Der Vorsitzende Richter fragte wiederholt, ob Fejkiel den Angeklagten SS-Sanitätsdienstgrad persönlich „spritzen“ gesehen habe. Darauf antwortete Fejkiel – in Auschwitz am Lagerwiderstand beteiligt und nach 1945 in den Überlebendenorganisationen tätig –, nicht auf die Idee kommend, die zur Tatzeit ebenfalls anwesenden Funktionshäftlinge zu möglichen Schuldigen zu zählen: „[…] wenn ein Häftling geführt wird in einen Raum, wo sich nur Klehr befindet, und danach wird die Leiche herausgebracht, dann ist doch klar, wer getötet hat.“ (zit. auf S. 273) In solchen Situationen zeigt sich für Stengel die Kluft zwischen den Überlebenden und dem juristischen Personal. Während die Überlebenden vor Gericht den Bruch mit bisheriger Erfahrung im Vernichtungslager Auschwitz zu bezeugen versuchten, so könnte man im Anschluss an die Autorin formulieren, negierte die bundesrepublikanische Rechtspraxis diesen Bruch – und damit die spezifischen Perspektiven der Überlebenden.

Für die Jahre 1950–1976 untersucht Stengel erstmals systematisch Rolle und Erfahrung der NS-Verfolgten als Zeugen in bundesdeutschen NS-Prozessen.3 Dies basiert auf der qualitativen Analyse von vier Auschwitzprozessen, die 1952/53 und 1959 vor dem Landgericht Osnabrück sowie 1963–1965 und 1973–1976 vor dem Frankfurter Landgericht stattfanden. Stengels breites Spektrum an Quellengattungen umfasst Justizakten, besonders Vernehmungsprotokolle, aber auch Nachlässe, Korrespondenzen und Presseberichte. Um Entwicklungen und Wandel gerichtlicher Zeugenschaft aufzuzeigen, analysiert die Autorin zunächst zwei wenig beachtete Verfahren gegen den ehemaligen SS-Hauptscharführer Bernhard Rakers (zwischen 1942 und 1944 Rapportführer im Konzentrationslager Buna/Monowitz der IG Farben) vor dem Landgericht Osnabrück. Endpunkt ihrer empirischen Untersuchung ist der sogenannte letzte Auschwitzprozess gegen Alois Frey und Willi Sawatzki in den 1970er-Jahren.

Der umfangreichste Teil der Monographie ist dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess gewidmet, was sich aus der besonders günstigen Quellenlage ergibt. Zusätzlich zu dem Gerichtsprotokoll der Hauptverhandlung existiert eine 430-stündige Tonbandaufzeichnung der Zeugenvernehmungen, die, wiederentdeckt in den 1990er-Jahren, inzwischen als Transkript vorliegt. Stengel bietet Einblicke in Motive, Aktivitäten und Erfahrungen unterschiedlicher Gruppen von „Opferzeugen“ (etwa polnischer Funktionshäftlinge, jüdischer „Sekretärinnen“, jüdischer Zeugen, die als Jugendliche Häftlinge waren, deutscher Sinti) in der Interaktion mit anderen Beteiligten des Prozesses. Die Verfasserin analysiert die Aussagen bekannter und weniger bekannter NS-Verfolgter. Indem Stengel die maßgeblichen Akteure im Kontext von Kaltem Krieg und postnazistischem Deutschland situiert, werden die Kräfteverhältnisse und politischen Faktoren angesprochen. Die entscheidende Rolle Hermann Langbeins – sowohl für das Zustandekommen des Prozesses als auch für die Arbeit mit den Zeugen und die Überlieferung der Prozessverläufe – stellt Stengel als ausgewiesene Kennerin von Leben und Werk Langbeins gekonnt heraus.4 Eindrücklich belegt sie über die dichte Analyse der Audiomitschnitte die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Erfahrungswelten von nichtjüdischer deutscher Mehrheitsgesellschaft und ehemaligen NS-Verfolgten. Eine markante Stelle ist ihre Analyse der Vernehmung des polnischen Häftlings Josef Kral. Während der Zeuge stockend von Mord und Folter im Bunker von Block 11 des Stammlagers berichtet, der polnischen Dolmetscherin fast die Stimme versagt und der Vorsitzende Richter Seufzer von sich gibt, vernimmt man in den Sprechpausen die Stimmen lachender und schreiender Kinder des benachbarten Schulhofs (S. 262).

Stengels Studie zeigt den Wandel in der Haltung der Auschwitz-Überlebenden gegenüber den NS-Prozessen zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren. Während ihre Aussagebereitschaft in den 1950er-Jahren nur langsam zunahm, stieß der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess bei den ehemaligen Häftlingen und den Verfolgtenorganisationen schnell auf ein enormes Interesse. Sie versuchten die gerichtliche Zeugenschaft dazu zu nutzen, ihre Erfahrungen öffentlich zu artikulieren und an die Ermordeten zu erinnern. Die Täter sollten überführt und bestraft, ihre Verbrechen dokumentiert und die Gesellschaft über die NS-Gewalt aufgeklärt werden. Diese Motivation verschwand in den 1970er-Jahren. Neben fortschreitendem Alter sowie einer veränderten gesellschaftlichen Rolle der Überlebenden, die als „Zeitzeugen“ nunmehr auch jenseits des Gerichtssaales agierten, führt Stengel dies vor allem auf die mangelnde Sanktionierung der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz sowie auf den Umgang mit den Überlebenden zurück. Zu oft waren die Täter mit geringen Strafen oder mit Freisprüchen davongekommen und die Zeugenaussagen der Opfer als unzulänglich und unglaubhaft eingestuft worden.

Insgesamt korrigiert der Blick auf die NS-Verfolgten als Zeugen in Auschwitzprozessen das öffentlich weiterhin wirksame Narrativ von einem justiziellen und gesellschaftlichen Wendepunkt der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in den 1960er-Jahren. Zwar besaß der erste Frankfurter Auschwitzprozess die ihm zugeschriebene Aufklärungsfunktion, indem die Zeugenaussagen die Verbrechensumstände in neuartigem Ausmaß aufhellen konnten. Er endete jedoch mit einem Urteil, dessen Schuldsprüche in inadäquatem Verhältnis zu den Verbrechen standen und das die strafrechtliche Fixierung auf die „konkrete Einzeltat“ fortschrieb. Das öffentliche Interesse am Thema schwand schnell, sodass auch gesellschaftlich nicht von einem signifikanten Wendepunkt gesprochen werden kann.

An einigen Stellen des Buches hätte die analytische Ebene gestärkt werden können. Besonders die ambivalente Rolle des Vorsitzenden Richters Hans Hofmeyer (1904–1992) im ersten Auschwitzprozess, dessen Verhalten gegenüber bestimmten NS-Verfolgten Stengel als „recht rüde“ charakterisiert (S. 249), hätte ausführlicher diskutiert werden können. Resultierte sein Verhalten aus der „Professionalität“ des Richters, der sich an die übliche Prozessführung hielt? Kann es als Erinnerungs- und Schuldabwehr gedeutet werden? War Hofmeyer vom Ausmaß der zu Tage tretenden Grauen überfordert? Oder alles zusammen? Aufgrund der starken Stellung des Richters im Prozess, dessen Fragen den Aussageraum massiv vorstrukturierten, sowie der Abhängigkeit der Zeugenaussagen von Interaktion und Beziehungsqualität zwischen Richter und Zeuge könnte der biographische Erfahrungshintergrund eines NS-belasteten Richters deutlicher einbezogen sein.5 Schließlich hätte Stengel zuspitzen können, wie der Befund des Versagens der Strafjustiz gegenüber den NS-Verbrechen und den Überlebenden letztlich einzuordnen ist bzw. welche Elemente darin wie zu gewichten sind: die Konstellationen des Kalten Krieges, die Strukturen von Strafrecht und Strafjustiz in der Bundesrepublik, das Agieren des nichtjüdischen juristischen Personals, Antikommunismus und Antisemitismus sowie die Verkennung der Spezifika des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und der dort verübten NS-Verbrechen.

Zukünftige Forschungen könnten die Tonaufnahmen aus dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess noch stärker nutzen. Dies gilt etwa für Langbeins Aussage zum sogenannten Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau. Stengel zitiert Langbeins Schilderung der Zustände im „Krankenblock“, in dem auch die Romnja lagen, die Kinder entbanden, lediglich gekürzt (S. 381). Der nicht zitierte Fortgang von Langbeins Aussage enthält einen der emotionalsten Momente seiner Vernehmung: „Ich habe Frauen gesehen, [Pause] die glücklichsten waren die – es waren einzelne darunter –, die wahnsinnig geworden sind. Ich habe kleine Kinder gesehen, Neugeborene; die einzige Sorge, die ihnen zuteil wurde, war die, daß sie sofort die Häftlingsnummer tätowiert bekamen mit einem »Z«. Und zwar bekamen die die Häftlingsnummer in den Oberschenkel, weil der Unterarm eines Säuglings zu klein war dafür. Und ich habe dann die Leichenkammer gesehen, die anschließend hinten bei dem Block war, und dort war ein Berg von Leichen, Kinderleichen, und dazwischen waren die Ratten. [Pause].“6 Langbein, der laut Stengel den Zeugen empfahl, vor Gericht die Geschehnisse so nüchtern wie möglich zu berichten, scheint hier von seinen Erinnerungen überwältigt zu werden. Es verschlägt ihm regelrecht die Sprache.7 Seine Auswahl dieser Episode könnte zudem als Einsatz interpretiert werden, die Glaubwürdigkeit der Roma zu stärken, deren Zeugenaussagen vor Gericht ein geringer Wert beigemessen wurde.

Die genannten weiterführenden Überlegungen sollen die Leistung der Studie nicht schmälern. Sie belegen vielmehr den anregenden Charakter von Katharina Stengels Pionierarbeit, der eine englische Übersetzung zu wünschen wäre.

Anmerkungen:
1 Auch Frauen sagten vor Gericht aus, doch waren sie in der Minderheit, und ihren Aussagen wurde weniger Beweiskraft zugesprochen als denen von Männern. Stengel verwendet in ihrer Studie daher keine geschlechterparitätische Sprache, die diesen patriarchalen Bias verdecken würde. Zudem waren keine Frauen als NS-Täterinnen angeklagt.
2 „Opferzeugen“ existieren nicht als juristische Kategorie – das bundesdeutsche Strafrecht unterscheidet nicht zwischen unterschiedlichen Gruppen von Zeugen (Opfer, Täter, Unbeteiligte).
3 Ausgewählte frühere Forschungen: Norbert Frei / Dirk van Laak / Michael Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000; Devin O. Pendas, Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht. Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Binder, München 2013 (zuerst: The Frankfurt Auschwitz Trial, 1963–1965. Genocide, History, and the Limits of the Law, Cambridge 2006); Rebecca Wittmann, Beyond Justice. The Auschwitz Trial, Cambridge 2005.
4 Katharina Stengel, Hermann Langbein. Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit, Frankfurt am Main 2012.
5 Vgl. Matias Ristic, Hans Hofmeyer. Widersprüche eines Richters „von Format“ oder: Ein Blick auf den Auschwitz-Prozess-Vorsitzenden im Lichte bislang unberücksichtigter Rechtsprechung, in: Kritische Justiz 53 (2020), S. 98–113.
6 Zeugenvernehmung Hermann Langbein, 24. Verhandlungstag, 06.03.1964, Transkript, S. 13, https://www.auschwitz-prozess.de/zeugenaussagen/Langbein-Hermann_1/ (15.03.2023).
7 Ebd., Audiomitschnitt online, Minute 72:00–72:54, https://www.auschwitz-prozess.de/zeugenaussagen/Langbein-Hermann_1/ (15.03.2023).