D. Mathuber: Körperkommunikation

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Titel
Körperkommunikation. Das Auftreten falscher Mitglieder der Dynastie im frühneuzeitlichen Russland


Autor(en)
Mathuber, Daniela
Reihe
Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa (22)
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Es gibt Menschen, die ohne jegliche rationale Grundlage behaupten, jemand zu sein; und Menschen, die diesen Behauptungen ohne kritische Prüfung folgen. Die Motive dieses Phänomens zu entschlüsseln, gleicht einer Sisyphusarbeit, die sich noch schwieriger gestalten muss, wenn die Akteure aus unterprivilegierten Schichten des frühneuzeitlichen Russlands stammten. Umso begrüßenswerter ist die vorliegende, auf einer Dissertation basierende Studie, die die samozvancy – die „selbsternannten“ Dynastiemitglieder – unter die Lupe nimmt.

In Anlehnung an den russischen Historiker Oleg G. Usenko1 definiert Daniela Mathuber das Phänomen samozvanstvo als „Gedanken, Gefühle und Handlungen eines konkreten Menschen […], der beschlossen hat, sich für den Träger eines anderen, neuen Namens und/oder Status auszugeben“ (S. 36). Als Quellenbegriff sei samozvanstvo zwischen 1691 und 1714 entstanden (S. 38). Mathuber rekonstruiert die Geschichte der samozvancy von dem Auftreten des ersten „falschen Dmitrij“ im Jahre 1603 bis zu den Selbsternannten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie stützt sich auf Untersuchungsakten und Verhöre aus dem Russischen Staatsarchiv für alte Akten (RGADA), sowie auf verschriftlichte Gerüchte, Volkslieder, apokalyptische und folkloristische Erzählungen. Mithilfe eines performanzorientierten Ansatzes geht sie der Frage nach, „wie sich ein falsches Mitglied der Dynastie verhielt und die angeeignete Identität plausibel zu machen versuchte“ (S. 11).

Mathubers Analyse fokussiert sich dabei auf die „Körperkommunikation“. Ihr Buch sei ein Beitrag zu Forschung über den Körper, der als Kommunikationsmittel im Projektionsprozess der Herrscherbilder verstanden wird. Zentral sind für die Autorin zwei analytische Begriffe aus der Performance-Forschung von Diana Taylor.2 Zum einen geht es um das „Archiv“, also „alles, was in einer Kultur scheinbar von dauerhaftem Bestand und unveränderlich ist“ (S. 88). Zum anderen untersucht Mathuber das „Repertoire“, verstanden als „flüchtig und (…) nur in seiner performativen Umsetzung sichtbar“ (S. 89).

In zwei Teilen, die das empirische Herzstück der Arbeit bilden, betrachtet die Autorin mehrere Fallbeispiele entlang der beiden analytischen Kategorien. Zunächst widmet sie sich den „Voraussetzungen der Performanz“: dem „Archiv“ und der „Weitergabe des Wissens über samozvanstvo“. Darauf folgt eine detaillierte Analyse der Performanz. Die Rekonstruktion der sozialen Hintergründe der samozvancy ergibt, dass es sich überwiegend um entflohene Soldaten, Bauern oder Gefangene – nicht selten Kosaken – und fast ausschließlich Männer gehandelt hat, die sich zum größten Teil in einer persönlichen Notlage befanden. Sie bedienten sich Selbstermächtigungspraktiken, um auf der Suche nach Unterkunft und Verpflegung Anerkennung für sich zu erzeugen. Ihre Anhänger gewannen sie durch individuelles Charisma und die Darstellung überzeugender „Beweise“ für ihre vermeintliche Zugehörigkeit zur königlichen Dynastie – wie besondere sprachliche oder körperliche Merkmale. Einige unternahmen noch zusätzliche Aktivitäten als Heiler, Propheten, Wahrsager oder Zauberer, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen.

Bis auf den berühmten Anführer des Bauernaufstands (1773–1775) Jemeljan Pugatschow stellten samozvancy, so Mathuber, die Regierungsform und die Institutionen des Russländischen Imperiums nicht in Frage. Nachdem sie sich in einem neuen Wohnort erfolgreich niederließen, lebten sie meistens unspektakulär und versteckt, und suchten nicht nach einem breiteren Anhängerkreis. So kann samozvanstvo laut Mathuber nicht als eine Form von Herrscherkritik angesehen werden. Denn unter den samozvancy war lediglich „eine geringe Bereitschaft zur Konfrontation“ zu beobachten (S. 366). Grundsätzlich sei eine „durchgehend hohe Akzeptanz der Monarchie im Untersuchungszeitraum“ feststellbar (S. 52). Die faktische politische Harmlosigkeit steht in starkem Kontrast zu der behördlichen Verfolgung des samozvanstvo als eines schwerwiegenden Majestätsverbrechens, das mit der Teilnahme an einer vermeintlichen Verschwörung in Verbindung gebracht wurde. In den von Mathuber analysierten Gerichtsakten widersprachen samozvancy diesen Vorwürfen vehement, und es finden sich laut der Autorin keine weiteren Anzeichen für die Unwahrheit dieser Aussagen. Bis auf wenige Ausnahmen wie Pugatschow wurden samozvancy auch nicht aufgrund von angeblich politisch motivierten Verbrechen angeklagt. Allerdings versprachen samozvancy ihren Anhängern durchaus, dass sie bessere, da direkt greifbare Herrscher sein würden. Zur Erklärung dieser Diskrepanz verweist Mathuber auf die Forschungsergebnisse von Stefan Plaggenborg3 und bestätigt seine These, dass „diese Ordnung als sakral galt, nicht aber der Herrscher“ (S. 121).

Mathubers Fazit ist einleuchtend. Das Phänomen des samozvanstvo sei nicht „nach außen gerichtet“ gewesen, sondern „nach innen, an die Beteiligten, und für diese war das performative Geschehen selbst wichtiger als seine Auswirkungen auf die Realität“ (S. 368). Die Performanz habe den samozvancy ermöglicht, ihre eigene Lebenssituation zu verbessern und über ihr Schicksal selbst zu verfügen. Dabei lasse sich nach Mathuber nicht von einer kollektiven Identität der samozvancy sprechen – sie wussten kaum voneinander und beriefen sich auch kaum aufeinander. Überzeugend ist daher die Argumentation der Autorin, dass es sich hier um eine „diffuse Weitergabe von Wissen“ gehandelt habe (S. 381). Zu Recht stützt sich Mathuber daher methodisch auf Kategorien, die ein solches Phänomen der langen Dauer mithilfe der Rekonstruktion von kontinuierlichen Handlungsformen angemessen erklären können.

Akribisch und detailreich rekonstruiert die Autorin die Vorstellungswelten der samozvancy und ihrer Anhänger. Ihre Protagonisten werden, soweit das möglich ist, mit vollen Namen vorgestellt und im beigefügten Personenregister aufgeführt – das geschieht den Mitgliedern der unterprivilegierten Schichten des Moskauer und Russländischen Imperiums in der historischen Forschung nur selten. Angesichts des diffusen Forschungsobjektes und der schwierigen Quellenlage darf nicht verwundern, dass einiges im Bereich des Spekulativen verbleiben muss. Was etwas verwundern mag, ist die Tatsache, dass religionsinspirierte Motive und Formen des samozvanstvo in der Studie keine Rolle spielen, obwohl die Allgegenwärtigkeit religiöser Topoi in der untersuchten Gesellschaft angenommen werden kann. Ein weiterer kleiner Kritikpunkt betrifft die Komposition der Arbeit. Da die Autorin einen analytischen Zugang verfolgt, wiederholen sich die Fallbeispiele in verschiedenen Kapiteln und werden jeweils nur unter bestimmten Aspekten beleuchtet. Im Fokus stehen somit nicht die Geschichten der einzelnen samozvancy, sondern ihre nach bestimmten Kategorien sortierte Performanz. So leidet der Lesefluss der Studie unter den zerstückelten Geschichten und Wiederholungen. Schließlich ist fraglich, warum sich die Autorin besonders verpflichtet fühlt, gegen marxistisch-leninistische Erklärungsmuster polemisieren zu müssen. Besonders häufig lehnt sie das Klassenkampfschema ab (S. 183, 256, 333). Sie hat es aber nicht nötig, eine tote Theorie zu widerlegen. Auch ohne Kampf gegen den Klassenkampf ist Daniela Mathubers Buch eine anregende und empfehlenswerte Lektüre.

Anmerkungen:
1 Oleg G. Usenko, Psichologija social’nogo protesta v Rossii XVII–XVIII vekov. Posobie dlja učitelej srednej školy. Čast’ 3. Tver’ 1997.
2 Diana Taylor, The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas. Durham 2003.
3 Stefan Plaggenborg, Pravda. Gerechtigkeit, Herrschaft und sakrale Ordnung in Altrussland, Paderborn 2018.

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