Warum werden Gelehrte, warum werden Akademiker vergessen? Einst waren sie bekannt, haben Leistungen erbracht, von denen man annehmen sollte, sie würden die Erinnerung an ihre Namen wachhalten. Trotzdem kennt man sie nach einigen Jahren nicht mehr. Was geschieht, wenn, wie der Frühneuzeithistoriker Tobias Winnerling sagt, „die Erinnerung entschwindet, wenn man nicht mehr regelmäßig zitiert, erwähnt, kritisiert, gelesen wird, sondern nur noch hin und wieder als blasses Gespenst erscheint, um einen Gedanken zu beglaubigen oder eine Fußnote zu ermöglichen?“ (S. 13). Zahlreiche in dieser Studie vorgestellte Lebensläufe, genauer Nach-Lebensläufe („Gespenstergeschichten") von Gelehrten und Akademikern zeigen, dass kein Automatismus zwischen einstiger Bekanntheit und dauerhaftem Erinnertwerden besteht. Und um es gleich klarzustellen: Weibliche Gelehrte stehen hier nicht im Fokus, sind aber präsent. Gelehrte, kluge, intellektuelle Frauen haben eher unter der Oberfläche in allen Disziplinen gewirkt und konnten öffentlich keine großen Zeichen setzen. Wollte man sie als gelehrte Frauen angemessen mitberücksichtigen, was Winnerling als Desiderat betont, sei eine dezidierte Frauen-Wissenschafts-Geschichte erforderlich.
Erinnertwerden und das Nachlassen der Erinnerung also stehen im Raum. Das Thema hat seinen Reiz. Wer möchte nicht, dass post mortem eine sichtbare Spur des eigenen Wandelns bleibt. Winnerling wählt als Untersuchungszeitraum drei Jahrhunderte (17. bis 19. Jh.), wobei die meisten Erinnerungsvorkommnisse im 18. und 19. Jahrhundert liegen. Der Autor entscheidet sich für das ‚akademische Metier‘ als Beobachtungsbereich: Gemeint ist das soziale Teilsystem all jener, die „ihr Leben mit der Gelehrsamkeit und ihren Institutionen“ verbinden. Dabei geht es nicht nur um Gelehrte und Wissenschaftler im engen Sinn, sondern auch um die vielen, die „nur peripher an Gelehrsamkeit und Wissenschaft angebunden waren, für die eines davon aber formativer Teil ihres Lebens blieb – und die häufig genug die darin anfallenden Kärrnerarbeiten verrichteten“. Kurzum, der Kollektivbegriff ‚akademisches Metier‘ fokussiert auf alle, „die von ihrer Gelehrsamkeit leben können möchten, und (auf) die Beschäftigungen, mit denen sie das zu bewerkstelligen versuchen“ (S. 53–55).
Für diese Gruppe also gilt es, die Prozesse des Erinnerns und Schwindens der Erinnerung als eine Form der Informationszirkulation zu analysieren. Wenn man so will, interessiert sich Winnerling für Konjunkturen von Rezeptionskarrieren (nur wer rezipiert wird, wird erinnert), für elastische Dehnungen und Verengungen von Referenzspiralen, für eine Praxeologie der Vereitelung von Unsterblichkeit. Sollten Lesende dieses Erkenntnisziel nicht (an-)erkennen und sollte der Fokus auf das knowing-how des Vergessenwerdens aus dem Blick geraten, kann es sein, dass man Buch und Autor unrecht tut, indem man sich am Ende wundert: Braucht es für den Nachweis, dass alle irgendwann, irgendwie, unerbittlich und definitiv vergessen werden, diese dicke Studie?
Wer sind die Protagonisten? In der Reihenfolge ihres Sterbedatums und damit des Beginns ihres Nachlebens sind es: Thomas Gale (ca. 1636–1702), Johannes Braun, auch Jean Brun (1628–1708), Adriaan Reland (1676–1718) und Eusèbe Renaudot, auch Monsieur l’abbé Renaudot (1646–1720). Bei ihnen handelt es sich um Geisteswissenschaftler, wie man heute sagen würde. Sie waren nicht eindimensional (wer ist das schon), sie hatten mehr als eine Funktion im akademischen Metier. Gale verfügte über einen gehobenen sozialen Hintergrund, war Griechischprofessor in Cambridge, Rektor der St. Paul’s School in London, Doctor of Divinity, Fellow in der Royal Society und Dekan der Kathedrale von York. Er publizierte viel, hatte mindestens elf Kinder, von denen ihn fünf überlebten, und er korrespondierte mit zahlreichen Personen. Anscheinend war er zu Lebzeiten in keine Streitigkeiten oder Skandale verwickelt.
Braun, der dem gehobenen Stadtbürgertum Kaiserslauterns entstammte und Theologieprofessor wurde, ließ hingegen keine Gelegenheit aus, sich mit Fachkollegen zu streiten. Später wurde er in Groningen Professor für Theologie und Hebräisch. Sein Buch über die Kleidung der Priester am Tempel zu Jerusalem (Vestitus Sacerdotum Hebraeorum, 1680) avancierte zum Standardwerk für den Spezialbereich biblischer Sakralbekleidung. Andere Schriften des überzeugten Cartesianers, der seine Bücher dezidiert calvinistisch perspektivierte, waren hingegen im katholischen Europa weniger gern gelesen. Braun war unter seinen Zeitgenossen ebenfalls gut vernetzt und in weiträumige, allerdings stark konfessionalisierte Korrespondenzbeziehungen eingebunden.
Der Vielschreiber Reland könnte der bekannteste unter den vier Herren sein. Bereits mit 17 Jahren hatte er einen Magistertitel in der Tasche und schlug ein Angebot auf eine Professur der orientalischen Sprachen am akademischen Gymnasium in Lingen aus. Nach mehreren Stationen folgte er dem Ruf auf eine Professur an die Universität Utrecht, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte: primär als Linguist und Philologe, daneben auch auf den Gebieten der Arabistik und Theologie. Letztere bilden die disziplinäre Basis einer seiner großen Veröffentlichungen, der Koran- und Islaminterpretation De Religione Mohammedica (1705). Offensichtlich hatte Reland Talent für alte Sprachen, insbesondere Arabisch und Hebräisch. Als Orientalist sorgte er mit quellengenauen Arbeiten dafür, eurozentristische Vorurteile über den Islam abzubauen. Wie Braun und Gale verfügte er über ein weitverzweigtes Briefnetzwerk, das ganz Mitteleuropa abdeckte.
Der Vierte im Bunde, Renaudot, wurde in eine Familie königlicher Leibärzte hineingeboren, studierte Theologie und wurde katholischer Ordensmann (Oratorianer). Im geistlichen Stand verblieb er bis zu seinem Lebensende, widmete sich freigestellt von kirchenpraktischen Verpflichtungen aber vor allem philologischen und theologischen Fragen, und zwar auf der Grundlage von Latein, Griechisch, Arabisch, Aramäisch und Koptisch. Er war Mitglied der Académie Française, schrieb viel, veröffentlichte aber relativ wenig. Zeitlebens familien- und kinderlos, häufte er Mitgliedschaften in gelehrten Akademien und korrespondierte wie die anderen drei ausgiebig mit Zeitgenossen.
Wie werden die Figuren vergleichbar? Grundsätzlich standen sie in unterschiedlicher Weise in Akademikertraditionslinien oder sie konnten sich auf intellektuelle Abstammungsgemeinschaften berufen. Ihre Positionen im akademischen Metier verliehen ihren Äußerungen genug Strahlkraft, um in der zeitgenössischen Aufmerksamkeitsökonomie wahrgenommen zu werden (S. 59f.). Sie verfügten über Netzwerke und produzierten Bücher, die ihren Namen auch nach Abwesenheit ihrer Person hinreichende Bekanntheit sicherten, auf dass sie Gesprächsstoff und Bezugsperson wurden und für eine gewisse Dauer blieben. Mit ihren Personen verband sich eine nominelle Größe, ganz gleich, wie bedeutsam sie im Sinne einer tatsächlichen Leistung war. Ihre Rezeptionskarrieren beruhten dann aber auf faktischen Bezugnahmen auf sich und ihre Verdienste seitens unterschiedlicher Akteure (Individuen, Schülerschaften, disziplinäre Einrichtungen). Die Wirkungskreise ihres akademischen bzw. gelehrten Status, ihrer pädagogischen und auktorialen Einsätze sorgten für einen (Nach-)Ruhm, auf den spätere Generationen Bezug nehmen konnten und wollten. Es handelt sich bei den Männern damit um „individuelle Ausformungen eines Typenmerkmals“, wobei es die „Schnittmenge von relativem Erfolg auf der einen und relativer Durchschnittlichkeit auf der anderen Seite“ (S. 59) plausibel erscheinen lässt, anhand ihrer individuellen Post-mortem-Karrieren der Frage nachzugehen, warum und wie sie strukturell vergessen wurden.
Neun Kapitel und ein passend mit „Vorerinnerungen“ überschriebener Einleitungsteil bilden den darstellerischen Kern des Buches. Zusammen mit dem Anhang ergeben sich summa summarum 650 Seiten. Die Vorerinnerungen gleichen einem Delta, in dem der Autor selbstbezüglich den Anlass der Studie reflektiert und das Funktionieren von Erinnerung und Vergessen perspektiviert. Die mäandernde Darlegung wird in einem alle Eventualitäten auslotenden, tendenziell manierierten, aber pointierte Ironie ebenfalls beherrschenden Duktus präsentiert. Kapitel eins bietet auf hohem Niveau die theoretische Grundlegung, wozu vor allem die Bezugnahme als Akt von Erinnerung(stiftung, -gewähr) erläutert wird. Kapitel zwei stellt die Protagonisten vor, im dritten Kapitel geht es um deren Schüler und Kollegen sowie um die Institutionen, denen die vier Herren angehörten. Im vierten und fünften Kapitel werden zufällig interessierte Beobachter, die von unterschiedlichen Kontexten aus auf die Verstorbenen schauen, in den Blick genommen, während das sechste und siebte Kapitel in Auktions- und Verkaufskatalogen bzw. Nachschlagewerken nach Auskünften sucht. Das achte Kapitel historisiert die Diskussionen über die wissenschaftliche Qualität der ideellen Produktionen der Protagonisten, das neunte bilanziert Ergebnisse und Erkenntnisse.
Die zentralen Begriffe, die im ersten Kapitel entfaltet werden, sind erwartungsgemäß „Erinnern“ und „Vergessen“, letzterer mit dem Zusatz „Verschwinden (von potentiell Erinnerbarem)“. Die zusätzlichen Schlagwörter lauten „Bezugnahmen und Pfadabhängigkeiten“ (individuelle, institutionelle), „Informationskreislauf und Zirkulationsgeschwindigkeit“ und „Reservoir“ (ungeordneter Vorrart von Informationen, die potentiell wiederauffindbar sind). Erinnerung versteht Winnerling als zirkulierende Informationen auf drei Ebenen, zur Veranschaulichung spricht er vom Arbeitsspeicher (flüchtig Wahrgenommenes mit hoher Zirkulationsgeschwindigkeit), vom Kurzzeitspeicher (etwas längerfristig behaltene Informationen) und vom Langzeitspeicher (Informationen mit größerem Zeithorizont, die nur langsam hin und her fließen). Vergessen wird sodann als ein Erinnern-Können begriffen. Diese Annahme, so paradox sie zunächst erscheint, wird plausibilisiert, wenn es heißt: „Was vergessen ist, kann nur dann und nur so lange vergessen sein, wenn und wie ich weiß, dass ein Einstmals-Gewusstes existiert, das ich nun nicht mehr weiß.“ (S. 23) Vergessen ist demnach insofern tatsächlich Erinnerung, als das Vergessen ein Bewusstsein eines nicht-mehr-Erinnerten impliziert. Ist ein Sachverhalt, eine Person nicht einmal mehr erinnerbar, ist sie verschwunden und endgültig nicht existierend.
Der Anhang mit dem Quellen- und Literaturverzeichnis (ca. 80 Seiten) und dem Register für Namen, Orte und Sachen beschließt den Band – und tut es auch nicht. Denn es gibt noch einen elektronischen Anhang dazu, sage und schreibe 508 Seiten stark. Dieser ist über einen Link aufrufbar (https://www.wallstein-verlag.de/3569-1_Winnerling_Vergessen_werden_Anhaenge.pdf) und bietet die gesamte Materialgrundlage der Arbeit: Die im Hauptband präsentierten Zitate und Referenzen sind also nur ein Bruchteil dessen, was Winnerling eruiert, zusammengetragen und sortiert hat.
Grobkörnig – der zahlreichen Fahndungsstränge in die vergangene Aufmerksamkeitsökonomie sind schlicht zu viele – lautet das Resümee der Studie: Eine Gewähr für Nachruhm gab es nicht, und wird es auch nicht geben, wie man nach der Lektüre vermuten darf. Nachruhm währt so lange, wie sein Anlass im Gedächtnis bleibt. Das leuchtet ein. Ruhm gebiert Nachruhm nur dann, wenn ersterer Gesprächsstoff wird. Die Halbwertszeit des Nachruhms ist seinerseits so lang, wie er zirkuliert. Die Zirkulationsdauer hängt von der Art und Weise ab, wie der Nachruhm herbeigeredet und konstruiert wurde, ob die Fama auf eine konsensuell als Großtat (im Sinne von transepochale Errungenschaft à la Euklid) definierte Leistung rekurriert oder auf Leistungen im Sinne von beachtenswerter, aber nicht außergewöhnlicher Taten (die ihren Autoren dennoch meritokratische Anteile im Vorspiel zum Nachleben attestieren). Nicht zuletzt hängt Nachruhm davon ab, ob er im Nachleben des Rühmlings angefochten, prompt, verzögert, kolossal, zart und fein eingefädelt und etabliert wurde. Das Bezugnehmen auf die Verstorbenen hat also einerseits mit Qualität und Grad der Erwähnungswürdigkeit zu tun; anderseits damit, wer aus welcher Position mit welcher Reichweite in welchem Kontext und mit welcher Art von Beziehung zum Verstorbenen (familiär-individuell, netzwerkbedingt, disziplinär) den Bezug zu diesem herstellt und hält und gegebenenfalls immer wieder neu herstellt. Schließlich suggeriert Winnerling – und auch darin ist ihm gut zu folgen –, dass es nicht unwichtig ist, wie frühzeitig und mit welcher Vehemenz Dahingeschiedene in eine Referenzspirale eintreten. Denn solide Diskurskoordinaten können der Preisgabe an Lethe besser trotzen. Die Herstellung und vor allem Sicherung von Nachruhm im Sinne einer Einstellung auf Dauer jedenfalls sind das Ergebnis einer intentionalen, aber auch zufälligen Konstruktionsarbeit mit unterschiedlichen pfadabhängigen Bezügen.
Das Buch ist stupend, was das permanente Abwägen des Für und Widers der Plausibilitäten anbetrifft und den entsprechend vor und zurück, auch zur Seite und erst dann voranschreitenden Argumentationsmodus anbetrifft. Um die Fäden in der komplexen Darstellung nicht zu verlieren, erweisen sich kurze Kapitelverweise in Klammern auf bereits angesprochene oder erst noch kommende Zusammenhänge als sehr hilfreich. Das Buch ist stupend bezüglich des analytischen Anspruchs, „struktuelles Erinnern, Vergessen, Bezugnehmen“ auszuloten: anhand der unermüdlichen Besuche eines vielköpfigen Personenensembles, wobei selbst randständigen Figuren und Ereignissen nachgespürt wird, um ihre mögliche Funktion im Erinnerungskreislauf zu bemessen. Das genaue methodische Vorgehen produziert indes eine geballte Ladung von Tiefenbohrungen, Zitatenquell, Fußnoten und hermeneutischer Ausführlichkeit, es generiert damit eine Fülle und erklimmt gleich zu Beginn ein beachtliches Theorieniveau, was insbesondere den Einstieg in das Buch nicht leicht macht. Wenn sich die Qualität auch von wissenschaftlichen Büchern an ihrer Lesbarkeit mitbemisst, ist dies ein Kritikpunkt. Schließlich ist das Buch stupend aufgrund der Autoreflexion. Winnerling bespiegelt sich als jemand, der selbst im akademischen Metier reüssieren will und der nolens volens in der ambivalenten Praxis der Bezugnahmen auf lebende wie verstorbene Große Position beziehen muss.
Abschließend ein Tipp für potentielle Leserinnen und Leser: Die Hürde des zähflüssigen ersten Kapitels lässt sich umgehen, indem man mit dem Schlusskapitel beginnt („9. Zirkulation und Geschichte“). Dort bilanziert der Autor sein Vorgehen konzis und luzide. Rückblickend weiß sich der Rezensent in einer verzwickten Lage: Hat er das Buch besprochen, weil Rezensionen schlicht zum akademischen Betrieb dazugehören? Oder wollte er im Rahmen der eigenen Anstrengung, ein Auskommen im akademischen Metier zu finden, durch die kritische Würdigung des Werks vom Abglanz des potentiell erfolgreichen Autors profitieren? Wahrscheinlich kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Allerdings steht es um den potentiellen Abglanz eher schlecht, das macht die Studie auch deutlich, denn die Kontingenz jeglicher Bezugnahmen ist ungemein groß.