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Titel
Wissenschaft "in jedem Gewand"?. Von der "Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung" zur "Akademie für Raumforschung und Landesplanung" 1935 bis 1955


Autor(en)
Werner, Oliver
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jaromír Balcar, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Wie eine Reihe von Ministerien, Behörden und anderer öffentlicher Einrichtungen zuvor, hat jüngst auch die „Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft“ die Geschichte ihrer Vorläufer im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit wissenschaftlich untersuchen lassen. Zwar steht diese Art der Auftragsforschung seit einiger Zeit in der Kritik, doch zeigt die Studie von Oliver Werner über den Weg von der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumordnung“ (RAG) zur „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ (ARL) beispielhaft, wie fruchtbar das „Zertifizierungsunternehmen Zeitgeschichtsforschung“ sein kann.1

Deren Untersuchungszeitraum umfasst die „Übergangsphase“ von 1935, dem Jahr der Gründung der RAG, bis 1955, als „die Akademie durch eine angenommene Satzung, die kontinuierliche Aufnahme in die Finanzierung des Königsteiner Staatsabkommens sowie verstetigte formale Abläufe der Forschungsorganisation etabliert war“ (S. 15). Werner richtet den Fokus auf drei Bereiche: erstens Personen und Netzwerke, zweitens „die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens“ sowie drittens „die inhaltliche Entwicklung der Raumplanung vom Nationalsozialismus bis zur frühen Bundesrepublik“ (S. 15).

Wie in den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens, wies auch das Personal der westdeutschen Raum- und Landesplanung starke Kontinuitätslinien zur NS-Zeit auf. Im Zentrum dieses Teils der Untersuchung steht die „Generation von 1953“ – jene 36 Wissenschaftler und zwei Wissenschaftlerinnen, die im Frühjahr 1953 zu den ersten ordentlichen Mitgliedern der ARL wurden –, wobei Werner den Begriff der Generation weniger im Sinne von Alterskohorten verwendet, sondern vielmehr als „Identitätsbegriff“ und zugleich als „Erfahrungsbegriff“ (S. 18).

Der Schwerpunkt dieser Gründergeneration lag in den Bereichen Geographie, Wirtschaftswissenschaften, Agrarwissenschaften und Landesplanung, was unter anderem „der weiterwirkenden Schwerpunktsetzung der Reichsarbeitsgemeinschaft“ geschuldet war (S. 46). Rund zwei Drittel der 38 Gründungsmitglieder hatten der NSDAP angehört, wobei die meisten 1933 und 1937 eingetreten waren. Nach 1945 wirkten alte Seilschaften teilweise weiter (so etwa im Fall von Heinrich Hunke, der der NSDAP bereits seit 1923 angehört hatte). Zugleich betont Werner „eine substantielle Lernfähigkeit der Wissenschaftler“ (S. 55), beispielsweise bei Kurt Brüning, der den Übergang von der RAG zur ARL personifiziert.

Auch was Forschungsansätze, Denkmuster und Vorstellungen betrifft, stellt Werner „trotz eines Übermaßes an Kontinuität“ fest, „dass sich gerade im Vergleich mit der Reichsarbeitsgemeinschaft verschiedene Strömungen, Wissenschaftsansätze und Umgangsweisen innerhalb der Akademie sukzessive entfalteten“ (S. 59f.). Werner veranschaulicht „Adaptions- und Lernprozesse“ unter anderem am Beispiel der Soziologin Elisabeth Pfeil (S. 97). Hier wird das Potential für eine mentale Demokratisierung erkennbar, die ihrerseits ein wichtiger Bestandteil des Prozesses der „Fundamentalliberalisierung“ (Ulrich Herbert) war, den die westdeutsche Gesellschaft seit den 1950er-Jahren durchlief.

Dies gilt letztlich auch für die Forschungsinhalte: Aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes und des disziplinübergreifenden Wissenschaftsverständnisses wies die RAG durchaus „Innovationspotentiale“ auf, die jedoch bis 1945 „mit dem Postulat einer ‚politischen Wissenschaft‘ vergeudet“ wurden (S. 119). Nach Kriegsende konnten sie unter ganz anderen politischen Vorzeichen nutzbar gemacht werden.

Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg. Im „Dritten Reich“ wirkten die Raumforscher „wissenschaftlich flankierend und inhaltlich absichernd“ an den NS-Verbrechen mit (S. 141). Von daher sieht Werner in ihnen weniger „Vordenker der Vernichtung“ (Götz Aly / Susanne Heim), was die Sache kaum besser macht. Mit Kriegsbeginn richtete sich der Fokus der Raumplaner auf den Osten, wobei sich deren Tätigkeit keineswegs auf die Ausarbeitung des weithin bekannten „Generalplan Ost“ beschränkte. In unterschiedlichen Funktionszusammenhängen ging es ihnen um die „Stärkung und Festigung des deutschen Volkstums“ und die „Bildung neuen deutschen Volksbodens im deutschen Osten“ (S. 142), also um die Gewinnung von „Lebensraum“. Damit untrennbar verbunden war die Planung von Bevölkerungsverschiebungen gigantischen Ausmaßes – und letztlich Völkermord, einschließlich der „Endlösung der Judenfrage“.

Dennoch gelang es einer Kernmannschaft um Kurt Brüning, den Fortbestand der RAG über das Kriegsende hinaus zu sichern – wenn auch gleichsam in anderem Gewand. Der bestens vernetzte Brüning verstand es, den Briten wie den deutschen Verantwortlichen die Bedeutung seiner „Kreisbeschreibungen“ für den Wiederaufbau zu vermitteln. In der „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) waren die Instrumente der Raumforschung und Landesplanung abermals gefragt. Als Glücksfall erwies es sich, dass die RAG noch vor Kriegsende aus Berlin nach Göttingen verlegt worden war, denn so konnte Brüning eine wichtige Rolle bei der Formierung des Landes Niedersachsen spielen – ein Faktor, der nicht unwesentlich zum Erhalt der RAG in Gestalt der ARL beitrug.

Die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus überstanden die Planer – darunter auch hochbelastete Männer wie Konrad Meyer – weitgehend unbeschadet. Dazu trug ihre „Selbstentnazifizierung“ (S. 169) ebenso bei wie die in der deutschen akademischen Elite weitverbreitete „Persilscheinkultur“ (Carola Sachse). Ein schwerer zu überwindendes Hindernis bei der Etablierung der ARL stellten regionale Konflikte dar, die dem föderalen System der Bundesrepublik innewohnten. Der Streit zwischen der ARL und dem Godesberger Institut für Raumforschung sorgte dafür, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung den bundesweiten Anspruch der ARL als Rechtsnachfolgerin der RAG bis zum Ende der 1950er-Jahre zurückwies.

„Die hohe personelle und inhaltliche Kontinuität von der Reichsarbeitsgemeinschaft zur Akademie bei gleichzeitigen institutionellen Neuansätzen, die sich allerdings erst mit zeitlicher Verzögerung als innovatives Potential der Akademie entpuppten“, bezeichnet Werner als „Kern der Erkenntnisse“ seiner Studie (S. 207). Dabei hebt er „die Beständigkeit inhaltlicher Forschungsansätze, Denkmuster und Vorstellungen zwischen 1930 und 1960“ hervor (ebd.). Zugleich bildeten „kollektives Schweigen, inhaltliche Umdeutungen und die umfassende Selbstfreisprechung [...] eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Akademie“ (S. 210).

Aufs Ganze gesehen, überzeugt die Studie als gelungene Verbindung von Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte. Dass ihre Niederschrift unter den Bedingungen der Pandemie erfolgte, macht Werners Leistung nur noch beeindruckender. En passant räumt er mit allerlei Mythen auf, die sich um die Entstehung und Entwicklung der Raumforschung in Deutschland ranken. So weist Werner beispielsweise überzeugend vereinfachende (und konstruierte) Analogien zwischen der maßgeblich von Konrad Meyer vertretenen NS-Raumordnung und US-amerikanischen Vertretern des Regionalismus wie Lewis Mumford zurück.2

Kleinere Einwände erscheinen mir an zwei Stellen angebracht: Erstens beruht die Studie zwar auf einer überaus breiten Basis an Quellen und Literatur, doch fehlt bei der Analyse des „Dr. Hellmuth-Plans“ die nach wie vor grundlegende Arbeit von Wolfgang Istel3, wie überhaupt Werner die Landesplanung in den westdeutschen Bundesländern etwas stiefmütterlich bzw. nur aus der Perspektive der ARL behandelt.

Zweitens fand ich den Duktus der Studie, die sich bisweilen eher wie ein Abschlussbericht als wie ein Buch liest (v.a. in der Einleitung, aber z.B. auch S. 56, Anm. 47) dem Werk nicht angemessen. Dies mag an den Anforderungen des Auftraggebers bzw. des Beirats, der die Arbeit begleitet hat, gelegen haben. Damit macht sich die Studie allerdings unnötig klein, denn Werner hat weit mehr verfasst als einen Abschlussbericht.

Ärgerlich ist schließlich auch die kleine Type, in der der Verlag das Buch gesetzt hat, was seine Rezeption unnötig erschwert. Es bleibt zu hoffen, dass sich möglichst wenige Leserinnen und Leser davon abschrecken lassen, denn trotz der genannten kleineren Kritikpunkte ist die Studie von Oliver Werner absolut lesenswert.

Anmerkungen:
1 Frank Bajohr / Johannes Hürter, Auftragsforschung „NS-Belastung“. Bemerkungen zu einer Konjunktur, in: Frank Bajohr u.a. (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 221–233, hier S. 229.
2 So Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München 2005, S. 113.
3 Wolfgang Istel, Wurzeln und Entwicklung der Landesplanung in Bayern bis 1945, Bayreuth 1993 (Lehrstuhl Wirtschaftsgeographie und Regionalplanung, Arbeitsmaterialien zur Raumordnung und Raumplanung, Heft 124).

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