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Titel
Der Hybrid. Das 19. Jahrhundert und die Idee der Genossenschaft


Autor(en)
Raasch, Markus
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
123 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Notz, Berlin

Heute wird mitunter von einer Renaissance der Genossenschaften gesprochen. Spätestens durch die ins uferlose steigenden Mietpreise und die Berliner Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ sind gemeinwirtschaftlich arbeitende Wohnungsbaugenossenschaften wieder in die Diskussion gekommen. Zahlreiche aktuelle Veröffentlichungen beschäftigen sich mit dem Thema Vergesellschaften oder Genossenschaften. Die meisten beziehen sich auf die aktuelle Situation, ambitionierte Studien zur historischen Einordnung der Genossenschaften sind noch selten. Der Historiker Markus Raasch beschäftigt sich in seinem Buch mit der historischen Perspektive von Genossenschaften – nicht nur der Wohnungsgenossenschaften. In dem schmalen Band geht er ins 19. Jahrhundert zurück und arbeitet heraus, dass Genossenschaften keine neue Erfindung sind – die Idee ist mindestens 200 Jahre alt. Das Buch besteht aus acht Kapiteln. Die Schilderungen im ersten Kapitel des Buches „Was zu tun ist“ über die Hintergründe der Genossenschaftsgründung durch Friedrich-Wilhelm Raiffeisen und Eduard Pfeiffer könnten sich, samt der Originalzitate, auch auf die heutige Zeit beziehen. „Wie im digitalen Zeitalter verwandelte sich auch im 19. Jahrhundert die Welt, die Ähnlichkeiten zu den Herausforderungen der Gegenwart springen ins Auge“ (S. 9), so der Autor.

Markus Raasch Verdienst besteht darin, dass er keine Epoche der Geschichte auslässt. Frühe Genossenschaften betrachtet er als heuristisches Konstrukt, allerdings geht er unkritisch mit der „enormen Anschlussfähigkeit des Genossenschaftsgedankens“ um (S. 10), der angeblich keine Systemgrenzen kennt. Das resultiert daraus, dass er die politische Perspektive der sozialistischen Genossenschaften (zunächst) auf Genossenschaften in der DDR beschränkt. Leider, denn die Blütezeit der Genossenschaften der Weimarer Jahre ist vor allem den SozialistInnen zu verdanken, die eben nicht überall Anhänger fanden, sondern mit ihren Konzepten zur Vergesellschaftung auch Widerständen ausgesetzt waren und im Nazifaschismus nicht als „Gefolgschaftsidee“ gefeiert, sondern politisch verfolgt wurden. Stattdessen greift er kurz den Traum der 1960er-Jahre von der antikapitalistischen utopischen Gesellschaft auf, die damals geschaffen werden sollten, und bei der Genossenschaften eine Rolle spielen sollten. Danach kommt er wieder auf Raiffeisen und seine Mitstreiter zurück.

Im zweiten Kapitel skizziert Raasch die Veränderungen des 19. Jahrhunderts durch Urbanisierung und technische Errungenschaften, wie Eisenbahn, Telefon, Auto und vieles andere. Hier spricht er einerseits davon, dass der Wohlstand „grundsätzlich“ anstieg (S. 16) sieht aber auch die großen Herausforderungen, die die Industrialisierung für die unteren Schichten mit sich brachte. Auch Bauern und kleinere und mittlere Handwerker standen unter großem ökonomischem Druck, verschuldeten sich und gerieten an „skrupellose Geldverleiher, sogenannte Wucherer“ (S. 18). Die schwierige wirtschaftliche Lage führte schließlich zur vermehrten Gründung von Genossenschaften. Raasch schließt daraus, dass es „menschliche Nöte“ waren, die Ankerpunkte für die Genossenschaften lieferten.

Entsprechend der Verengung auf die bürgerliche Gesellschaft bezieht sich der Autor auch im Kapitel „Fortschrittsglaube und Fortschrittsskepsis“ im Wesentlichen auf den liberalen Fortschrittsgedanken, den bürgerlichen Bildungsbegriff und ebensolche Familienbeziehungen. Kein Wunder, dass er behauptet, dass Genossenschaften „Produkte wie Motoren sowohl im liberalen Denken wurzelnder Fortschrittsgläubigkeit als auch deren massiver Kritik waren“ (S. 25). Die frühen Genossenschaften bezeichnet er als personell eng mit der liberalen Bewegung verbunden. Er bezieht sich nun auf Aimé Huber, Eduard Pfeiffer, Wilhelm Haas und Hermann Schulze-Delitzsch, also auf konservative Kräfte, sowie auf Geistliche und strenggläubige Christen, die in der Genossenschaftsgeschichte eine große Rolle spielen. Erst im fünften Teil nimmt er Bezug auf die Frühsozialisten. Er stellt die Frage, ob nicht die nach 1850 massenhaft entstehenden Genossenschaften wesentliche Forderungen der Frühsozialisten aufgegriffen haben und ob frühe Genossenschaftsgründer wie Wilhelm Raiffeisen nicht „als die landwirtschaftlichen Sozialdemokraten“ (S. 58) bezeichnet werden können. Die Antwort gibt er selbst, wenn er behauptet, die frühsozialistischen Einflüsse seien für die moderne Genossenschaftsidee wichtig gewesen, aber dennoch standen die Genossenschaften in „direkter Gegnerschaft zum Sozialismus“ (S. 58). Und er versteigt sich in der Behauptung: „Den meisten Genossenschaftern war nichts so zuwider wie die Revolution (S. 59).“ Hier vergisst er sozialistische und anarchistische GründerInnen.1

Raasch billigt den „frühen Genossenschaften“ zwar „unterschiedliche Alternativen zum herrschenden kapitalistischen System“ zu, betont jedoch im gleichen Satz, dass sie sich „in ihrem Glauben an die Praxis und der konsequenten Ablehnung jeder revolutionären Umwälzung“ (S. 36) einig gewesen seien. Gerade in der Zeit des Umbruchs wollten sie Sicherheit und Orientierung an christlich-konservative Werte vermitteln. Gewalt und Klassenkampf sollte durch demokratische Selbstregierung und Selbstverwaltung, sprich: durch die Bildung von Genossenschaften, verhindert werden. Sie sollten dazu beitragen, die Gesellschaft als Ganzes gerechter zu gestalten und die feindlichen Lager der Besitzenden und Besitzlosen vereinen. Den Hybrid- oder Zwittercharakter verdeutlicht er daran, dass die Genossenschaftsidee ein enormes Integrationspotential besaß, eng mit dem Fortschrittsglauben und Liberalismus verbunden war, auf Demokratisierung und eine klassenlose Gesellschaft hoffte, jedoch maßgeblich von Christen getragen war und jegliche sozialistische Tendenzen ablehnte. Auch hier fehlt der Bezug zu den frühen Arbeitergenossenschaften und den anarchistischen Genossenschaften, die sich ebenfalls im 19. Jahrhundert gründeten.2

Interessant wird das Buch durch die Kapitel VI „(Trans-)Nationale Leidenschaft“ und VII „Deutscher Sonderweg“. Hier geht um die Rolle der Genossenschaftsbewegung während der NS-Zeit. In der Tat hat die Genossenschaftsgeschichte die kritische Reflexion dieser Epoche stark vernachlässigt. Aus vielen Veröffentlichungen wird die Zeit zwischen 1933 und 1945 ausgeklammert. Das vermeidet Raasch, obwohl er sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt. Hier wird das „Sowohl-als-Auch“ deutlich: Überzeugte, mit den Herrschenden vernetzte Nationalisten verbreiteten die Genossenschaftsidee und begründeten sie nationalistisch. Gleichzeitig hatte sie jedoch auch Vertreter, die dem Nationalismus keine Priorität beimaßen, sich international austauschten, die Genossenschaft gar als „Mittel internationaler Friedenspolitik“ (S. 85) betrachteten. Raaschs Behauptung, dass „keiner der frühen Genossenschafter an der Legitimität von nationaler Machtstaatspolitik und Krieg“ zweifelte, kann allerdings nicht unwidersprochen bleiben, weil er „das schwierige Verhältnis des Sozialismus zur Genossenschaft“ (S. 88) außer Acht lässt.3 Deutlich zeigt der Autor im siebten Kapitel auf, dass der Begriff „Volksgemeinschaft“, der im 19. Jahrhundert erfunden wurde, im nationalsozialistischen Sinne klassenübergreifend, leistungsorientiert und immer „rassisch“ bestimmt war, während Individualität im Gegensatz zu den Genossenschaftskonzepten als gefährlich erachtet wurde. So wurde der genossenschaftliche Kampf gegen die Selbstsucht und das „Wuchertum“ eben umgedeutet zum Kampf gegen Individualität. Auch die Judenfeindschaft der von Raasch in den Blick genommenen Genossenschaften, vor allem von Raiffeisen, der schon früh den „jüdischen Wucher“ anprangerte und Wuchertum und Judentum in eins setzte, führte dazu, dass Brücken zwischen Genossenschaften und Nationalsozialismus beschritten werden konnten. Führende Genossenschafter hatten diese schon früh hergestellt, dazu gehörte der Verbandsdirektor des Edeka-Verbandes, der schon 1932 den jüdischen Warenhäusern die Schuld am „Niedergang des Mittelstandes“ gab (S. 98). Raasch resümiert, dass sich die Genossenschaften nach 1933 schnell an den Nationalsozialismus angepasst hätten oder „gleichgeschaltet“ wurden, bis sie vollkommen in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert waren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen nahmen die Genossenschaften daher keine Sonderstellung im „Dritten Reich“ ein, so sein Fazit.

Im letzten Kapitel VIII „21.0" fragt der Autor, was uns die Genossenschaftsidee heute zu sagen hat. Anlässlich von Digitalisierung, Klimawandel und kulturellen wie sozialen und geschlechterpolitischen Veränderungen seien Genossenschaften nicht mehr das, was sie einmal waren. Der Beitritt erfolge eher aus rationalen, nüchternen Erwägungen, denn aus ideellen Motiven, zudem hätten die „einst identitätsbestimmenden christlichen Werte jede Leitfunktion eingebüßt“ (S. 104). Das ist in der Tat schwierig, wenn der Autor ohne Differenzierungen von „den Genossenschaften“ spricht. Das „Prinzip Genossenschaft“ ist vielschichtiger. Das beweisen viele Genossenschaften, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind und heute noch bestehen, wie die Wintergenossenschaft Mayschoss-Altenahr eG, gegr. 1868; aber auch Neugründungen, wie die moderne Genova Wohngenossenschaft Vauban eG in Freiburg, die aus engagierten alten und jungen Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Lebensentwürfe besteht, die solidarisch und umweltschonend zusammenleben. Das Genossenschaftswesen mit Leben zu erfüllen ist das Gebot der Gegenwart und der Zukunft.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu Gisela Notz, Genossenschaften. Geschichte, Aktualität und Renaissance, Stuttgart 2021, S. 55–81.
2 In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts war es zu einer ersten Welle von Gründungen von Produktivgenossenschaften durch Gewerkschaften und Sozialdemokraten gekommen. Die Forderung nach Einrichtung von Produktivgenossenschaften fand nach einigen Auseinandersetzungen Eingang in das „Gothaer Programm“ der vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) von 1875. Zu den Anarchistischen Genossenschaften siehe beispielsweise Gustav Landauer: Ein Weg zur Befreiung der Arbeiter-Klasse, Berlin 1895. Dass Landauer es nicht bei der Theorie beließ, beweist sein Engagement für die Arbeiter-Genossenschaft „Befreiung“, gegründet 1895 in Berlin. Ein Auszug aus deren Statuten befindet sich im Anhang (S. 29–30).
3 Seit 1995 erinnert die Historiker-Genossenschaft eG mit Sitz in Hamburg durch das Verlegen von Stolpersteinen an im NS verfolgte Genossenschaftler:innen. https://www.genossenschaftsverband.de/newsroom/magazin-genial/themen/aus-der-reihe/stolpersteine-fuer-verfolgte-genossenschaftler-innen/ (25.10.2022).

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