S. Schultze: Luftfahrtforschung und -ausbildung in der DDR

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Title
Luftfahrtforschung und -ausbildung in der DDR. Hightechkaderschmiede oder "Gartenmöbelforschung"? Die Fakultät für Leichtbau / Luftfahrtwesen der TH Dresden


Author(s)
Schultze, Sven
Published
Hannover 2008: Ibidem Verlag
Extent
151 S.
Price
€ 24,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Rainer Karlsch, Berlin

Seit 1990 sind eine ganze Reihe von lesenswerten Studien zur kurzen Geschichte der zivilen Luftfahrtindustrie in der DDR publiziert worden.1 Im Mittelpunkt standen dabei Fragen nach dem Modernisierungskonzept der SED-Führung, den verkehrspolitischen Planungen, der Rolle der aus der Sowjetunion zurückgekehrten Luftfahrtingenieure und ihren technischen Leitbildern, der technischen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des im Aufbau befindlichen Industriezweiges und nach den Motiven für den abrupten Abbruch des Flugzeugbaus im Frühjahr 1961. Die Luftfahrtindustrie zählt daher zu den von Technik-, Wirtschafts- und Zeithistorikern am besten untersuchten Industriezweigen der DDR überhaupt. Angesichts der Vielzahl der Publikationen zum Thema erstaunt es, dass die universitäre Luftfahrtforschung bisher kaum untersucht wurde. Diese Forschungslücke versucht Sven Schultze mit seiner Studie, hervorgegangen aus seiner Magisterarbeit am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Potsdam, zu schließen.

In den ersten zwei Kapiteln beschreibt der Autor die Ausgangslage und referiert dazu die einschlägige Literatur. Seiner Grundthese, dass die alten technischen Eliten die entscheidende Rolle bei der Konzipierung und beim Aufbau der Luftfahrtindustrie spielten, ist zuzustimmen. Im Mittelpunkt der Kapitel 3 und 4 steht die akademische Luftfahrtforschung an der Universität Rostock sowie vor allem an der TH Dresden. Dazu wird viel Neues geboten.

Die Mitte 1952 gegründete Fakultät für Luftfahrtwesen existierte in Rostock nur wenige Monate. Bereits Anfang 1953 leitete das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen ihre Verlegung nach Dresden in die Wege. Der Autor verweist zu Recht darauf, dass der Beschluss zur Verlegung bereits Monate vor der Politik des „Neuen Kurses“ fiel und daher nicht im Zusammenhang mit den veränderten wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzungen nach dem 17. Juni 1953 gestanden haben kann. Der Standortwechsel, so argumentiert er überzeugend, war vor allem der beabsichtigten Konzentration des Flugzeugbaus im Raum Dresden und Leipzig geschuldet. Inwiefern es auch sowjetischen Interessen entsprach, die Luftfahrtforschung in Dresden anzusiedeln, bleibt fraglich. Der Autor vermutet dies, ohne dafür schlüssige Belege anzubieten.

An der TH Dresden hatte die Luftfahrtforschung einen denkbar schlechten Start. Schultze zitiert dazu aus einem Papier des Rektorats vom August 1953. Demnach stand die neue Fachrichtung unmittelbar vor ihrem Aus. Die Regierung war unter dem Eindruck des Volksaufstandes vom Juni zu dem Schluss gelangt, dass sich eine Flugzeugindustrie in der DDR nicht lohne. Trotzdem wurde der Aufbau einer „Hochschule für Transportmaschinenwesen“, dahinter verbarg sich die aus Rostock verlagerte Fakultät für Luftfahrtforschung, fortgesetzt und 1954 dann auch wieder offiziell vom Aufbau einer Luftfahrindustrie gesprochen.

Akribisch beschreibt Schultze den Ausbau der Luftfahrtforschung an der TH Dresden, würdigt die Protagonisten und beteiligten Institute und diskutiert das Spannungsverhältnis zwischen „alter“ und „neuer“ Intelligenz. Gut dargestellt werden die fakultätseigene Entwicklung von Luftfahrzeugen und Erprobungsmustern, die Ingenieurflieger-Ausbildung und die Karriere des hervorragenden Luftfahrttechnikers Brunolf Baade. Dessen eigenwilliger Charakter soll sogar ausschlaggebend für den Abbruch der Luftfahrtforschung im Frühjahr 1961 gewesen sein, wie der Autor in Anlehnung an Holger Lorenz meint. Diese These bleibt kritisch zu hinterfragen.

Ein kurzer, wenig ergiebiger Abschnitt ist der Rolle des MfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrie gewidmet. Besonders gelungen ist hingegen der Abschnitt über die Schließung der Fakultät für Luftfahrtwesen, zumal insbesondere die damit verbundenen Enttäuschungen und geplatzten Zukunftsträume bei den Mitarbeitern und Studenten thematisiert werden. Deutlicher als andere Autoren benennt Schultze den entscheidenden Grund für das Ende der Luftfahrtindustrie und -forschung: der einzige infrage kommende Markt für Passagierflugzeuge aus der DDR war die Sowjetunion. Als sich die sowjetische Partei- und Staatsführung entschloss, fortan einen Teil der militärisch genutzten Kapazitäten für den zivilen Flugzeugbau einzusetzen, zumal neue Langstreckenraketen große Bomberflotten obsolet machten, gab es für die DDR-Flugzeugindustrie keinen Markt mehr. Die strukturpolitische Entscheidung zum Abbruch der Entwicklung war daher folgerichtig. Wenigstens gelang es, die Abwicklung der Branche mit erstaunlich geringen sozialen Verwerfungen zu bewältigen, und das Potential an Fachkräften dem Maschinenbau zugute kommen zu lassen. Von „Gartenmöbelforschung“, wie im Untertitel des Buches geschrieben, kann also ernsthaft keine Rede sein.

Der Aufbau einer Flugzeugindustrie scheiterte nicht in erster Linie an der Innovationsschwäche der DDR. So verweist Schultze unter anderem darauf, dass die praxisorientierte Ausbildung der angehenden Luftfahrtingenieure und -techniker in Dresden keinen internationalen Vergleich zu scheuen brauchte. Gescheitert ist die Branche vor allem an der Unfähigkeit des Staates als Unternehmer. Ohne ausreichende Einschätzung der Absatzchancen, von Verträgen ganz zu schweigen, wurde der Versuch unternommen, eine High Tech Industrie und Forschung aufzubauen. In gewisser Weise dachte die SED-Führung noch in den Kategorien des Deutschen Reiches, mit seinen großen Techniktraditionen, ohne die begrenzten eigenen Ressourcen zu bedenken. Um es mit Blick auf gegenwärtige Debatten auszudrücken: Auch im Fall der zivilen Flugzeugindustrie war der Staat ein „schlechter Unternehmer“.

Einige Formulierungen sind dem Autor gründlich misslungen. So ist von der „umwürgten DDR-Planwirtschaft“, einer „psalmodierend entgegen bellenden Fakultätsparteileitung“ (S. 16), einem „Dorn im Auge der SED“ (S. 30), „tragenden Werken“ der Flugzeugindustrie (S. 39) und einer „Studentenpopulation“ (S. 50), sowie einem Wissenschaftler als „Zentralgestirn der Fakultät“ (S. 97) die Rede. Ein Lektorat hätte dem Text gut getan. Leider scheuen heutzutage selbst renommierte Verlage, von kleineren Wissenschaftsverlagen gar nicht zu reden, den dafür nötigen Aufwand.
Von diesen Monita abgesehen hat Sven Schultze mit seiner Spezialstudie die Technik,- Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte der DDR bereichert und die Leistungen der Luftfahrtforschung und -ausbildung an der TH Dresden sachlich verortet.

Anmerkung:
1 Vgl. insbesondere: Jürgen Michels / Jochen Werner, (Hrsg.), Luftfahrt Ost 1945-1990, Bonn 1994; Gerhard Barkleit / Heinz Hartlepp, Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952-1961, Dresden 1995; Burghard Ciesla, Die Transferfalle. Zum DDR-Flugzeugbau in den fünfziger Jahren, in: Dieter Hoffmann / Kristie Macrakis (Hrsg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997, S. 193-221; Hans-Luidger Dienel, „Das wahre Wirtschaftswunder“ – Flugzeugproduktion, Fluggesellschaften und innerdeutscher Flugverkehr im Ost-West-Vergleich, in: Johannes Bähr / Dietmar Petzina (Hrsg.), Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Vergleichende Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945-1990, Berlin 1999, S. 341-371; Lutz Budraß / Dag Krienen / Stefan Prott, Nicht nur Spezialisten. Das Humankapital der deutschen Flugzeugindustrie in der Industrie- und Standortpolitik der Nachkriegszeit, in: Lothar Baar / Dietmar Petzina (Hrsg.), Deutsch-deutsche Wirtschaft: Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich, St. Katharinen 1999, S. 466-529; Dag Krienen / Stefan Prott, Zum Verhältnis von Demontage, Konversion und Arbeitsmarkt in den Verdichtungsräumen des Flugzeugbaus in der SBZ 1945-1950, in: Rainer Karlsch / Jochen Laufer (Hrsg.), Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944-1990. Hintergründe, Ziele und Wirkungen, Berlin 2002, S. 275-329; Holger Lorenz, Der Passagier-Jet „152“. Ulbrichts Traum vom „Überflügeln“ des Westens, Marienberg 2004.

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