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Title
Woven into the Urban Fabric. Cloth Manufacture and Economic Development in the Flemish West-Quarter (1300-1600)


Author(s)
van der Meulen, Jim
Series
Studies in European Urban History (1100–1800) (54)
Published
Turnhout 2021: Brepols Publishers
Extent
251 S.
Price
€ 84,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Matthias Aaron Wesseling, Historisches Institut, RWTH Aachen University

Jim van der Meulen beschäftigt sich mit dem in der Geschichtswissenschaft bislang wenig beachteten flämischen Westkwartier (Westviertel) südlich der Stadt Ypern. Das Westviertel wuchs im Spätmittelalter zu einem Zentrum der Kleidungsproduktion und verzeichnete, allen voran die Gemeinde Nieuwkerke, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen beispiellosen Aufschwung. Dieser wandelte sich in der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts in einen ebenso schnellen wie abrupten Niedergang, sodass Nieuwkerke und die umliegenden Orte wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwanden – bis heute.

Anhand dieser Fallstudie versucht van der Meulen nachzuzeichnen, was den wirtschaftlichen Aufschwung einer Region bedingte beziehungsweise stark begünstigte und welche Faktoren für dessen Niedergang verantwortlich sein könnten. Es werden dabei mehrere Konzepte der Geschichtswissenschaft zu Protoindustrialisierung, vormoderner Wirtschaftsweise in Stadt und Land sowie „medieval offshoring“ (S. 13) in den Blick genommen und angewandt.1 Darüber hinaus möchte die Studie Faktoren herausarbeiten, die den wirtschaftlichen Fortschritt im vorindustriellen Europa antrieben.

Van der Meulen startet seine Analyse (Kapitel 1), indem er sich mit den demographischen, geographischen und agrarsystematischen Grundlagen des Aufschwunges beschäftigt. Das Agrarsystem der Region entwickelte sich zum Ende des Untersuchungszeitraums von einer Mischung aus größeren und kleineren Besitztümern hin zu größtenteils Kleinbesitz. Obwohl letzteres einen Indikator für protoindustriellen Kleinbesitzt darstellt, ist es für van der Meulen wahrscheinlicher, dass Produktion und Agrarwirtschaft getrennt waren und die Tuchherstellung nicht als Nebentätigkeit und Zuverdienst für die lokale Bevölkerung diente: Denn der Höhepunkt des Outputs von Kleidung aus der Region überschnitt sich häufig mit den in der Landwirtschaft arbeitsreichsten Jahreszeiten. Des Weiteren spräche der Aufwand, der bei der Herstellung des Tuches von vornehmlich mittlerer Qualität vonnöten war, gegen eine solche protoindustrielle „dual economy“ (S. 52), da er innerhalb der Familien zu viele Arbeitskräfte von den landwirtschaftlichen Arbeiten abgezogen hätte. Zudem ließen die Tendenz hin zu kleinteiligen Besitzverhältnissen in Kombination mit einer sprunghaften Bevölkerungsvermehrung darauf schließen, dass ein großer Teil der Bevölkerung letztlich sehr wenig bis kein Land besaß und somit ihre Arbeitskraft für die Herstellung von Kleidung frei wurde.

Das träfe jedoch nicht auf die vorhergehenden weniger aufwendigen und schwierigen Arbeitsschritte (z.B. das Spinnen und Walken) zu (Kapitel 2). Diese Aufgaben, die einen Löwenanteil der Herstellung darstellten, wurden wahrscheinlich größtenteils in Nebentätigkeit ausgeführt, vermutlich meistens von Frauen. Dies vermutet van der Meulen im zweiten Kapitel, in welchem er sich der Organisation der Tuchproduktion widmet. Über dem Kapitel steht die Frage, inwiefern die Aussage Henri Pirennes zutrifft, dass die Verhältnisse im Westviertel als ein Vorbote der späteren industriellen Fabrikarbeit angesehen werden können.2

Der Autor beschreibt, dass im Westviertel bereits ein Verlagswesen vorherrschend war: Die Handwerker kauften ihre Ressourcen nicht selbst an, sondern verkauften nur ihre Arbeitskraft. Die Produktionsmittel hatte, auch wenn nicht normativ geregelt, in der Praxis eine Gruppe lokaler Unternehmer (sog. drapiers, S. 25) inne, die in Korporationen, sogenannten draperies (S. 69), organisiert waren. Generell war, so van der Meulen, die Herstellung dezentral organisiert, obwohl sich auch „wool warehouses“ und Kardierhöfe (S. 86f.) nachweisen lassen, in denen mehrere Handwerker an einem Ort arbeiteten.

Insgesamt profitierten die Unternehmer, laut Autor, von den lockeren Regelungen in Nieuwkerke, obwohl den Draperien im weiteren Verlauf daran gelegen gewesen sei, eine vertikale Integration mehrerer Produktionsschritte in einer Hand durch Statuten zu verhindern. Protoindustrielle Zustände ließen sich letztlich vor allem in den vorbereitenden Arbeitsschritten vermuten, nur gibt es über diese Produktionsschritte kaum Quellen, sodass sich eine zentral organisierte und marktorientierte Produktion in Nebentätigkeit nicht nachweisen ließe. In den späteren Arbeitsschritten handele es sich eher um eine städtische und handwerkliche Wirtschaftsweise, auch wenn sich Spuren industrieller Verhältnisse finden lassen.

Die Unternehmer, also die Akteure hinter dem wirtschaftlichen Aufschwung, stehen im dritten Kapitel im Fokus. Dort gelingt es dem Autor, die Charakteristika einer herausgehobenen Gesellschaftsgruppe herauszuarbeiten, die als Unternehmer in der Kleidungsproduktion und darüber hinaus im Handel tätig waren. In den Quellen werden sie als marchans drappiers (bei van der Meulen „merchant-drapers“, siehe S. 118) bezeichnet. Darüber hinaus geht der Autor in diesem Kapitel den Kommunikations- und Handelswegen der Unternehmer und Händler des Westviertels nach.

Der Großteil der Produktion aus Nieuwkerke wurde über mehrere größere Städte abgewickelt, wie Ypern und Brügge sowie, mit steigender Wichtigkeit, Antwerpen. Auf diesen Märkten für Kleidung und Stoffe verschiedenster Arten und Qualitäten traten die „merchant-drapers“ in direkten Kontakt mit internationalen spanischen und deutschen Abnehmern. Der Autor kommt hierbei zu dem Schluss, dass sie offizielle Kanäle, wie Messen und Tuchhallen, nutzten. Diese offiziellen Kanäle hätten gerade in Kombination mit inoffiziellen und persönlichen Netzwerken den Erfolg des Westviertels ausgemacht. Während ersteres den Unternehmern gewisse Sicherheiten geboten habe, brachte letzteres eine bessere Handelsposition mit sich und hatte den Vorteil, ohne Mittelspersonen die Produktion besser dem Bedarf anpassen zu können. In den größeren Städten seien Makler entscheidend beim Aufbau dieser inoffiziellen Netzwerke, wobei sie gleichzeitig eine offizielle Institution der Städte waren.

Van der Meulen nimmt sowohl stadtgeschichtliche, wie auch ländliche Perspektiven ein, was beim zwischen beiden Kategorien stehenden Nieuwkerke sehr interessant ist. Es gelingt gut, die städtischen Ambitionen der ländlichen Gemeinde herauszuarbeiten (Kapitel 4), sei es im wirtschaftlichen Bereich, mit dem Versuch einen Markttag zu etablieren und dem Errichten einer großen Tuchhalle, oder im kulturellen Bereich mit einer „Chamber of Rethoric“ (S. 148f.) und einer Schützengilde. Handwerksbruderschaften gab es nicht, dafür allerdings die bereits erwähnten Draperien, die am städtischen Ideal des bonum commune (S. 171) orientiert waren.

Am Ende dieses Kapitels, steht das Resümee, dass Nieuwkerke den Status einer Stadt offiziell nie erreicht habe. Dennoch zieht der Autor in diesem wie im vorigen Kapitel die in der Forschung bereits relativierte strikte Trennung zwischen Stadt und Land in Zweifel. Die Grenzen zwischen beiden Sphären verschwimmen, sowohl in Bezug auf die Institutionen des Ortes Nieuwkerke, als auch auf dessen Einwohner, die entweder zwischen Stadt und Land lebten oder aber enge wirtschaftliche und personelle Netzwerke zwischen beiden spannten. Dies drücke sich darin aus, dass viele Unternehmer aus dem Westviertel als Pfahlbürger (buitenpoorters, S. 152) in den größeren Städten zwar steuerpflichtig gewesen seien, jedoch mit diesem Status die juristischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Städte geschickt ausnutzten.

Zum Schluss (Kapitel 5) kommt van der Meulen auf den Aspekt des gemeinschaftlichen Handelns („collective action“, S. 175) zu sprechen, um zu zeigen, inwiefern dies der Ursprung des Aufschwungs gewesen sein könnte. Gleichzeit nimmt er Bezug auf das zyklische Model Bas van Bavels3, welches in einem weiteren Schritt in der Prosperität die Ursache sozialer Polarisierung sieht, welche wiederum zum Niedergang führe. Zur Überprüfung dieser Modelle verfolgt der Autor die Entwicklung Niewkerkes nochmals chronologisch und unterteilt sie in drei Phasen: Eine Startphase in der sich die ländliche Gemeinde gegen die regulativen Eingriffe der niedergehenden Stadt Ypern durchsetzte. Danach folgten die wirtschaftliche Hochphase und schließlich der rapide Niedergang. Der Autor kann einen Zusammenhang zwischen kooperativem Handeln (z.B. die Durchsetzung gegenüber Ypern oder das gemeinsame Anmieten von Tuchhallen in größeren Städten) und der wirtschaftlichen Hochphase des Westviertels feststellen.

Besonders interessant ist die Beobachtung bei Ypern und später Nieuwkerke, dass mangelnder Zusammenhalt nicht der einzige Faktor des Niedergangs war, sondern Krisen, wie z.B. der Niedergang der Messen in der Champagne oder Krieg, vermutlich die Hauptgründe waren. Jedoch ließe sich der schwindende Zusammenhalt jeweils zeitlich vor den Krisen datieren. Auf Grundlage dessen kommt van der Meulen zu dem überzeugenden Schluss, dass zunehmende soziale Ungleichheit und Krisen eine Abwärtsspirale bildeten und sich gegenseitig befeuerten.

In Ypern stellt der Autor paradoxerweise fest, dass sich in Opposition zur reicheren, führenden Händlerschicht der Stadt Handwerksgilden bildeten und diese regulierte Löhne durchsetzten, was in einer Hinwendung der Unternehmer zu billigeren ländlichen Arbeitskräften mündete. „Collective action“ habe hier also vordergründig zum Niedergang geführt. Van der Meulen führt dies auf eine so wahrgenommene Polarisierung zwischen Handwerkern und Händlern zurück. Worin der genaue Unterschied zwischen einer wirklichen und einer nur wahrgenommenen Polarisierung besteht, wird nicht ganz deutlich.

In seinem Fazit geht der Autor nochmal auf den Vergleich des spätmittelalterlichen flämischen Westviertels mit modernen „offshoring“ ein und sieht durchaus Parallelen, da die Entwicklung des Westviertels größtenteils auf geringere Regulierung zurückzuführen sei. Damit trägt es deutliche Parallelen zum „offshoring“, nur nicht auf dem gleichen globalen und industriellen Niveau. Abschließend stellt der Autor die berechtigte Frage, ob die Suche nach protoindustriellen Verhältnissen nicht zu teleologisch ist und ob eine industrielle Vorgehensweise in der spätmittelalterlichen Gesellschaft überhaupt sinnvoll gewesen wäre. Beides stellt sein Fallbeispiel in Frage, denn in der Hochzeit Nieuwkerkes sind die meisten regulativen sowie korporativen und die wenigsten „industriellen“ Elemente zu erkennen.

Gerade in den ersten beiden Kapiteln zeigt sich an manchen Stellen das Problem, dass aufgrund der Quellenlage in Ypern und dem Westviertel – ein großer Teil ging im ersten Weltkrieg verloren – vieles im Wagen bleiben muss. Allerdings spricht der Autor dieses Problem an und macht immer deutlich, wenn eine Vermutung nicht von den Quellen gedeckt werden kann und sonst greift der Autor auf eine große Anzahl an Quellen zurück. Besonders stark sind Kapitel drei bis sechs, in denen es sehr gut gelingt, die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie Kommunikations- und Handelswege im Westviertel im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu untersuchen. Anhand dieser Fallstudie vermag es van der Meulen mehrere in der Forschung etablierte Modelle zu vormodernen Wirtschaften zu überprüfen, anzuwenden und darüber hinaus zu erweitern und zu schärfen, gerade was die Theorien zu „collective action“ und zur Protoindustrie betrifft.

Anmerkungen:
1 Einige Theorien werden zusammenfassend in der Einleitung auf S. 17–23 genannt. Zu nennen sind insbesondere Henri Pirenne und für die Forschung der letzten Jahre Bas van Bavel. Hierfür siehe weiter unten.
2 Henri Pirenne, Une crise industrielle au XVIe siècle: la draperie urbaine et la „nouvelle draperie“ en Flandre, in: Bulletin de l’Académie royale de Belgique, Classe de Lettres 5 (1905), S. 489–521, hier S. 504–514; Henri Pirenne, Note sur la fabrication des tapisseries en Flandre au XVIe siècle. Contribution à l’histoire de l’industrie capitaliste, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4 (1906), S. 325–339, hier S. 334–336. Bei van der Meulen siehe S. 65, 102f. und 105.
3 Bas van Bavel, The Invisible Hand? How Market Economies Have Emerged and Declined since AD 500, S. 2 und 19f. Siehe bei van der Meulen auf S. 176f. und 205–207.

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