Die Geschichte der sexuellen Gewalt an Kindern im deutschsprachigen Raum gerät zunehmend in den Fokus der Zeitgeschichte. Schwerpunkte der (interdisziplinären) Forschung lagen bisher auf „Tabubrüchen“ im Diskurs um Pädophilie und sexueller Gewalt im links-alternativen Milieu der 1970er-/1980er-Jahre und der Reichweite pädosexuellenfreundlicher Argumente in verschiedenen Disziplinen und Organisationen.1 Auch gibt es Einzelstudien zu Institutionen, in denen sexuelle Gewalt an Kindern bekannt geworden ist, wie die evangelische und katholische Kirche.2 Sonja Matter hat nun eine umfassende und bemerkenswerte Studie vorgelegt, die mit ihrem Untersuchungszeitraum 1950–1990 nicht nur langfristigeren gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit sexueller Gewalt an Kindern nachzuzeichnen vermag. Es gelingt ihr auch, wissenschaftliche, gesellschaftliche und rechtliche Diskursstränge und Praxen miteinander zu verweben und damit die Geschichte der sexuellen Gewalt in breitere Kontexte zu integrieren. Matter wählt als Zugriff das rechtliche Instrument des sexuellen Schutzalters und untersucht für Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie dieses ausgestaltet und damit sowohl generations- als auch geschlechterspezifische Machtverhältnisse verhandelt und manifestiert wurden. Das Schutzalter sei dabei immer geprägt gewesen von einem Spannungsverhältnis: Es funktionierte gleichzeitig schützend und disziplinierend – vor allem, das zeigt Matter mit einer konsequenten geschlechtergeschichtlichen Perspektive eindrücklich, in Bezug auf die normativen Geschlechterzuschreibungen an Mädchen und Jungen.
Matter möchte bei den Aushandlungsprozessen um das Schutzalter sowohl internationale, nationale und lokale Einflüsse berücksichtigen: Sie interessiert sich für die Internationalisierung der Kinderrechte, für die entsprechenden wissenschaftlichen Diskurse im deutschsprachigen Raum und für die gesellschaftspolitischen Debatten innerhalb Österreichs. Diese Diskurse setzt sie in Zusammenhang mit der strafrechtlichen Praxis auf lokaler Ebene, um – mit allen von Matter klar reflektierten quelleninhärenten Einschränkungen – auch diejenigen Akteur:innen in den Blick zu bekommen, die „Gewalt und Begehren jeweils am eigenen Leib erfahren und gedeutet haben“. (S. 17) Der Versuch, die „wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zu sexueller Mündigkeit“ (S. 21) sowie die rechtliche Praxis vor Ort miteinander in Verbindung zu setzen, ist Matters großes Verdienst – und gleichzeitig Herausforderung für die Studie: Diesen unterschiedlichen Feldern in ihren je eigenen Logiken und historischen Entwicklungen und vor allem in ihren Wechselwirkungen gerecht zu werden, ist komplex. Es bleiben manche lose Enden und mitunter überrascht, wie unabhängig voneinander die Diskurse dann doch verliefen – aber auch das ist eine wichtige Erkenntnis der Studie.
Matter gliedert die Arbeit in drei Teile. Im ersten Teil befasst sie sich mit der Ausgestaltung des sexuellen Schutzalters von Kindern in Österreich nach 1945. Sie zeichnet zunächst nach, wie die junge Republik dabei zum einen durch die Traditionen des Strafrechts von 1852 geprägt wurde, zum anderen von den Versuchen aus der Zwischenkriegszeit, über den Völkerbund internationale Kinderrechte zu etablieren. Diese waren für die Nationalstaaten nicht bindend, wurden aber, so Matter, zum Maßstab, wenn es darum ging, sich als besonders zivilisiert, modern und humanitär darzustellen. Hinzu kam ein wissenschaftlich geführter Diskurs über die Kriegsheimkehrer, die durch ihre Erfahrungen im Verdacht standen, kriminell auffälliger zu sein als ihre Mitbürger, insbesondere bei Sexualdelikten. Während die Wissenschaftler vor allem über die Ursachen dieses Zusammenhangs stritten, forderten politische und zivilgesellschaftliche Initiativen vom Staat einen härteren Umgang mit Sexualverbrechern. Die Debatte um den Umgang mit Sexualstraftätern war eng verknüpft mit der Sorge um den Zustand der gesellschaftlichen „Sittlichkeit“. Die Kinder galten – auch vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus – als die Unschuldigen, „die Hoffnungsträger und -trägerinnen für die Zukunft“ des österreichischen Staates (S. 106) – und damit als besonders schutzbedürftig.
Im zweiten Teil befasst sich Matter mit den gerichtlichen Aushandlungsprozessen von sexueller Gewalt an Kindern am Beispiel von Strafgerichtsprozessen in St. Pölten zwischen 1950 und 1970. Vorweg stellt sie einen quantitativen Überblick über die 200 überlieferten und ausgewerteten Fälle nach Merkmalen wie Geschlecht, Klasse, Alter und leitet daraus Fragestellungen für die qualitative Analyse ab. Anschließend verwebt sie anhand dreier thematischer Schwerpunkte die jeweiligen zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurse, die rechtlichen Normen und die tatsächliche Rechtspraxis in den einzelnen Fallakten. Die Gleichzeitigkeit von Schutz- und Disziplinierungsfunktion wird beispielhaft deutlich an Gerichtsakten zu Fällen, in denen die betroffenen Mädchen mit 13 Jahren nur knapp unter das Schutzalter fielen und angaben, im Rahmen von Beziehungen freiwillig sexuelle Kontakte eingegangen zu sein. Bei diesen Fällen prüften die Richter das Verhalten der Mädchen genau und fragten Wissensstände und sexuelle Vorerfahrungen ab. „Das ‚Entgegenkommen des Mädchens‘ oder den Umstand, ‚daß das Mädchen mit den unsittlichen Handlungen einverstanden war‘“ (S. 181), bewerteten die Richter strafmildernd, obwohl sich eigentlich die Lehrmeinung durchgesetzt hatte, dass „die Schutzgrenze von 14 Jahren absolut“, also unabhängig vom Verhalten der Betroffenen gelten solle (S. 169). Im Verlauf des Untersuchungszeitraums beobachtet Matter bei den Gerichten eine liberalere Einstellung gegenüber „Jugendsexualität“, die mit wissenschaftlichen und medialen Diskursen über einen Wandel in der körperlichen und psychischen Reifung sowie Sexualität von Jugendlichen korrespondierte.
Um zu beurteilen, wie schwerwiegend ein Fall von sexueller Gewalt war, und das Strafmaß entsprechend festzulegen, bezogen sich die Richter auf „alltagspraktisch[e] und wissenschaftlich[e] Deutungsrahmen“ über normales, abweichendes und krankes Verhalten (S. 218), das für sie verknüpft war mit der Frage nach möglicher Therapierbarkeit, Wiederholungsgefahr oder Sicherungsverwahrung. Der Blick der Richter ins „‚Innere‘ der Opfer und Täter“ war aber, so resümiert Matter, über den Untersuchungszeitraum von Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten geprägt – auch, weil die Deutungsangebote seitens der Wissenschaft nicht eindeutig waren (S. 257).
Im dritten und letzten Teil ihrer Studie widmet sich Matter den übergeordneten Diskursen um die Politisierung des sexuellen Schutzalters zwischen 1950 und 1990 und untersucht dafür – nicht ohne Wiederholungen – die Internationalisierung der Kinderrechte nach 1945 sowie die verschiedenen Reformbemühungen des Sexualstrafrechts in Österreich. Sie zeigt hier zum einen, „dass Transfers zwischen unterschiedlichen Rechtsgebieten – dem internationalen Recht und dem nationalen Strafrecht – nur punktuell oder mit zeitlichen Verzögerungen stattfanden“. (S. 285) Zum anderen benennt sie die Grenzen in der wechselseitigen Beeinflussung von politischen sowie wissenschaftlichen Positionen zum Schutzalter und seiner rechtlichen Ausgestaltung. Sie zeichnet die nationalen und westeuropäischen, weniger die internationalen Debatten um Pädosexualität in den 1960er- und 1970er-Jahren nach, sowie die damit eng verbundenen Diskurse um „sexuelle Befreiung“ und „kindliche Sexualität“. Die vermeintlich wissenschaftlichen Positionen, die behaupteten, sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern seien harm- und folgenlos und sollten damit strafrechtlich nicht belangt werden, erfuhren in den Gerichtsakten keine Resonanz.
Einen Paradigmenwechsel im Umgang mit sexueller Gewalt an Kindern macht Matter für Österreich in den 1980er-Jahren aus. Sie führt ihn zurück auf das Engagement der autonomen Frauenbewegung, die die Erfahrungen von Betroffenen in den Mittelpunkt gerückt und sexuelle Gewalt an Kindern im Kontext der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Generationen verortetet hätte, sowie auf den Ausbau der internationalen Kinderrechte: Die Kinderrechtskonvention von 1989 umfasste explizit den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt.
Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen, insbesondere sexualwissenschaftlichen Diskursen über die Ursachen und Folgen von sexueller Gewalt an Kindern ist für die Forschung nicht neu. Matter gelingt es aber in wissensgeschichtlicher Manier beispielhaft, von „der“ Wissenschaft kein einheitliches Bild zu zeichnen, sondern Kontroversen und Widersprüche fein herauszuarbeiten und zu erklären, warum bestimmte Positionen wieder ins Hintertreffen geraten sind. Bereichernd ist daneben insbesondere, dass Matter (mit allen Chancen und Limitationen) Gerichtsakten als Quellengattung für die Geschichte der sexuellen Gewalt an Kindern einführt – vielleicht eine der wenigen Quellen, die es erlauben, auch sexuelle Gewalt im Nahfeld der Kinder in den Blick zu bekommen.
Allerdings wirkt die Studie mit der Zusammenführung von wissenschaftlichen, gesellschaftlichen wie rechtspraktischen Kontexten auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zuweilen überladen, mitunter auch unverbunden. Das gilt insbesondere für den dritten Teil der Studie, der in die 1980er- und 1990er-Jahre vordringt und für die Matter, vermutlich aufgrund von Schutzfristen, keine parallele Auswertung von Strafakten mehr vornimmt.
Möglicherweise hätte es als Zuspitzung geholfen, wenn Matter sich stärker auf die eindeutigen Berührungspunkte zwischen Wissenschaft und Recht konzentriert hätte, zum Beispiel in der Figur des psychiatrischen Gutachters, der bei Matter zwar vorkommt, dessen analytisches Potential sie aber nicht ganz ausschöpft. Immerhin handelt es sich um einen „Grenzgänger“ zwischen der Justiz und Wissenschaft, der nicht nur Wissen transportieren und in die je eigenen Logiken übersetzen konnte, sondern der darüber hinaus in Fragen von Glaubwürdigkeit der Betroffenen und Schuldfähigkeit der Beschuldigten bis heute eine zentrale Stellung in Gerichtsverfahren um das sexuelle Schutzalter einnimmt.3
Nichtsdestoweniger verdanken wir Matter eine fundierte und anspruchsvolle Studie, die über den Gegenstand des Schutzalters und über Österreich weit hinausreicht und einen ganz wesentlichen Beitrag zur weiteren Zeitgeschichte der sexuellen Gewalt an Kindern liefert.
Anmerkungen:
1 Meike Sophia Baader u.a. (Hrsg.), Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968, Köln 2017; Franz Walter u. a. (Hrsg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015; Katrin M. Kämpf, Pädophilie. Eine Diskursgeschichte, Bielefeld 2021; Jan-Henrik Friedrichs, Delinquenz, Geschlecht und die Grenzen des Sagbaren. Sexualwissenschaftliche Diskursstränge zur Pädophilie in ausgewählten Periodika, 1960-1995, in: Zeitschrift für Sexualforschung 30 (2017), S. 161–182.
2 Zum Beispiel Bernhard Frings u.a. (Hrsg.), Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster, Freiburg 2022.
3 Auf die Rolle von (Sexual-)Wissenschaftler:innen als Gutachter:innen hat bereits Moritz Liebeknecht in seiner Studie hingewiesen, die Matter leider nicht rezipiert hat: Moritz Liebeknecht, Wissen über Sex. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung im Spannungsfeld westdeutscher Wandlungsprozesse, Göttingen 2020, insb. S. 142–160.