Geistes- und Sozialwissenschaften stehen regelmäßig im Verdacht, besonders anfällig für Konjunkturen des Zeitgeistes und Vorgaben staatlich-politischer Konstellationen zu sein. Im 20. Jahrhundert, jenem Säkulum ideologischer Verwerfungen und radikal widerstreitender Staatsformen wie Gesellschaftssysteme, konnten „Gelehrte“ selbst bisweilen zu „Kriegern“ werden.1 Nicht zuletzt der Ost-West-Konflikt bot angesichts seiner Systemkonkurrenz und dichotomischen Architektur einen Entfaltungsraum, der nach klaren Entscheidungen entlang von Schwarz-Weiß-Mustern verlangte oder sogar einen „Zwang zur Parteinahme“ ausübte.2 Wer sich dem entzog und alternative Denkmöglichkeiten bis hin zu Vorstellungen eines „Dritten Weges“ verfocht, konnte – je nach Standort – rasch zum „Moskaufreund“ oder „Klassenfeind“ werden.
Am Beispiel ausgewählter Vertreter aus der Geschichts- und Literaturwissenschaft (die sich von den Sozialwissenschaften klar abgrenzten) fragt Barbara Picht, wie erheblich die Prägekraft des Kalten Krieges für die Europa- und Modernedeutungen war. Ihr ist es wichtig, den Kalten Krieg nicht als unumgehbares Interpretationsmuster vorauszusetzen, sondern ihn in offener Weise zum Untersuchungsgegenstand innerhalb der Selbstauslegungen und Lokalisierungen beider Wissenschaftsgebiete zu machen. Ausgewählt hat Picht für ihre exemplarische Studie je einen Literaturwissenschaftler und Historiker aus Frankreich und Polen sowie je zwei Vertreter aus dem geteilten Deutschland: Robert Minder (1902–1980) und Fernand Braudel (1902–1985), Czesław Miłosz (1911–2004) und Oskar Halecki (1891–1973), für die DDR Werner Krauss (1900–1976) und Walter Markov (1909–1993), für die Bundesrepublik Ernst Robert Curtius (1886–1956) und Werner Conze (1910–1986). Dabei strebt Picht glücklicherweise keine Gruppenbiographie ihrer acht Protagonisten an – das wäre unübersichtlich und kleinteilig geworden –, sondern sie sucht in mehreren Etappen anhand pointierter Betrachtungen Antworten auf die Leitfrage, in welchem Verhältnis wissenschaftliche Rhythmen, Paradigmen und Diagnosen zu politischen Zäsuren, Rahmenbedingungen und Vorgaben standen.
Die Auswahl ist klug vorgenommen, weil alle acht Personen in einem generationellen Zusammenhang standen und politisch-weltanschaulich ein weites Spektrum repräsentierten. Durch ihre Wissenschaftskarrieren werden zugleich transnationale Austauschprozesse und Konkurrenzsituationen berührt. Außerdem waren sie allesamt in ihren Disziplinen einflussreiche und schulbildende Fachwissenschaftler, die nicht in ihrem akademischen Elfenbeinturm verharrten, sondern auch öffentlich wirkten und wahrgenommen werden wollten. Sie entsprachen insofern dem Typus des „Gelehrten-Intellektuellen“, wie ihn Gangolf Hübinger herausgearbeitet hat.3 Angesichts dieses Wirkungsstrebens und der damit verknüpften politischen Implikationen liegt die Vermutung nahe, dass die Protagonisten in besonders sensibler Weise auf die Anforderungen des Kalten Krieges zu reagieren hatten.
Solche Plausibilitätserwägungen lassen es umso überraschender erscheinen, wie wenig dies nur der Fall war. Als Hauptergebnis ihrer Studie, die auf eine von Hübinger betreute Habilitationsschrift an der Viadrina in Frankfurt/Oder zurückgeht, hält Picht fest: „Der Kalte Krieg hatte für die hier betrachteten Geschichts- und Literaturwissenschaftler nicht den Stellenwert einer neuen ‚Weltordnung‘, die zu neuen Interpretationsmustern herausgefordert hätte.“ (S. 262) Sie belässt es freilich nicht bei dieser Negativformulierung, sondern zeigt vielmehr, was die Hauptfiguren in ihren Schaffens- und Deutungsvorgängen stattdessen leitete. Ungeachtet einer erheblichen Varianz im Detail einte sie eine Fixierung auf Europa als – nicht immer scharf konturierter – geistig-kultureller Fluchtpunkt. Es war insbesondere jenes Europa, wie es sich ab dem späten 18. Jahrhundert als Ausdruck einer so krisenhaften wie erstrebenswerten Moderne herauszubilden begonnen hatte.
Im Einzelnen untermauert Picht diese These in zwei Hauptkapiteln über „Standortbestimmungen“ und „Wissenstopographien“ (ohne dass der analytische Mehrwert dieser an sich schönen Kategorie immer klar hervortritt). Fernand Braudels hartnäckiges Interesse an strukturgeschichtlichen Prozessen von „langer Dauer“ ist bestens bekannt. Schon die Skepsis gegenüber der Bedeutsamkeit von „kurzen Rhythmen des politischen Lebens“ (so Picht, S. 39) verhinderte ein Scharfstellen des Fokus auf den Kalten Krieg und die Zeitgeschichte. Auch Ernst Robert Curtius suchte mittels des Topos des Humanismus so etwas wie eine weit zurückreichende europäische Tradition gegenüber Nationalismus und Bolschewismus zu retten. Oskar Halecki formte nicht nur den Begriff „Ostmitteleuropa“ (an dem Werner Conze ebenfalls kräftig zimmerte), sondern deklarierte vom US-amerikanischen Exil aus ganz Europa zur „Geschichtsregion“: als ein überaus beständiges „Gesamtsystem“ einer „von kulturellen Strukturen geprägten Region“ (Picht, S. 71f.). Die Vereinigten Staaten betrachtete er im Grunde als einen Teil Europas. Curtius sprach in kultureller Hinsicht von einem „Annex“ (zit. auf S. 64). Und die Sowjetunion erschien einigen der von Picht untersuchten Autoren trotz manch antibolschewistischer Intonierung nicht so sehr als Ideologiestaat des Kalten Krieges, vielmehr als Fortsetzung altbekannter russischer Großmachtinteressen, die es zu taxieren galt (so etwa Halecki, vgl. S. 116).
Pichts Protagonisten hielten an der Idee eines ungeteilten Europas fest und belebten damit einen gemeinsamen Debattenkontext, der deutlich vor die Zeit machtpolitisch hochwirksamer Ost-West-Spannungen zurückverwies. Ungeachtet dieses konsensuellen Europa-Fixpunktes konnten die Gestaltungsideen stark voneinander abweichen. Während bei Curtius Revolutionsskepsis dominierte – er sprach von „Restauration des Kulturbegriffs“ und „Wiedereinsetzung der geistigen Wertordnung“ (zit. auf S. 105) –, suchten die in Leipzig lehrenden Werner Krauss und Walter Markov eine Revitalisierung der europäischen Moderne mittels ihrer Aufklärungs- und Revolutionsforschung, die den ganzen Spannungsreichtum zwischen marxistischen und „bürgerlichen“ Positionen erkennen ließ. Es fragt sich an dieser Stelle, ob der Ost-West-Konflikt im Sinne einer länger ausgedehnten ideologiegeschichtlichen Konstellation (spätestens ab 1917) als Erklärungsmoment bisweilen nicht doch bedeutsamer ist, als es der auf die machtpolitische Ordnung (insbesondere ab 1947) scharfgestellte Blick erkennen lässt.
Insgesamt überzeugt aber Pichts Dekonstruktion einer allzu festgezurrten Logik des Kalten Krieges. Der Romanist Krauss ist dabei ein besonders interessanter Fall. So setzte er sich für eine Rezeption José Ortega y Gassets in der DDR ein und plädierte Anfang der 1950er-Jahre dafür, dass dessen Schriften frei zugänglich und ohne Sondergenehmigung in der Bibliothek gelesen werden durften (siehe S. 110). Mit diesem Ansinnen scheiterte Krauss freilich. Gleichwohl ist es bezeichnend, wie weit die Ausstrahlung von Autoren wie Ortega y Gasset und T.S. Eliot reichte, die gemeinhin lediglich als Kronzeugen für eine konservative Erneuerung (West-)Europas herhalten. Picht zeigt ein ums andere Mal prägnant und überzeugend, wie viel komplexer geschichtet sich das Relief der Wissenstopographien darbot.
Neben dieser klar und konzise herausgearbeiteten, dicht belegten Kernthese bietet Pichts lesenswerte Schrift überhaupt so manch aufschlussreiche Erkenntnis zu einzelnen Zusammenhängen. Das gilt etwa für den Fall Markovs, der als überzeugter Marxist in besonderer Weise für das Schema des Kalten Krieges disponiert erschien, sich dem Korsett aber wiederholt zu entziehen verstand. Das zeigte sich an der engen Kooperation mit Vertretern der französischen „Annales“-Schule, ebenso mit namhaften Historikern aus der Bundesrepublik wie des westlichen Auslands allgemein. Als der von der „institutionellen Macht des Kalten Krieges“ geübte Druck, dem Picht ihr abschließendes Hauptkapitel widmet, deutlich anstieg und der zeitweilig als „Titoist“ stigmatisierte Markov aus der SED ausgeschlossen wurde (1951), bot ihm Percy Ernst Schramm einen Platz an der Göttinger Universität an. Markov aber blieb im SED-Staat, und es gelang ihm als „Kommunist ohne Parteibuch“ (so die Selbstbezeichnung, S. 215), sich erfolgreich und vielfach geehrt im Wissenschaftssystem der DDR zu positionieren (u.a. als Vorreiter einer so antiimperialistisch gefärbten wie weltgeschichtlich innovativen Kolonialismusforschung).
Werner Krauss, der auf die Residuen wissenschaftlicher Autonomie und Kreativität bedacht war (die auch in einer bislang weitgehend unbekannten Initiative für ein Lexikon „Grundbegriffe der Aufklärung“ zum Ausdruck kam), hatte mit den zunehmend pressierenden Anforderungen des politischen Apparats zu kämpfen. Die Staatssicherheit nahm ihn ins Visier und notierte 1957, dass an seinem Institut „typische Intellektuelle im schlechten Sinne“, also „ausgesprochene Individualisten“ tätig seien (zit. auf S. 205). Krauss, der ob der „restaurativen Dynamik an den Universitäten Westdeutschlands“ (S. 197), wie Picht schreibt, 1947 aus Marburg nach Leipzig gewechselt war, geriet schließlich zwischen die Stühle, ob er es wollte oder nicht. Denn an sich bewies er als Mitglied zunächst der KPD, dann der SED aus DDR-Sicht Linientreue.
Der institutionelle Rahmen, den der Kalte Krieg setzte, war einzwängend und beschnitt den Gestaltungsradius wissenschaftlicher Tätigkeit – im Osten deutlich stärker als im Westen. So konnte Braudel von beachtlichen Fördermitteln der Rockefeller- wie der Ford-Foundation profitieren, ohne damit seine Forschungsfreiheit einengen zu müssen – im Gegenteil. Trotz solch unterschiedlicher Konsequenzen konnten die sich während der 1950er-Jahre verfestigenden Strukturen des Ost-West-Konflikts nicht ignoriert werden. Die Frage, ob der damit verbundene Konformitätsdruck in der Phase der Entspannung wieder abnahm und eine gesamteuropäische Wissenschaftsdynamik neuen Schwung gewann, aber auch die Frage, wie nachwachsende Wissenschaftler-Generationen ohne direkte lebenswirkliche Rück- und Erfahrungsbezüge in die Zwischenkriegszeit den Ost-West-Konflikt verarbeiteten – dies zu erörtern, obliegt weiteren Untersuchungen. Barbara Picht hat einen wichtigen Impuls geliefert, um die Eigengesetzlichkeiten einer Geschichte des Wissens und der Wissenschaften ebenso wie der Zeitdeutungen und der Gesellschaftsdiagnostik vor dem Hintergrund wechselnder Zeitläufte weiter intensiv zu erforschen, ohne sie mit leichter Hand einer politischen Taktung bloß beizuordnen.
Anmerkungen:
1 Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010.
2 Axel Schildt, Der Zwang zur Parteinahme. Die Intellektuellen im Frontstaat des Kalten Krieges, in: Alexander Gallus / Sebastian Liebold / Frank Schale (Hrsg.), Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2020, S. 36–52.
3 Siehe u.a. Gangolf Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006.