Bereits 1950 kam der erste westdeutsche Besucher aus christlichen Kreisen, der evangelische Pfarrer Hermann Maas, auf offizielle Einladung nach Israel, nur zwei Jahre nach der jüdischen Staatsgründung. Die ersten Einladungen waren auf jene Deutschen beschränkt, die sich durch Widerstand im Nationalsozialismus ausgezeichnet hatten und in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ angesehen wurden (S. 58). Nach dem Krieg und dem Holocaust hatte es die westdeutsche politische Elite bekanntermaßen eilig, auf vielfältigen Ebenen Beziehungen zu Israel aufzunehmen, um sich zum einen gegenüber den USA als moralisch geläutert zu geben und damit zum anderen die politisch-ökonomische Integration der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft voranzubringen. Eine Reise nach Israel war „symbolisches Kapital“ für die eigene politische Wichtigkeit – noch vor Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ab 1965. Bereits ab den frühen 1950er-Jahren reisten allerdings Diplomaten einer anderen Art: Personen aus kirchlichen Kreisen in Westdeutschland, die sich der christlich-jüdischen Verständigung verschrieben hatten.
Eva Maria Verst-Lizius untersucht in ihrer Mainzer Dissertation christlich motivierte Reisen von Westdeutschen nach Israel von den 1950ern- bis in die 1970er-Jahre. Auch wenn Jerusalem vielfach im Zentrum stand, umspannten die Ziele dieser Reisen sämtliche christliche Stätten im Land, bzw. ab 1967 auch in dem von Israel eroberten Westjordanland. Die Autorin interessiert sich dabei vornehmlich für Deutungsmuster und Erwartungen. Sie versucht herauszufinden, wie die Reisen der Deutschen nach Israel ein Spiegelbild für die Beschäftigung mit „der Vergangenheit“ waren. Die drei institutionellen Hauptakteure dieser Reisen waren der katholisch geprägte Deutsche Verein vom Heiligen Land (gegründet schon 1895), die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit ihrem Deutschen Koordinierungsrat (seit 1949) und die evangelisch geprägte Aktion Sühnezeichen (gegründet 1958) für die Freiwilligendienste. Am Beispiel dieser Organisationen analysiert Verst-Lizius drei Ebenen des Interesses der deutschen Reisenden an Israel: religiöse Beweggründe, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Frage nach „Versöhnung“ sowie die Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt – letzteres allerdings zeitlich versetzt, erst ab 1967.
Ihrem Gegenstand nähert sich die Autorin in zwei Hauptkapiteln. Das Herzstück der Arbeit untersucht „Die Organisation der Reisen von Deutschen ins ‚Heilige Land‘ und nach Israel nach dem Zweiten Weltkrieg“; es ist analytisch dreigeteilt in Pilgerreisen, Studienreisen und Freiwilligendienste. Im weiteren Hauptteil betrachtet die Autorin „Deutungsangebote und Wahrnehmungen“. Deutungsmuster versteht sie mit den Soziologinnen Nicole Bögelein und Nicole Vetter als „sozial geteilte Routinen der Deutung“, die die „individuell wahrgenommene soziale Umwelt strukturieren und reduzieren“ (S. 13). Sie fragt: Wie gingen die Reisegruppen mit den Themenkomplexen Holocaust und Nahostkonflikt um, welche Motivation brachten sie mit, was war wann sagbar, wo bestanden Hemmnisse, wie wandelten sich die Ziele im Laufe der Zeit? Um Antworten zu finden, untersucht Verst-Lizius sowohl die Planung der Reisen als auch die Interpretationen der Reiseerlebnisse in Selbstzeugnissen, soweit diese in den einsehbaren Archiven der drei Organisationen zur Verfügung standen.
Während die Autorin im ersten Hauptteil (Kap. II) den Erwartungen, Vorannahmen, Bildern und Hoffnungen nachgeht, die die Reisenden mit im Gepäck hatten, untersucht sie im zweiten Hauptteil (Kap. III) genauer die Tropen des „Heiligen Landes“, die konzeptionelle Unterscheidung des „Orients“ von der „Moderne“ sowie für die 1970er-Jahre die Perspektive einer „Dritten Welt“ gegenüber einem „modernen Israel“. An den Anfang des Buches stellt sie ein Zitat, das beleuchtet, worum es geht: Vorstellungen der Reisenden vom farbenfrohen Orient und biblischen Erinnerungsorten wurden mit der Realität von „Lärm und Staub, Geschäftstüchtigkeit auch und gerade bei den ‚heiligen Stätten‘“ kontrastiert (S. 9, Zitat von 1957). Israel wurde dabei stark unter dem Aufbaunarrativ betrachtet (S. 118, S. 265f.) – das bekannte Motiv, dass die Zionisten die Wüste zum Blühen gebracht hätten –, während die Araber als rückständig erschienen (S. 314). Dies galt insbesondere, nachdem seit den israelischen Eroberungen von 1967 alle Teile der Jerusalemer Altstadt und auch die christlichen Stätten im Westjordanland aufgesucht werden konnten.
Zunächst passten sich die Pilgerreisen der 1950er-Jahre jedoch in die „konservative Rückbesinnung“ (S. 97) und das Streben nach Konsolidierung der bundesdeutschen Gesellschaft ein. „Die Stärkung von Toleranz und Brüderlichkeit sollte den Deutschen helfen, gute Demokraten zu werden und westliche Werte zu verinnerlichen.“ (S. 99) Es gab also einen Erziehungsaspekt bei den Reisen: Multiplikator:innen sollten nach Israel fahren, „um auf diese Weise befähigt zu sein, zu Hause in Deutschland zum Abbau von Vorurteilen beizutragen“ (S. 104). Zum Beispiel nahm der Deutsche Verein vom Heiligen Land ab 1971 einen Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem in das Reiseprogramm auf. „Die Entwicklungen in der Bundesrepublik hinsichtlich eines moralischen Anspruchs an eine Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit hatte nun auch bei den Pilgerfahrten Einzug gehalten.“ (S. 96) Der genannte Verein war geprägt vom Missionierungsgedanken und knüpfte an den 1885 gegründeten „Palästinaverein der Katholiken Deutschlands“ an, der imperialistische Ambitionen verfolgte. Auffällig sei, dass die Zahl religiöser Reisen ins „Heilige Land“ seit den 1950er-Jahren anstieg, „was dem säkularen Trend von Entkirchlichung und Erosion katholischer bzw. kirchlicher Milieus keineswegs entsprach“ (S. 67). Reisen von Schüler:innen und Student:innen entwickelten sich schließlich „ab Mitte der sechziger Jahre zu einer wahren Massenbewegung“ (so Yeshayahu A. Jelinek, zit. auf S. 71). Die Wahrnehmung der Region als „Heiliges Land“ basierte auf langfristigen Zuschreibungen, die an Ideen des Orientalismus anknüpften (S. 39). Die Bezeichnung „Orient“ sei dabei „Quellenbegriff und kulturelles Konstrukt zugleich“ (S. 47), indem sie „losgelöst vom politischen Raum“ stehe (S. 343). Pilger:innen konnten hier „die Erzählungen der Bibel nachempfinden“ (ebd.), mussten sich aber wenig bis gar nicht mit aktueller Politik befassen.
Eine besondere Spielart des philosemitischen Zugangs zum jungen Staat Israel waren die „Sühner“ (Selbstbezeichnung) der Aktion Sühnezeichen, die oft eine starke Identifikation mit Israel entwickelten, nach ihrem Einsatz teilweise im Land blieben oder zum Judentum konvertierten (S. 145). Die im oder nach dem Krieg geborene Generation der Freiwilligen ab den frühen 1960er-Jahren verstand unter „Sühne“ auch die „Möglichkeit der Versöhnung“ (Zitat aus einem Tagebuch von 1965, S. 218). Ohne weitere Reflexion war es dieser meist naive Anspruch, der bis 1967 bestehen blieb, als sich durch den von Israel gewonnenen Sechs-Tage-Krieg die Vorzeichen änderten. Nun hielten die deutschen Debatten darüber, welcher der beiden Konfliktparteien fortan mehr Solidarität zu gelten habe, auch Einzug in die Sühnergemeinschaften, und „Israelkritik“ begann selbst in Teilen der Freiwilligenkreise als vermeintlich progressive Position einzuziehen – ebenfalls deklariert als Lehre aus dem Holocaust. Dieser Anspruch hob sogar darauf ab, mit dem eigenen „Dienst“ im Lande jüdische Haltungen im Nahostkonflikt erzieherisch umzuwandeln (S. 224). Die Ressentiments gegen Deutsche in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft hingegen wurden, wenn überhaupt, eher erstaunt und verständnislos wahrgenommen (S. 236). Es kam zu Auseinandersetzungen über die Solidarität mit Israel versus einem als „friedensbewegt“ verstandenen Einbezug der arabisch-palästinensischen Seite. Bezeichnend für diesen Wandel ist, dass die „Aktion Sühnezeichen“ 1968 ihren Namen um „Friedensdienste“ ergänzte (S. 142).
Die Autorin ordnet ihre Ergebnisse am Schluss in die breiteren Diskurse der Bundesrepublik ein. Sie hält fest, dass sich die untersuchten Reisen – dies ist wenig überraschend – in Stimmungen, Themen und Diskussionen relativ parallel zu gesellschaftlichen Debatten entwickelten. Während in den 1950er- und 1960er-Jahren die Erinnerung an die NS-Vergangenheit im Vordergrund stand – verbunden mit dem Anspruch der „Sühne“ und „Versöhnung“, der das katholische und protestantische Milieu gleichermaßen kennzeichnete –, herrschte ab 1967 Verwirrung. Sollte die Erinnerung an die NS-Verbrechen nun nicht „universal“ verstanden werden, mithin als globaler Anspruch für den Frieden, und damit auch die arabische Seite im israelisch-palästinensischen Konflikt um die besetzten Gebiete stärker gehört werden?
Die Darstellung dieser letzteren Debatten ist nicht neu, aber die Studie zeigt interessante Mikroebenen der Frühzeit deutsch-israelischer Beziehungen, speziell ihrer christlichen Prägungen. Insgesamt konstatiert die Autorin, dass alle bundesdeutschen Reisen nach Israel durch eine Konstellation von religiöser Pilgerschaft und säkular-nationaler Sühne charakterisiert waren. Eva Maria Verst-Lizius leistet einen beeindruckenden Überblick anhand der vielfältigen, teils bereits deutlich älteren Forschungsliteratur und integriert diese Literatur in ihre eingehende Archivarbeit über die drei ausgewählten Organisationen. Ihre These ganz am Schluss, die Reisenden hätten „durch ihre Berichterstattung auch die Wahrnehmung in der Bundesrepublik“ beeinflusst, „indem sie ihre Deutungen über Reiseberichte, Vorträge und andere Kommunikationskanäle verbreiteten“ (S. 345), klingt plausibel, hätte aber noch stärker belegt bzw. für verschiedene Bevölkerungsschichten differenziert werden können. Als quellengesättigte Geschichte mit einem „Bottom-up“-Zugang zu den frühen deutsch-israelischen Beziehungen liest sich diese Dissertation sehr anschaulich. Besonders zwei Aspekte seien lobend hervorgehoben: Die Arbeit deckt zum einen die noch zu wenig bekannten Aspekte der deutschen „Orientalisierung“ Israels und des Nahen Ostens gründlich auf; zum anderen diskutiert sie mit neuen Perspektiven den neuralgischen Punkt der deutschen friedensbewegten Szene, in der die Solidarität mit Israel als Kernstück bundesdeutscher Holocaust-Erinnerung nach 1967 in einer diskursiven Wendung zur „Israelkritik“ kippte.