Cover
Titel
Künstlerische Aufarbeitung. Die NS-Vergangenheit im deutsch-deutschen Erinnerungsdiskurs, 1960 bis 1990


Autor(en)
Korn, Florian
Reihe
Image
Anzahl Seiten
337 S., 74 SW- und 22 Farb-Abb.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ella Falldorf, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In seiner Leipziger Dissertation untersucht der Kunsthistoriker Florian Korn Grafiken, Gemälde und Installationen deutscher Künstler:innen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten und zwischen 1960 und 1990 in beiden deutschen Staaten ausgestellt wurden. Er betrachtet nicht in erster Linie Bildinhalte oder Formensprache der Kunstwerke, sondern erforscht mit einem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz zeitgenössische Rezensionen und kunsthistorische Analysen aus der Bundesrepublik und der DDR. Wie der Autor festhält, „gibt es nur wenige kunsthistorische Untersuchungen, die über kunstimmanente Fragestellungen hinaus die Rezeption und daran anknüpfend die Relevanz von Kunst für Ereignisse, Debatten und Diskurse um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit herausarbeiten“ (S. 16). Korns Erkenntnisse über die gesellschaftspolitische Verankerung und Wirkung von Kunst demonstrieren das Potenzial dieses methodischen Zugriffs. Mit Hilfe detaillierter Quellenstudien gelingt es dem Autor, die Genese staatsübergreifender Ausstellungsprojekte zu rekonstruieren und ihre zeitgenössische Deutung zu analysieren. Neben zahlreichen Ausstellungskatalogen und -broschüren sowie damaligen Medienberichten und Fachzeitschriften hat Korn dafür unveröffentlichte Quellenbestände aus der Akademie der Künste und dem Bundesarchiv ausgewertet. Zur Erörterung einzelner Ausstellungen konsultierte er zudem Bestände der ausrichtenden Institutionen.

Korn leistet sowohl eine kunsthistorische Erweiterung historischer Forschung als auch einen Beitrag zur Historisierung der Kunstgeschichte, die sich mit der künstlerischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschäftigt. Er bereichert zum einen die vergleichende Forschung zur Nachgeschichte der NS-Verbrechen in beiden deutschen Staaten, besonders zur Auseinandersetzung mit der Shoah in der DDR.1 Zum anderen vertieft er die Forschung zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und positioniert sich in dem seit einigen Jahren expandierenden Forschungsfeld zur Kunst aus der DDR.

Korn diagnostiziert, „dass es jenseits der jeweiligen ‚Geltungskünste‘ sehr heterogene künstlerische Auseinandersetzungen mit der NS-Vergangenheit gab, die nicht nur durch Unterschiede, sondern auch durch Gemeinsamkeiten sowie wechselseitige Beeinflussungen gekennzeichnet waren“ (S. 11). Diese Überlegung wirft neues Licht auf die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten, die, wie der Autor zu Recht schreibt, bisher meist „unabhängig voneinander“ betrachtet wurden (S. 13f.). Hier knüpft er an verflechtungshistorische Studien an, die über eine Kontrastierung der beiden Staaten hinausgehen.

Stark auf der Dissertation von Katrin Hammerstein basierend2 fasst der Autor zu Beginn den Forschungsstand zur Vergangenheitspolitik beider deutscher Staaten zusammen. Konziser erörtert er dagegen die Kunst- und Kulturpolitik der DDR entlang zentraler Begriffe und Bildmotive. Zudem wirft er einen vergleichenden Blick auf die Kulturpolitik in Westdeutschland und die Manifestation der Systemkonkurrenz bei der documenta in Kassel (seit 1955) und der Kunstausstellung der DDR in Dresden (seit 1946; bis 1967/68 unter dem Titel „Deutsche Kunstausstellung“). Anschließend erläutert er die politisch-administrativen Voraussetzungen für den staatsübergreifenden Kunstaustausch. „Staatsübergreifend“ meint hier, dass einzelne Werke ostdeutscher Künstler:innen in der Bundesrepublik ausgestellt wurden und Werke westdeutscher Künstler:innen auf Ausstellungen in der DDR zu sehen waren. Das SED-Regime erkannte in „ausgewählten westdeutschen Künsten“ ein „ideologisches Potenzial“ (S. 64). Diese figürlich-gegenständlich arbeitenden und politisch oft „links“ engagierten Künstler:innen wurden in der DDR hofiert und ausgestellt. Eingebettet in anti-bundesrepublikanische Propagandakampagnen versuchte die SED dadurch den westdeutschen Kulturbetrieb zu unterwandern. Für die westdeutschen Künstler:innen galten andere inhaltliche Maßstäbe, so konnten sie zum Beispiel explizit den Holocaust thematisieren. Auch wenn ostdeutsche Künstler:innen in Westdeutschland ausstellten, wurde dies durch die Kulturbehörden der DDR orchestriert. Seit den 1970er-Jahren stieg in der Bundesrepublik ein kritisches Interesse an ostdeutscher Kunst, die scharfe öffentliche Kontroversen entfachte. Die in den 1980er-Jahren einsetzende Liberalisierung ermöglichte auch auf Ebene des Kunstaustauschs einen Ausbau der Kooperationen.

Der sich anschließende Hauptteil ist entlang der drei Bildthemen Holocaust, NS-Ideologie und Propaganda sowie Widerstandskämpfer:innen gegliedert. Dabei bildet das erste inhaltliche Kapitel zu künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust den Schwerpunkt der Studie (gut 100 Seiten). Die anderen beiden Kapitel fallen mit jeweils etwa 40 Seiten deutlich kürzer aus. Erst im Fazit deutet Korn eine Begründung der Themenwahl und -gewichtung an: Während der Holocaust in beiden deutschen Staaten lange marginalisiert war, wurden NS-Ideologie und Propaganda verstärkt in der Bundesrepublik behandelt und Widerstandskämpfer:innen in der DDR. Der Blick auf diese Randthemen zeigt laut Korn, dass solche Themen in der Kunst abseits vom offiziellen Erinnerungsdiskurs behandelt werden konnten.

Je drei chronologische Unterkapitel widmen sich, etwas schematisch, den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren. Es überrascht, dass die Untersuchung nicht mit den beiden deutschen Staatsgründungen beginnt, sondern erst 1960. Die Begründung, es habe vorher keine entsprechenden Ausstellungen gegeben (S. 13, S. 73), hätte ausführlicher erläutert und mittels der Kunstwerke und kulturpolitischen Aktivitäten in den 1950er-Jahren diskutiert werden können, um zu vermeiden, dass der „Mythos des Schweigens“ unfreiwillig reproduziert wird.3 Randbemerkungen wie die These, dass „[u]nautorisierte ostdeutsche Ausstellungsbeteiligungen in der Bundesrepublik […] in den 1950er Jahren“ vom SED-Regime bestraft worden seien und der Mauerbau „nicht genehmigte staatsübergreifende Kunstausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen weitestgehend ein[schränkte]“ (S. 67), wecken die Neugier.

Eine dritte Gliederungsebene differenziert inhaltliche Schwerpunkte, die jeweils anhand von ein bis drei exemplarischen Werken unterschiedlicher Künstler:innen erläutert werden. Da jedoch viele der Künstler:innen wie Anselm Kiefer (geb. 1945) oder Horst Zickelbein (geb. 1926) in allen drei Jahrzehnten tätig waren, bleibt unklar, ob die Befunde des Autors nun repräsentativ für eine:n Künstler:in oder für ein Jahrzehnt sind. Eine Begründung der Werkauswahl fehlt, was Korn damit rechtfertigt, er habe „weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf einen repräsentativen Überblick“ (S. 23). Dennoch hätte eine Erläuterung der Werk- und Themenauswahl die Argumentation gestärkt. Nach einer knappen Beschreibung der Werke rekonstruiert der Verfasser, in welchen Ausstellungen in beiden deutschen Staaten sie gezeigt wurden, und legt dar, wie sie rezipiert wurden.

Anhand dieser Rezeption in Ost und West gelingt es Korn, einen Wandel im Umgang mit der Kunst zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten. Nach einem „Wiedereinsetzen“ solcher Arbeiten und Debatten in den 1960er-Jahren sei ostdeutsche Kunst ab den 1970er-Jahren verstärkt auch in Westdeutschland ausgestellt und dort durchaus positiv besprochen worden (S. 68). In den 1980er-Jahren sei es zu einer kunstpolitischen Annäherung beider Staaten gekommen. Damit reiht der Autor den Diskurs über Kunst zum Nationalsozialismus recht nahtlos in die erinnerungskulturellen Konjunkturen ein. Kunst habe in beiden Staaten „kritische Impulse“ im Umgang mit der NS-Vergangenheit gesetzt und tabuisierte Themenbereiche geöffnet (S. 263).

Eine genauere Rückkopplung der zeitgenössischen Rezeption an das jeweilige Werk hätte die Argumentation stärken können. So postuliert der Autor beispielsweise eine „Vereinnahmung“ der Werke durch die zeitgenössische Presse, ohne zu analysieren, welche Aspekte eines Werks die zeitgenössischen Autor:innen jeweils betonten und inwieweit diese Einschätzungen aus heutiger Sicht zutreffen (z.B. S. 86, S. 112, S. 142, S. 229). An anderen Stellen erschöpft sich die Werkanalyse darin, dass Korn feststellt, die Arbeiten hätten zum Nachdenken oder zur kritischen Auseinandersetzung angeregt (z.B. S. 103, S. 155, S. 165, S. 176, S. 195, S. 207, S. 252). Offen bleibt, welche Bildelemente diese kritische Reflexion evozierten, was genau kritisch reflektiert wurde und warum. Klarere Formulierungen und ein gründlicheres Lektorat hätten das Buch sehr bereichert.4 Kritisch anzumerken ist ebenso die Qualität der Abbildungen, die es den Leser:innen erschwert, die Argumente am Bild eigenständig nachzuvollziehen. Auch ein Personenregister wäre hilfreich gewesen, da die Künstler:innen aus dem Inhaltsverzeichnis nicht ersichtlich sind und einige Akteur:innen in verschiedenen Kapiteln eine Rolle spielen.

Die wohl größte Stärke des Buches ist die quellenbasierte detaillierte Rekonstruktion exemplarischer Ausstellungen und der wiederkehrenden, bislang wenig beachteten Akteur:innen der Kulturszene, wie Galerist:innen, Kurator:innen oder Kunstkritiker:innen in beiden deutschen Staaten. Dazu gehören Arie Goral (1909–1996) und Georg Bussmann (geb. 1933) für Westdeutschland oder Lea Grundig (1906–1977) und Herbert Sandberg (1908–1991) für die DDR. In Detailanalysen tritt das Potenzial des verflechtungs- und rezeptionsgeschichtlichen Ansatzes hervor. Korn kann zeigen, wie es etwa in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren zu staatsübergreifenden Kooperationen kam, obwohl die Akteur:innen zum Teil widersprüchliche Interessen hatten. Kunst erfüllte demzufolge eine „Brückenfunktion“ (S. 263) im deutsch-deutschen Erinnerungsdiskurs. Mit seiner methodisch wie thematisch innovativen Studie leistet Korn einen anregenden Beitrag für weiterführende Forschungen zu den vorgestellten Künstler:innen und Akteur:innen, den Aufarbeitungsdebatten im geteilten Deutschland sowie dem Zusammenhang von Kunst- und Zeitgeschichte.

Anmerkungen:
1 Vgl. neuerdings u.a. Alexander Walther, Commemorating the Shoah in the GDR's (Post-)Perpetrator Society, in: Anna Artwińska / Anja Tippner (Hrsg.), The Afterlife of the Shoah in Central and Eastern European Cultures. Concepts, Problems, and the Aesthetics of Postcatastrophic Narration, New York 2022, S. 173–191; Helmut Peitsch, Reisen nach Auschwitz und Anthologien Letzter Briefe, 1945–1975. Eine literarische Beziehungsgeschichte von Antifaschismus in BRD und DDR, Berlin 2021; Anja Thiele, „Ich erzähl dir nicht die Nachkriegsgeschichte, ich erzähl dir, was mir passiert ist“ – Jüdische Erinnerung an die Schoah in Erzähltexten von Stephan Hermlin, Fred Wander und Jurek Becker, in: Jahrbuch des Dubnow-Instituts 17 (2018), S. 211–236.
2 Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen 2017.
3 Vgl. Kathrin Hoffmann-Curtius, Bilder zum Judenmord. Eine kommentierte Sichtung der Malerei und Zeichenkunst in Deutschland von 1945 bis zum Auschwitz-Prozess, Marburg 2014; David Cesarani / Eric J. Sundquist (Hrsg.), After the Holocaust. Challenging the Myth of Silence, New York 2011.
4 Beispielsweise stellt Korn den angeblich ausbleibenden Denkmalsetzungen in der Bundesrepublik eine vermeintlich „flächendeckende[] Bebauung mit Denkmälern, Mahn- und Gedenkstätten“ in der DDR gegenüber (S. 34). Er interpretiert Hartmut R. Berlinickes Werktitel „Hashoah. Hommage á [sic] Felix Nussbaum“ (1982) fälschlich als Verweis auf den israelischen Holocaustgedenktag „Jom Hashoah“, was übersetzt „Tag der Shoah/Katastrophe“ bedeutet (S. 157f.). Der Werktitel bezieht sich allerdings auf die Shoah selbst, nicht auf den Gedenktag. Das israelische „Ghetto Fighters' House“ bezeichnet Korn als „Jewish Ghetto Fighter Museum“ (S. 75).