B. Korte u.a. (Hrsg.): Geschichte im Krimi

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Titel
Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften


Herausgeber
Korte, Barbara; Paletschek, Sylvia
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Saupe, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der von der Literaturwissenschaftlerin Barbara Korte und der Historikerin Sylvia Paletschek herausgegebene Sammelband „Geschichte im Krimi“ widmet sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive historischen Kriminalromanen, dem Kriminalroman als sozial- und kulturgeschichtlicher Quelle sowie den Identitätspolitiken im Kriminalroman.

In ihrer instruktiven Einleitung heben die Herausgeberinnen hervor, dass die Kategorien Gender, soziale Klasse, Ethnizität sowie erkenntnistheoretische Fragen die jüngere Forschung zum Kriminalroman bestimmen. Es sei an der Zeit, die Interdependenzen von Geschichte und Krimi und auch den historischen Kriminalroman näher unter die Lupe zu nehmen. Dabei geht es den Herausgeberinnen sowohl um Formen der populären historischen Wissensvermittlung als auch um gesellschaftliche Ordnungs- und Wertvorstellungen, die durch die literarische Verarbeitung von Verbrechen sichtbar werden. Korte und Paletschek erheben den Anspruch, nicht die von Historikern immer wieder kritisierten Anachronismen des Geschichtskrimis in den Vordergrund der Analyse zu stellen1; vielmehr eröffne gerade der Gegenwartsbezug des Geschichtskrimis Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Geschichte.

Historische Kriminalromane haben seit den 1980er-Jahren zunehmend den traditionellen realistischen historischen Roman abgelöst. Sie vermitteln historisches Wissen, sie unterhalten spannend, und über fiktionale Figuren können „Leser die vergangene Welt ‚erfahren’ und so eine isolierte ‚Insiderperspektive’ auf die Geschichte einnehmen“ (S. 16). Relevanz für eine sozial-, kultur-, mentalitäts- und geschlechtergeschichtliche Betrachtung der Kriminalliteratur besitzt allerdings auch der in der jeweiligen Gegenwart spielende Krimi, da dieser meist mit dem Anspruch auftritt, den „gesellschaftlichen Kontext möglichst realistisch“ zu entwerfen (S. 11). Damit ist das Feld recht weit gesteckt, welches der vorliegende Band anvisiert: Nicht nur der Historienkrimi fällt darunter, sondern jeder Kriminalroman, der etwas über die Konstitution der Vergangenheit verraten könnte. Gegliedert ist der Band in drei größere Abteilungen, die sich den Interdependenzen von „Kriminalliteratur, (Geschichts-)Wissenschaft und Detektion“, der „Sozial- und Kulturgeschichte im historischen Krimi“ sowie der „(national-)politischen Identitätsstiftung“ durch Krimis widmen. Hinter diesen groben Schneisen verbirgt sich jeweils eine Vielfalt an Themen und näher beleuchteten Autoren.

Im ersten Teil geht Friedrich Lenger in einem Artikel über „Detektive und Historiker – Detektivgeschichten und Geschichtswissenschaft“ anhand von Carlo Ginzburg, Robin G. Collingwood, Johann Gustav Droysen und Marc Bloch auf die Interdependenzen zwischen detektivischer und historiographischer Erkenntnis ein. Lenger sieht drei Parallelen – erstens die „retrospektive Vorhersage“ (S. 37): Historiker wie Detektive müssen sich an einen Zeitpunkt vor das zu erklärende Ereignis versetzen, um die Handlungsoptionen der Akteure nachzuvollziehen. Zweitens ist nach Lenger die Struktur historischer und detektivischer Hypothesenbildung ähnlich: Vom empirischen Einzelfall ausgehend werden Hypothesen gebildet, und es wird nach Theorien bzw. größeren Erklärungen gesucht. Drittens sei es der Umgang mit Spuren und Zeichen, also der mikrologische Blick, in dem sich die Arbeit des Detektivs mit derjenigen des Historikers überschneide. Seit Ranke, so Lenger, habe sich der Historiker nicht mehr als Richter, sondern als Empiriker und damit als Detektiv verstanden. Dabei sei insbesondere die „Indifferenz gegenüber moralischen und ethischen Überlegungen“ des Detektivs „vorbildlich“ für den Historiker – freilich nicht „für den Historiker als politischen Menschen“ (S. 34/40). Das sollte allerdings durch eine Perspektive ergänzt werden, die den Detektiv als jene Figur abseits der staatlichen Apparate ernstnimmt, die sich für eine engagierte Wiederherstellung von Gerechtigkeit einsetzt, selbst wenn dies etwa im Genre des Roman Noir grundsätzlich scheitert und die gesellschaftliche Wirklichkeit insgesamt als verbrecherisch denunziert wird.2

Der Detektiv ist ein Kollektivsymbol für wissenschaftliche Praktiken – auch der Kunstgeschichte. So widmet sich Frank Zöllner den Interdependenzen von kunsthistorischer und detektivischer Methode, und zwar in einer kritischen Betrachtung der Bildinterpretationen klassischer Gemälde in Dan Browns internationalem Verschwörungs-Bestseller „Sakrileg“. Auf die Verbindung von Psychoanalyse und Detektion verweist Matthias Bauer, indem er kenntnisreich die Auftritte Sigmund Freuds als Figur des Kriminalromans verfolgt. Ergänzt wird dies durch einen Artikel zu der hier trotz aller rezipierten konstruktivistischen Theorieansätze recht essentialistisch ausgedeuteten Unterscheidung zwischen „Fakt und Fiktion im historischen Kriminalroman“ von Klaus Peter Müller sowie durch zwei Forschungsskizzen von Silvia Mergenthal (zu einer kulturhistorischen Rezeptionsgeschichte historischer Kriminalfälle) und von Irmtraud Götz von Olenhusen. Letztere versucht, die deutschsprachige Kriminalliteratur zwischen 1900 und 1945 als kulturgeschichtliche Quelle für einen indirekten Zugang zur Gewalterfahrung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erschließen. Während der Zusammenhang von Serienmord- und Lustmordgeschichten mit der Gewalterfahrung im Ersten Weltkrieg aufschlussreich sein kann, weil dabei eine „wound culture“3 zum Ausdruck kommt, muss man indes bezweifeln, ob sich der klassische Rätselkrimi à la Agatha Christie, an dem sich bis in die 1930er- Jahre die meisten Veröffentlichungen im Segment der Kriminalliteratur orientierten, tatsächlich direkt mit den Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden kann – und wenn, dann wohl meist nur ex negativo. Denn in der offenkundig eskapistischen Tendenz des damaligen Kriminalromans blieb sowohl die strukturell-gesellschaftliche als auch die direkte körperliche Gewalt weitgehend unthematisiert.4

Den zweiten Teil des Bandes leitet Stefanie Lethbridge mit einem Beitrag über englischsprachige Römerkrimis ein, die von ihr weitgehend als „gegenwartsbezogenes Genre“ (S. 149) charakterisiert werden. Christoph Bode rekonstruiert eine imaginierte Sozialgeschichte der Metropole Los Angeles in den Romanen von Raymond Chandler, James Ellroy und Walter Mosley, in denen die bestehende Ordnung als das eigentliche Verbrechen überführt wird und der Krimi seinen Teil zur Desillusionierung des amerikanischen Traums beiträgt. Walter Göbel widmet sich der satirischen und karnevalesken Negation historischen Fortschritts in afroamerikanischen Kriminalromanen von Chester Himes und James Sallis.

Hauptthema des dritten Teils sind die Interdependenzen von Krimiproduktion und politischen Systemen. Elisabeth Cheauré beleuchtet die russische Selbstvergewisserung in den Romanen von Boris Akunin. Jochen Petzold geht der Verbindung von Geschichte und Verbrechen in den Romanen des südafrikanischen Autors André Brinks nach, während sich Eva Ulrike Pirker dem postkolonialen, britisch-europäischen Kriminalroman „A Shadow of Myself“ (2000) von Mike Phillips widmet. Und Sandra Schaur zieht mit Friedrich Karl Kauls „Mord im Grunewald“ (1953) über die Ermordung Walther Rathenaus ein Buch aus der durchaus ertragreichen Mottenkiste der DDR-Kriminalliteratur hervor. Allerdings kann ihre Einschätzung, dass Kauls Roman in der Verbindung von Krimi und Geschichte eine Ausnahme innerhalb des Literatursystems der DDR gewesen sei (S. 226), nicht überzeugen. Vielmehr wurde in der DDR die geschichtsaufklärerische Dimension des Kriminalschemas schon in den 1950er-Jahren erkannt: Während man die Integration von Kriegsverbrechen in den Korpus der sozialistischen Kriminalliteratur forderte5, nutzte man das Kriminalschema im Zuge des Ost-West-Konflikts dazu, den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR in Abgrenzung zur Bundesrepublik zu popularisieren.6 Insofern könnte man gerade der DDR-Kriminalliteratur trotz ihrer weitgehend miserablen literarischen Qualität eine wichtige Vorreiterrolle in der Verknüpfung von Geschichte und Krimi zusprechen.

Insgesamt bietet der Sammelband vielfältige Einblicke in die Beziehung von Geschichte und Krimi, wobei es von Verlagsseite dienlich gewesen wäre, kurze Autoreninformationen beizufügen. Die Aufsätze geben wichtige Anhaltspunkte, um den Kriminalroman für eine literaturgeschichtlich erweiterte Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu nutzen, und sie versuchen zudem, die Bedeutung des historischen Kriminalromans für die Geschichtskultur zu eruieren. Doch hier stellt sich nach der Lektüre die Frage, was es für Geschichts- und Erinnerungskulturen eigentlich heißt, Geschichte zunehmend im Modus des Kriminalromans darzustellen. Implizit geben die Beiträge zwei Antworten: Wird die Lösung eines Kriminalfalls dargeboten, so handelt es sich wohl meist um Erfolgsgeschichten historischer Aufklärung. Krimis ohne erfolgreichen Ausgang hingegen signieren die vergangenen Gegenwarten als Verfallsgeschichten – mit der (bisweilen tragisch scheiternden) Hoffnung auf Besserung.

Anmerkungen:
1 So die meisten Beiträge in: Kai Brodersen (Hrsg.), Crimina. Die Antike im modernen Kriminalroman, Frankfurt am Main 2004.
2 Vgl. Elfriede Müller / Alexander Ruoff, Histoire Noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman, Bielefeld 2007.
3 Vgl. Mark Seltzer, Serial Killers. Death and Life in America’s Wound Culture, New York 1998.
4 Vgl. etwa Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte der Kriminalliteratur, Frankfurt am Main 1987, und auch Alison Light, Forever England. Femininity, Literature and Conservatism between the Wars, London 1991.
5 Vgl. etwa Hans Pfeiffer, Die Mumie im Glassarg. Bemerkungen zur Kriminalliteratur, Rudolfstadt 1960, insbes. S. 136-151.
6 Walter T. Rix, Krimis in der DDR. Sozialistischer Seiltanz, in: die horen 31 (1986), H. 144, S. 71-77.

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