Über den Schriftsteller Uwe Johnson existiert das Bonmot, man müsse ihn eigentlich unter die Historiker zählen, hätte er nur nicht so gut geschrieben. Für Historiker steht hinter dieser Sentenz eine ernstzunehmende Herausforderung. So hat der Schriftsteller Jorge Semprún im Hinblick auf die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenvernichtung vorausgesagt: „In fünfzig Jahren wird sich das kollektive Erinnern an die Schoah nicht auf Hilberg beziehen. Sondern auf Littell. Die ‚Wohlgesinnten’ werden die Wahrnehmung prägen, nicht die Historiker.“1 In den Feuilleton-Debatten um Uwe Tellkamps „Der Turm“ oder auch um Hans Magnus Enzensbergers „Hammerstein“ wurde den Autoren ebenfalls bescheinigt, sie hätten der akademischen Geschichtsschreibung sehr erfolgreich Themen entwunden. Sind Schriftsteller auf lange Sicht die besseren, da wirkungsmächtigeren Historiker?
So weit geht Wolfgang Hardtwig nicht, auch wenn er den einleitenden Beitrag des von ihm und dem Literaturwissenschaftler Erhard Schütz herausgegebenen Sammelbandes über „Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945“ mit Semprúns Prognose beginnt. Zwar postuliert der Historiker Hardtwig – in vielen seiner Themen bereits seit langem ein Grenzgänger zwischen Geschichte, Literatur und Kunst –, es sei dringend geboten, „dass sich nun auch die betroffenen Wissenschaften, die Geschichts- und Literaturwissenschaft, der Frage annehmen, in welcher Weise die literarische Geschichtserzählung Vergangenheit präsentiert, was ihre Spezifik gegenüber der historiografischen Darstellung ausmacht und was ihre aktuelle Konjunktur für das Geschichtsbewusstsein bedeutet“ (S. 9). Doch nach wie vor gilt ihm die Geschichtswissenschaft als letztlich unverzichtbare Grundlage auch jeder literarischen Verarbeitung von Zeitgeschichte sowie als wichtigstes Mittel gegen eine drohende „Unterhaltungsindustrialisierung“ (S. 25) der Vergangenheit. Das steht aber in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Hardtwigs einige Seiten zuvor geäußerter Ansicht, der Literatur komme durchaus eine kritische Funktion zu, da sie an historischen Themen oft bislang Ungedeutetes und Verdrängtes thematisiere.
So stellt sich die Frage: Nimmt eine solche Position die Deutungskonkurrenz zwischen wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher, massenmedialer Verarbeitung und Deutung von Zeitgeschichte hinreichend ernst? Die Einschätzung des Mitherausgebers Schütz, der eine zweite Einleitung beisteuert, fällt jedenfalls skeptischer aus. Die konstatierte Konvergenz zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur erscheint ihm „weniger [als] ein Ausweis von selbstbewusster Akzeptanz der Ambivalenz und Opazität der Welt und ihrer Läufte, [...] denn [als] Indiz einer Krise“ (S. 28).
Die 15 – ganz überwiegend von Literaturwissenschaftlern verfassten – Beiträge des Bandes widmen sich durchweg Themen der deutschen Zeitgeschichte in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg und sind damit inhaltlich enger ausgerichtet, als es der Untertitel des Bandes nahelegt. Gleichwohl ist diese Schwerpunktsetzung angesichts von sechs Jahrzehnten deutsch-deutscher Literaturgeschichte eine sinnvolle Beschränkung. Gegliedert sind die Aufsätze in drei Sektionen: „Perspektiven und Gattungsvarianten“, „Phasen und Einschnitte“, „Jetztzeit“. Die Zuordnung der Beiträge zu diesen Abschnitten wirkt indes ein wenig beliebig und vermag nicht in allen Fällen zu überzeugen.
Einer der interessantesten Beiträge des Bandes greift weit über die Literatur hinaus und rückt mit Film, Musikvideo und Comic auch andere Medien in den Blick. Alexandra Tacke schließt an Norbert Freis Diktum an „Soviel Hitler war nie“2 und widmet sich in vergleichender Perspektive dem Kinofilm „Der Untergang“ sowie dem von Walter Moers gezeichneten Comic „Adolf. Der Bonker“, der inklusive Musikclip bereits für sich ein multimediales Ensemble bildet. Zugespitzt formuliert, ist „Mehr Moers wagen“ ein Ergebnis von Tackes ebenso unorthodoxen wie klugen Erörterungen. Während sie bei „Der Untergang“ einen problematischen, da nur wenig reflektierten Umgang mit Authentizität, ja eine „Fetischisierung von Authentizität […] Hand in Hand mit einer Fetischisierung von schauspielerischen Techniken der Imitation“ ausmacht (S. 277), gilt ihr „Adolf. Der Bonker“ als besonders gelungen, da diese hybride Form „die lange Inszenierungs- und Rezeptionsgeschichte der unterschiedlichen Hitlerbilder“ in den Vordergrund stelle. Moers werfe so die Frage auf, „ob es das ‚authentische’ Bild von Hitler“ überhaupt geben könne, so Tacke (S. 281).
Selbst wenn man der Autorin vielleicht nicht in allen Details folgen mag – anregend bleibt dieser ungewöhnliche Vergleich zweier neuerer Auseinandersetzungen mit Hitler allemal. Nicht zuletzt weist Tackes Beitrag implizit zurück auf das in den beiden Einleitungen angerissene Problem, wie es um die Geschichtswissenschaft in der massenmedialen Konkurrenzsituation stehe. Ist es nicht so, dass der Moers’sche Umgang mit Geschichtsbildern, gleichsam selbstreferenziell, ausschließlich mit populären Deutungsfragmenten hantiert, die sich von wissenschaftlichen Grundlagen längst emanzipiert haben?
Die NS-Zeit steht nicht allein in Tackes Beitrag im Mittelpunkt. Etwas mehr als die Hälfte der Aufsätze befasst sich mit literarischen Werken, die thematisch um den Nationalsozialismus und dessen Nachgeschichte kreisen – neben Arbeiten von Günter Grass, Alexander Kluge, Walter Kempowski werden auch Romane von Autoren der mittleren (Hans-Ulrich Treichel, Thomas Lehr) oder der jüngeren Generation zum Gegenstand (Katharina Hacker, Tanja Dückers und Marcel Beyer). Gelegentlich ergeben sich dabei ganz ungewöhnliche Konstellationen. In seinem Aufsatz „Spuren der Zeitgeschichte in Zukunftsphantasien früher DDR-Gegenwartsromane“ etwa legt Marc Silberman dar, dass hier nicht nur die Anstrengungen des Neuaufbaus und die Wandlungsfähigkeit der Menschen gepriesen werden. Neben allem Fortschrittsoptimismus scheine mehr als deutlich auf, wie sehr auch die frühe DDR eine post-nationalsozialistische Gesellschaft gewesen sei. Dem sozialistischen Aufbauroman sei durchaus „die Ratlosigkeit eines autoritären Antifaschismus“ eingeschrieben gewesen (S. 46). Mit anderen Worten: In diesen ostdeutschen Romanen konnten mindestens implizit Fragen verhandelt werden, die in den Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der DDR – zumal in den 1950er- und 1960er-Jahren – schlicht nicht thematisierbar waren.
In den Aufsätzen wird herausgearbeitet, dass sich in den literarischen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus – bei allen Unterschieden im Einzelnen – vor allem die folgenden Punkte auffinden lassen: das Reflektieren über die Unzulänglichkeit der Darstellung im Zusammenhang mit der Frage, ob es die eine richtige Perspektive überhaupt geben könne; das Nachdenken darüber, wie eine angemessene Erinnerung aussehen und wie diese in der Generationenfolge gewährleistet werden könnte; schließlich das Durchspielen alternativer Szenarien zum realgeschichtlichen Verlauf. Dies alles verhandelt die untersuchte Literatur vorzugsweise mit dem Fokus auf individuelle Protagonisten und deren Erfahrungen bzw. anhand von familiären Konstellationen.
Der letzte Aspekt legt unmittelbar einen Brückenschlag zu den Arbeiten der Forschungsgruppe von Harald Welzer zu Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis nahe3, aber auch darüber hinaus bieten sich Anregungspotenziale für die akademisch verfasste Zeitgeschichte. Dazu zählt etwa die Mahnung, die Geschichtsschreibung möge die künstlerischen Fiktionen alternativgeschichtlicher Verläufe ernstnehmen, da sich in ihnen Wünsche mit möglicherweise auch realgeschichtlicher Wirkungsmacht artikulierten (siehe Schütz’ Aufsatz „Der kontaminierte Tagtraum“), oder auch der Hinweis, dass die Tradierung von Erinnerungen über Generationen hinweg in etlichen Fällen notwendig defizitär sein müsse, da sich körperlich eingeschriebene Traumatisierungen durch Sprache nicht hinreichend repräsentieren ließen (siehe Katja Stopkas Aufsatz „Vertriebene Erinnerung“). Viele der untersuchten Romane könnten als metahistoriografisch charakterisiert werden, da sie, sei es explizit oder eher implizit, auch über Fragen der Historiografie, des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtstheorie reflektierten (so Meike Hermann in ihrem Aufsatz). In anderen Beiträgen rücken am Beispiel der Romane von Uwe Timm und Rainald Goetz schließlich auch die 1960er- und 1970er-Jahre in den Fokus. Für Thomas Wegmann stellt Goetz’ Roman „Kontrolliert“ eine instruktive Mischung aus Metafiktion und Metahistoriografie dar, da er die Medialität von Roter Armee Fraktion und Terrorismus selbstreflexiv integriere.
Mit Zeitgeschichte hat der zweite hier vorzustellende Sammelband eher indirekt zu tun – nämlich nicht oder nicht vorrangig auf der Ebene der dargestellten Inhalte, sondern im Sinne einer Gattungsgeschichte. Es geht hier um eine Bücherkategorie, deren Existenz und Erfolg auf dem Buchmarkt von etlichen Historikern nur naserümpfend zur Kenntnis genommen wird: das Sachbuch. Der Band präsentiert Ergebnisse des 2005 bis 2008 von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Projekts „Das populäre deutschsprachige Sachbuch im 20. Jahrhundert (1918–2000). Geschichte, Theorie und Praxis einer literarischen Gattung“, einer Kooperation von Forschern der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Universität Hildesheim.4 In ihrer Einleitung zum Sammelband „Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert“ suchen die Berliner Literaturwissenschaftler Andy Hahnemann und David Oels nach einer Definition: Was ist eigentlich ein Sachbuch?
Die Antwort der Herausgeber fällt ernüchternd aus: „Mit der analytischen Prägnanz des Begriffs ‚Sachbuch’ ist es […] nicht besonders weit her.“ (S. 17) Hahnemann und Oels wenden diesen Befund indes positiv, indem er ihnen als Ausgangspunkt dient für eine breit angelegte Bestandsaufnahme „von Prozessen [...] im Dreieck von Wissen, Markt und Literatur“ (S. 17). „Wissen“, „Markt“ und „Literatur“ lauten daher die Überschriften der drei Sektionen, denen die insgesamt 18 Aufsätze zugeordnet werden – auch hier gelegentlich mit einer gewissen Beliebigkeit. Vor allem die Kategorie des Marktes bleibt recht blass.
Bereits der erste Beitrag rückt das Sachbuch vom Rand in das Zentrum der Wissenschaft. Oliver Hochadel belegt, dass das populäre Sachbuch in der Paläoanthropologie gleich mehrere Funktionen erfüllt. In Zeiten der medialisierten Wissenschaft dienen solche Sachbücher nicht zuletzt dem Fundraising für kostenträchtige Grabungsexpeditionen. Zudem fungieren sie „als erweitertes Schlachtfeld“ (S. 35) im Hinblick auf fachliche Kontroversen sowie als Metamedium, in dem die großen Linien gezogen und grundsätzliche Fragen erörtert werden. Populärwissenschaftliche paläoanthropologische Sachbücher sind zugleich Teil der disziplinären Außendarstellung wie der innerdisziplinären Selbstverständigung und damit weit mehr als bloße Medien einer zum Zwecke der leichteren Konsumierbarkeit vereinfachten Wissenschaft.
Interessanterweise gilt dieser Befund auch für die Geschichtswissenschaft, wie gleich zwei Beiträge erhellen. Carsten Kretschmann zeigt in seinem Aufsatz über „Das Bismarck-Bild im Werk Sebastian Haffners“, dass Haffner eine eigenständige Interpretation des Reichskanzlers „jenseits von Apotheose und Verdammung“ darbot (S. 96) – und damit jenseits der zu seiner Zeit dominierenden fachwissenschaftlichen Lesarten. Den großen Linien in der Entwicklung des historischen Sachbuchs folgt Martin Nissen. Er sieht für die Zeit ab den 1960er-Jahren eine zunehmende Emanzipation dieses Genres von der etablierten Fachwissenschaft. Sachbücher suchten Mängel der akademischen Historiografie aufzuzeigen und präsentierten „eigenes, neues und häufig provokatives Wissen“ (S. 51). Die Wissenschaftspopularisierung im engeren Sinne bilde eher eine Ausnahme.
Nimmt man Sachbücher nicht nur in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft unter die Lupe, sondern betrachtet sie unter ökonomischen Vorzeichen, so erscheinen manche offensiven Frontstellungen gegen die Fachwissenschaft wesentlich als marktgesteuert: Das Sachbuch wird als Unterhaltungsmedium erkennbar. Das Konzipieren von Sachbüchern für den Markt ist dabei kein Phänomen des späten 20. Jahrhunderts, wie es larmoyant-eloquente Klagen über die Kommerzialisierung des Buchbetriebs nahezulegen scheinen. Vielmehr lässt sich eine derartige Marktorientierung bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert finden. Katrin Völkner weist dies am Beispiel der Sachbuchreihe „Die Blauen Bücher“ des Verlegers Karl Robert Langewiesche nach. Zur Zeit des Nationalsozialismus war der Buchmarkt dann verstärkt politisch überformt. Wer sich als Autor oder als Verleger zu behaupten wusste, ohne sich ideologisch allzu sehr zu exponieren, hatte zumeist auch später wieder gute Karten, demonstrieren Andy Hahnemann und Julia Bertschik in ihren Aufsätzen. 1945 war auch für den Sachbuchmarkt keine „Stunde Null“. Dennoch setzten Marktprozesse einige neue Trends. Christian Schärf legt dar, wie sehr sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Essay und Sachbuch aufeinander zu bewegt haben. Der Essay, einst radikal subjektiv, sei förmlich in die Gattung Sachbuch eingemeindet worden. Das Sachbuch könne daher „als das literarische Hybridphänomen der Jetztzeit schlechthin“ gelten (S. 280).
Der akademischen Zeitgeschichtsschreibung respektive der Geschichtswissenschaft insgesamt stünde es gut an, beide Sammelwerke als Anregung zu begreifen, um stärker als bislang den eigenen Standort im Dreieck von Wissen, Markt und Literatur zu reflektieren.
Anmerkungen:
1 Ohne die Literatur stirbt die Erinnerung. Gespräch mit Jorge Semprún, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.2.2008, S. 35.
2 Norbert Frei, 1945 und wir. Die Gegenwart der Vergangenheit, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 7-22, Zitat S. 7.
3 Vgl. nur Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschugnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.
4 vgl. <http://www.sachbuchforschung.de> (19.03.2010).