Deutsche Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert

Schütz, Erhard; Hohendahl, Peter Uwe (Hrsg.): Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands. Essen 2009 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-89861-891-5 244 S. € 22,90

: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-59225-6 544 S., 92 Abb. € 29,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Dass die beiden vorliegenden Publikationen ein gemeinsames Ziel verfolgen, scheint zunächst hinter ihren denkbar unterschiedlichen Präsentationsformen zu verschwinden: hier der aus einer Tagung hervorgegangene Sammelband, der in schmuckloser Aufmachung und mit etwas leseunfreundlichem Satzspiegel ein Dutzend Aufsätze bietet, in denen sich meist Qualifikationsschriften unterschiedlicher Couleur und Provenienz spiegeln; dort die gediegen ausgestattete, reich bebilderte und von einem renommierten Verlag präsentierte Monographie, die sich trotz ihrer wissenschaftlichen Abgewogenheit und des imposanten Anmerkungsapparates vornehm-bescheiden als „Essay“ gibt (S. 24).

Doch das sind Äußerlichkeiten, die nicht über das Verbindende hinwegführen sollten. Beide Publikationen stehen für eine jüngere deutsche Intellektuellengeschichte, die sich nicht mehr vorrangig als Geschichte der großen Ideen, der kanonischen Werke und ihrer genialischen Schöpfer präsentiert, die auf der anderen Seite aber Intellektuelle auch nicht mehr in einem normativen Sinne als öffentliche Wächter der Allgemeinheit begreift. Das jüngere Forschungsinteresse richtet sich vornehmlich auf Intellektuelle als Multiplikatoren von Ideen, Deutungen und Weltbildern und gilt daher ihren kommunikativen Strategien, ihrer Rolle bei der (medialen) Herstellung von Öffentlichkeit, ihren sozialen Netzwerken und institutionellen Anbindungen. Darin enthalten ist einerseits ein gesteigertes Bewusstsein für das Problem, unter welchen Umständen Intellektuelle zu Repräsentationsfiguren und Projektionsflächen werden können. Andererseits lässt sich durch die wechselseitige Spiegelung von Biographie, historischer Lebenswelt und Ideenproduktion auch die Bedeutung persönlicher Eigenheiten, Eitelkeiten und Ambitionen angemessen einbeziehen. Dass nicht jede intellektuelle Position aus benennbaren Ideen heraus erklärt werden kann und muss, befreit den Blick von einer gerade für das 20. Jahrhundert verzerrenden Fixierung auf die großen Theorien und Ideologien.

Der Sammelband von Erhard Schütz und Peter Uwe Hohendahl, der auf eine längerfristige transatlantische Arbeitsbeziehung zurückgeht, thematisiert derartige Ansätze am Beispiel des rechtsintellektuellen Milieus nach 1945. Explizit wird hier nach den „kommunikativen Netzwerken“ gefragt (S. 10), in die die intellektuelle Prominenz eingebettet war und in denen jene Vermittler agierten, die öffentlich für bestimmte Personen und Positionen eintraten. Die verschiedenen Beiträge beziehen sich dabei auf ein erfreulich weites Spektrum von Rechtsintellektuellen verschiedenster Herkunft und Wirkungsmacht, wobei die Leitfragen, dem Publikationstypus entsprechend, auf ganz unterschiedlichen Ebenen verhandelt werden.

Den Auftakt setzen einige Überlegungen von Dirk van Laak, der hier seine am Beispiel von Carl Schmitt und anderen konservativen Intellektuellen entwickelte Gegenüberstellung von „Persönlichkeit“ und „Charakter“ nochmals aufgreift.1 Im Hinweis auf eine persönliche Integrität, die auch durch eine noch so große Nähe zur NS-Diktatur nicht belastet worden sei, lässt sich demnach ein intellektuelles Verteidigungskonzept erkennen, mit dem in der frühen Bundesrepublik Kritik abgewehrt und die Deutungshoheit über den eigenen Lebenslauf verteidigt werden sollte. Wie van Laak allerdings einräumen muss, sind diese Überlegungen in erster Linie an „Denkerfürsten“ wie Ernst Jünger, Carl Schmitt oder Martin Heidegger orientiert, weniger hingegen an solchen interessanten Mittlerfiguren, die „weder in Weimar noch in Berlin noch in Bonn oder Berlin-Pankow wirklich erfolgreich waren“ (S. 21).

Diese Einschränkung gilt in ähnlicher Weise auch für die luzide Bilanz von Constantin Goschler, der die neuere Forschung zur rechten Intelligenz in der frühen Bundesrepublik umreißt. Überzeugend erscheint seine zentrale These, dass die seit den 1950er-Jahren bestehende, überaus betriebsame rechtsintellektuelle Szenerie der Bundesrepublik zwar politisch weitgehend machtlos war, sich aber eine dauerhafte Halböffentlichkeit schaffen konnte, die über eigene Sprachregelungen und Wertkriterien verfügte (S. 33).

Von den weiteren, fast durchgängig zu empfehlenden Beiträgen sei an dieser Stelle einzig die schöne Miniatur von Roland Berbig herausgegriffen, der über das Verhältnis der Schriftstellerin Margret Boveri zu Ernst Jünger nachdenkt (einer von fünf Beiträgen, die sich mit den Gebrüdern Jünger beschäftigen!). Obwohl die erste persönliche Begegnung 1950 zwischen der Journalistin und dem solipsistischen Autor eher unergiebig verlaufen war, avancierte Boveri in der Folge zu einer treuen Anhängerin und Künderin, die Jünger als Berichterstatter aus jenen „Brennzonen des Geschichtlichen“ verehrte (S. 96), in denen alle politischen Verstrickungen und Verirrungen sekundär waren. Zugleich zeigt Berbig auf, dass erst eine solche „bekennende“ Attitüde Boveri den Platz in den weitläufigen Kontakt- und Kommunikationsnetzen sicherte, mit denen sich Ernst Jünger gern umgab und die von Armin Mohler als Sekretär und Sympathisant umsichtig dirigiert wurden.

Im Ganzen lassen die Beiträge deutlich erkennen, dass der Radikalkonservatismus der Weimarer Republik in der westdeutschen Nachkriegspolitik zwar nahezu verschwunden war, in den nach 1945 verbreiteten kulturkonservativen Strömungen jedoch immer wieder unerwartet auftauchte. Allerdings drang das oft ästhetisch verbrämte oder philosophisch-spekulative Räsonnement nur selten über die Grenzen einer konservativen Selbstgesprächsgemeinschaft hinaus, wie etwa Gregor Streim am Beispiel von Gerhard Nebel und Egon Vietta andeutet (S. 84f.).

Etwas andere Akzente setzt die glänzende, nicht ohne Grund mit dem Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse prämierte Darstellung von Ulrich Raulff zur Nachgeschichte des George-Kreises. Zwar knüpft das Werk mittelbar an die vor einigen Jahren erschienene, umfangreiche Monographie von Thomas Karlauf an2, doch anders als diesem geht es Raulff weniger um Stefan George selbst als um dessen Gefolgschaft und ihr langsames Auseinanderdriften nach dem Tod des „Meisters“ im Dezember 1933. „Eine Gemeinde verläuft sich“, soll Robert Musil dieses Auseinandergehen lakonisch genannt haben (S. 19), während Angehörige und Nahestehende lieber von „Staats-Zerfall“ sprachen – denn als Staat hatte George seinen ästhetisch durchgebildeten und von ihm subtil gelenkten Kreis stets verstanden wissen wollen. Aufgegliedert in sieben Kapitel, deren kryptische Überschriften erst bei der Lektüre verständlich werden, trägt Raulff Schicht um Schicht eines komplexen Personen- und Beziehungsnetzes ab, dessen Wurzeln bis zum jungen George selbst zurückreichen, dessen filigrane Verästelungen sich aber bis weit in die Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre erstreckten. Dass Raulff den 100. Geburtstag Georges im Jahr 1968 als symbolischen (allerdings nicht nachdrücklich gesetzten) Endpunkt seiner Wirkungsgeschichte herausgreift, ist eine mit guten Gründen vorgetragene, letztlich aber willkürliche Entscheidung.

Das Buch beginnt mit Tod und Grablegung Georges in Minusio am Lago Maggiore. Fast unmittelbar, so zeigt Raulff in seinem ersten Kapitel auf, vertieften sich nun die seit längerem bestehenden Spannungslinien des Kreises, was durch die Entwicklungen zu Beginn der NS-Diktatur mit ihren verführerischen, verwirrenden oder auch erbarmungslosen politischen Optionen, auf die George nicht mehr eindeutig reagieren wollte, dramatisch verstärkt wurde. Während sich Robert Boehringer als Nachlassverwalter eher um Neutralität bemühte und jüdische Mitglieder des Kreises wie Ernst Morowitz und Ernst Kantorowicz in die Emigration gingen, optierten jüngere Anhänger wie Frank Mehnert oder die Gebrüder Stauffenberg begeistert für den Nationalsozialismus, in dem sie sich mit dem Inventar der George’schen Gedankenwelt intellektuell einzurichten trachteten.

Raulff detailliert diese ambivalente Haltung des George-Kreises zum Nationalsozialismus in seinem zweiten Kapitel und stellt dazu vier eher unbekannte „gute Hirten“ vor (so die Kapitelüberschrift in biblischer Anlehnung): Kurt Hildebrandt, Edith Landmann, Ernst Kantorowicz sowie Hubertus Prinz zu Löwenstein, die für die NS-Zeit jeweils einen unterschiedlichen Stil der intellektuellen und politischen Bezugnahme auf George zu erkennen geben. Das dritte Kapitel schließt daran an, weitet aber den Blick auf der Suche nach jenen „Inseln im Strom“, die als Gemeinschaftsbildungen den Geist Georges in sich aufzuheben und eine Lebens- und Arbeitsweise in seinem Sinne zu pflegen versuchten. Zwar vermisst der Leser in diesem Zusammenhang Näheres über Wolfgang Frommels Amsterdamer Runde, die hier sehr knapp (S. 197f.) und auch an anderer Stelle nur en passant behandelt wird. Doch dafür gewinnt man instruktive Einsichten in die um die Geschwister Thierisch und Rudolf Fahrner in Überlingen gegründete „Kolonie“, welche Einflüsse Georges auf eigenwillige Weise mit Impulsen aus Lebensphilosophie, Jugendbewegung und Reformpädagogik kombinierte.

Unter der schönen Bezeichnung als „Argonauten“ werden im vierten Kapitel die amerikanischen Abkömmlinge des George-Kreises behandelt: Morowitz, Walter Kempner, Erich von Kahler und nochmals Kantorowicz stehen jeder auf seine Weise für das Problem, die eigene Passion für Stefan George als ebenso tiefgründigem wie deutschtümelndem Propheten in die amerikanische Gesellschaft der 1940er- und 1950er-Jahre zu transportieren – ein Konflikt, der bereits Löwenstein zu einem halsbrecherischen Balanceakt zwischen esoterischem Heilsglauben und westlichem Rationalismus geführt hatte (S. 178). Raulff bietet hier sorgfältig nuancierte Passagen insbesondere zur Frage, ob ein deutscher „Mandarin“ (Fritz Ringer) wie Kantorowicz aufgrund seiner amerikanischen Erfahrungen George abschwören konnte und wollte oder nicht; zumindest in diesem Fall ist das Plädoyer gegen die Konversions- und für die Kontinuitätsthese eindeutig (S. 325ff.).

Zu den anregendsten Teilen des Buches gehören die im fünften und vor allem im sechsten Kapitel dargestellten Wirkungen und Nachwirkungen Georges in der deutschen Bildungspolitik. George hatte seinen Kreis stets als Bildungsmacht verstanden und vor 1933 einen subtilen, aber nachhaltigen Einfluss auf den pädagogischen Diskurs ausgeübt, der sich über immer feinere Kapillaren und als „andere, verschwiegene Überlieferung“ (S. 434) bis weit in die Bundesrepublik fortsetzen konnte. Als zentrale Akteure in diesem Tradierungszusammenhang werden Carl Heinrich Becker und Werner Picht bzw. ihre jeweiligen Söhne Hellmut Becker und Georg Picht vorgestellt, und wer sich nur ein wenig mit der Bedeutung dieser Personen in der westdeutschen Schul- und Bildungspolitik auskennt, der wird den Einfluss der George’schen Unterströmung nicht zu gering veranschlagen. In der Tat kann Raulff hier ein wirkmächtiges intellektuelles Geflecht freilegen, in dem elitärer Sendungsglauben, Menschenbildnerei und ein emphatisches Erziehungsideal kulminierten.

Zwar ging dieser hochgestimmte Ton individueller Bildung und ganzheitlicher Entfaltung auch in die westdeutschen Bildungsreformen der 1960er-Jahre ein, bestimmte sie aber letztlich nur am Rande. Eine sehr viel größere Anfälligkeit wies hingegen die Reformpädagogik auf, deren tiefverwurzelte Abneigung gegen institutionelle Lehrformen von Beginn mit George’schen Bildungsidealen durchsetzt gewesen war. Gegen die Checks and Balances klarer, an Distanz und Förmlichkeit orientierter Verfahrensordnungen wurde eine Erziehungspraxis gesetzt, welche die emotionalen Bindekräfte einer Gemeinschaft beschwor und auf intensive persönliche Beziehungen gegründet sein sollte, wie es Georg Picht etwa mit seinem Lateinlehrer Josef Liegle erlebt hatte (S. 468ff.). Das Modell einer bedingungslosen, alle äußeren Einflüsse ausgrenzenden Gemeinschaft von Meister und Gefolgschaft ließ sich zumindest problemlos zu einer pädagogischen Beziehung von Lehrer und Schülern transformieren, wobei zuweilen nach dem Vorbild Georges auch ein Verhältnis von sexueller Initiation und Ergebenheit begründet wurde; die letzten Ausläufer dieser „übergreifenden“ Bildungspraxis lassen sich derzeit der Presseberichterstattung zur Odenwaldschule entnehmen.3 Sicher war eine derartige Entgrenzung der Rollen nicht per se in der Reformpädagogik angelegt, aber es lässt sich doch erkennen, dass gerade der Anspruch, den „ganzen Menschen“ zu erreichen, ebenso mühe- wie bedenkenlos alle zwischenmenschlichen Schranken der Distanz, der Privatheit und eben auch der sexuellen Integrität einebnen konnte, wobei wohl gerade die charismatische Suggestion des eigenen Einverständnisses die tiefsten Verletzungen hinterließ.

Solche beunruhigenden Thesen werden von Raulff freilich oft nur angedeutet und sind eher der aktuellen Diskussion geschuldet, in der allerdings nicht ohne Grund immer wieder auf das vorliegende Buch hingewiesen wird. In einem abschließenden Kapitel behandelt Raulff noch eine letzte Reihe der Nachwirkungen Georges, etwa bei Gert Mattenklott in den 1970er-Jahren, lässt dann aber die weitläufigen, sich immer weiter verdünnenden Verästelungen des George-Kreises langsam in die jüngste Vergangenheit eingehen. Im Ganzen handelt es sich um eine vorzügliche, ideenreiche und glänzend geschriebene Darstellung, die zur Lektüre unbedingt empfohlen sei.

Welche Lektionen lassen sich aus beiden Publikationen aber für die deutsche Intellektuellengeschichte gewinnen? Deutlich wird zumindest, wie machtvoll und selbstbestimmt jene Vermittler und Interpreten waren, welche den großen Solitären wie Ernst Jünger oder Stefan George erst zu ihren herausgehobenen Positionen in den (Literatur-)Geschichtsbüchern verhalfen. Die künftige Forschung wird die personale Dynamik innerhalb dieser interpretatorischen Netzwerke und der entsprechenden Gruppen-, Schul- und Kreisbildungen noch genauer in den Blick zu nehmen haben. Dabei reicht es nicht mehr aus, solche Assoziationen ausschließlich von ihrem geistigen Mittelpunkt her zu betrachten und zu erklären. Weitaus interessanter ist die Frage, wie im umgebenden Feld der Deuter und Bewunderer persönliche Motive oder soziale Konstellationen mit intellektuellen Referenzen verquickt wurden, inwiefern also beispielsweise in einer Berufung auf Jünger oder George (oder auch auf Platon) zugleich ein Versuch liegen konnte, für eigene Absichten und Ambitionen eine besondere Handlungsfreiheit zu erlangen. Aus dieser Sicht stellt sich die Intellektuellengeschichte in der Tat weniger denn je als Historie der großen Ideen und ihrer Exponenten dar; vielmehr untersucht sie das bunte Kaleidoskop intellektuellen Handelns und seiner Folgen zwischen beanspruchter Wahrhaftigkeit und situationsbedingtem Opportunismus, zwischen moralischer Flickschusterei und selbstsuggestiver Rationalisierung. Denn es sollte gegen jeden normativen Anspruch festgehalten werden: Auch Intellektuelle neigen zum Selbstbetrug.

Anmerkungen:
1 Vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 2. Aufl. Berlin 2002, S. 105-119.
2 Vgl. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007.
3 Vgl. Kerstin Kohlenberg, Eine schrecklich nette Familie, in: ZEIT, 11.3.2010, S. 17; Amelie Fried, Die rettende Hölle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.3.2010, S. 3; Heike Schmoll, Die Herren vom Zauberberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.3.2010, S. 3; Volker Zastrow, Hänseljagd, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21.3.2010, S. 2f.

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