U. Niggemann: Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens

Cover
Titel
Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681-1697)


Autor(en)
Niggemann, Ulrich
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Klingebiel, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die deutsche Hugenottengeschichtsschreibung ist seit dem späten 19. Jahrhundert stärker noch als andere Zweige der modernen Historiographie von fachfremden und außerwissenschaftlichen Motiven und Wahrnehmungsweisen geprägt worden. Sieht man einmal von den ideologischen Umdeutungen der NS-Zeit ab, die den Faktor Religion durch Rasse ersetzten, so sind die Darstellungen von einer im Wechsel der Generationen kaum modifizierten konfessionellen Sichtweise beherrscht gewesen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der 1890 gegründete deutsche Hugenotten-Verein, der die Hugenottengeschichtsschreibung auf breiter Basis gefördert hat, von Pfarrern und Laien aufgebaut worden ist, die innerhalb des deutschen Protestantismus aus kirchen- und kulturpolitischen Gründen eine Renaissance der reformierten Ordnungsvorstellungen durchsetzen wollten. Dieses Anliegen sollte durch den Rückgriff auf die französischen Réfugiés, die das Martyrium des Glaubenszeugen bereitwillig auf sich genommen hatten, überzeitlich legitimiert werden. Vor allem Henri Tollin (1833-1902), Pfarrer, erster Vorsitzender des Deutschen Hugenotten-Vereins und Autor stoffreicher Monographien und zahlreicher Aufsätze zum Hugenottenthema, hat dieses Programm verkörpert (vgl. N. S. 18, S. 22 und öfter). Neben dieses Hugenottenbild ist im Laufe der Zeit ein anderes getreten, das in der borussischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wurzelt und den reformierten Franzosen eine Vorreiterrolle bei der technologischen und gesellschaftlichen Modernisierung Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg zuweist. Beide Deutungen, die religiöse ebenso wie die säkulare, haben die Darstellungen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg durchwirkt. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erst hat die im Bereich der Frühneuzeitforschung fortschreitende Methodenreflexion und auch die verstärkte internationale Zusammenarbeit dazu geführt, dass die etablierten Geschichtsbilder in Frage gestellt worden sind.

Ulrich Niggemann hat nun den Versuch unternommen, die Phase der Integration der Réfugiés (1681-1697) auf vergleichendem Wege zu untersuchen, und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt, welche Erkenntnisse sich aus diesen Vorgängen hinsichtlich der frühneuzeitlichen Staatsbildung ziehen lassen (S. 5f., S. 9). Die Wahl der deutschen Territorien (Brandenburg-Preußen, Brandenburg-Bayreuth, Hessen-Kassel und Braunschweig-Lüneburg-Calenberg: vgl. zu Auswahl S. 33f.) mit ihren unterschiedlichen Verfassungstraditionen und konfessionellen Prägungen ist im Sinne der Fragestellung sinnvoll und auch England, jenes europäische Land, das bereits Züge des Nationalstaats ausgebildet hatte, bietet sich an, wenn nicht als Maßstab, so doch als Korrektiv. Gegenstand der analytischen Arbeit sind jene politischen und gesellschaftlichen Konflikte, die mit der Hugenottenimmigration einhergegangen sind (vgl. S. 37). Die systematisch angelegten Hauptkapitel des Buches sind den Konfliktfeldern Einwanderung und Ansiedlung (Organisation und Finanzierung, S. 115-225), ländliche Wirtschaft und gewerbliche Wirtschaft (S. 227-285, S. 285-359), rechtliche Stellung (S. 363-413) und Kirchenverfassung (S. 417-526) gewidmet.

Der Verfasser, der sich von handlungs- und kommunikationstheoretischen Ansätzen leiten lässt (S. 30), kommt nach erneuter Prüfung der vielfach bekannten Quellen (vgl. aber S. 37) zu einer ganzen Reihe von Ergebnissen, die zu überzeugen vermögen. Es ist zunächst, um nur die wichtigsten zu nennen, hervorzuheben, dass er nationale oder auch konfessionelle Motive als Gründe für die vielfach beobachtete Abwehrhaltung von Bevölkerungsgruppen der Aufnahmeländer weitgehend ausschließt. Stattdessen sieht er in dem zumal von den Zünften verteidigten Nahrungsprinzip und in der frühmodernen Rechtskultur die Gründe dafür, dass persönliche Ansprüche oft genug erstritten oder eben gegen konkurrierende Kräfte behauptet werden mussten. Etwas zu schnell tut Niggemann dagegen die im Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration der Réfugiés zuletzt insbesondere von Reinke (S. 26 u.ö.) betonten ständischen Abwehrmotive ab: Man muss die Aufnahme der Hugenotten ja nicht als antiständischen Schachzug der Fürsten verstehen, um das oft ablehnende Verhalten der Stände zu erklären. In den Territorien, in denen die ständischen Organe in den Aufnahmevorgang einbezogen waren, hat es jedenfalls keine Abwehrreaktionen gegeben, in Calenberg-Göttingen haben sich die Stände sogar an der Finanzierung beteiligt. Abwehrreaktionen in den Territorien der Hohenzollern, die wenig Achtung vor den ständischen Rechten zeigten, gab es dagegen häufig (vgl. nur S. 129, S. 136, hier Zwangsbeisteuer durch Kirchensammlung, S. 532). Nicht überzeugend behandelt hat Niggemann zudem das Problem der Bürgerrechtsvergabe; er hätte sich mehr darum bemühen müssen, die Zuständigkeit und die Vergabepraxis in den verschiedenen Territorien zu ermitteln (vgl. S. 390-400, hier insbesondere S. 393, mit S. 220f.). Überhaupt ist festzustellen, dass der Autor seine erklärte Absicht, Herrschaft als Produkt eines dynamisch-kommunikativen Prozesses zu erfassen, nur ansatzweise umzusetzen vermocht hat: Da der Beitrag der Stände und der Städte nur bei einzelnen Konflikten sichtbar wird, ohne dass ihr Hintergrund jeweils umfassend einbezogen würde, herrscht aufs Ganze doch jene Perspektive der fürstlichen Regierungen in der Darstellung vor, die gewöhnlich auch in den Akteneditionen dominiert.

Insgesamt hat sich der Vergleich aber wieder einmal als heuristisch taugliches, ertragreiches Instrument erwiesen: Es ist Niggemann gelungen, eine gewaltige Stoffmenge mit Hilfe der älteren und jüngeren Literatur neu zu mustern und im selben Zug dazu zu nutzen, um Interpretationen und Interpretamente der Hugenottenforschung einer Revision zu unterziehen. Die Ergebnisse sind für Kenner der frühneuzeitlichen Migrations- und Gesellschaftsgeschichte nicht unbedingt überraschend 1, aber sie sind noch nie zuvor in dieser systematischen Weise und auf solch breiter stofflicher Grundlage dargelegt worden. Es ist damit die Voraussetzung für eine weiterführende Diskussion geschaffen worden, die das gesamte frühneuzeitliche Migrationsgeschehen und die damit verbundenen Integrationsstrategien im atlantischen Raum einzubeziehen hätte. Die These Niggemanns, der zufolge traditionale Gesellschaften mit personengebundenem Recht eine relativ höhere Integrationsleistung zu erbringen vermochten als moderne Gesellschaften (S. 542), ließe sich dadurch substanziieren.2 Die Dissertation wirft aber nicht nur produktive Fragen auf, sondern führt mit Blick auf die frühmoderne Staatsbildung auch noch Missverständnisse mit sich, die dem Ansatz des Verfassers zufolge überwunden werden sollen. Auch manche Urteile zur englischen Geschichte des 17. Jahrhunderts, die hier nicht erörtert werden können (s. nur S. 14), gehören dazu.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu meine Vergleichsskizze: Thomas Klingebiel, Huguenot Settlements in Central Europe, in: Hartmut Lehmann / Hermann Wellenreuther / Renate Wilson (Hrsg.), In Search of Peace and Prosperity. New German Settlements in Eighteenth-Century Europe and America, University Park/Penn. 2000, S. 39-67.
2 Siehe für die amerikanische Diskussion nur Lauren Benton, Law and Colonial Cultures. Legal regimes in World History. 1400-1900, Cambridge 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension