Titel
Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945


Autor(en)
Bohn, Thomas M.
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Penter, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Die in der Osteuropaforschung lange Zeit eher stiefmütterlich behandelte Stadtgeschichtsforschung erfährt, angeregt durch die Pionierarbeiten Karl Schlögels, in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse. Davon zeugt auch die Habilitationsschrift Thomas Bohns, in der er die Stadtplanung und die Urbanisierungsprozesse in der belarussischen Hauptstadt Minsk nach Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht. Bohns Arbeit bereichert die Forschung um eine empirisch dichte Lokalstudie, die den Blick auf die auch nach der Öffnung der postsowjetischen Archive immer noch viel zu wenig beachtete Peripherie der Sowjetunion richtet. Im Kontext der Belarus-Forschung knüpft seine Untersuchung zur Nachkriegszeit chronologisch an die Arbeiten von Diana Siebert zur Zwischenkriegszeit 1 sowie von Bernhard Chiari 2 und Christian Gerlach 3 zur Kriegs- und Besatzungszeit in Belarus an.

Die Untersuchung untergliedert sich in sieben Kapitel. Nach einer Einleitung, in der Bohn auf Gegenstand und Zielsetzung seiner Untersuchung sowie auf die Quellenbasis eingeht, folgt im zweiten Kapitel eine kurze Einführung in die Grundzüge der Stadtentwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg. Darin beschreibt Bohn zudem den Wandel des städtebaulichen Leitbildes in der Sowjetunion seit den 1930er-Jahren. Den Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel III. bis V., in denen Bohn den Neuaufbau der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Stadt aufzeigt, an dem neben einheimischen Arbeitern und auswärtigen Spezialisten auch deutsche Kriegsgefangene nicht unwesentlich beteiligt waren. Des Weiteren untersucht Bohn hier die Ursachen und Folgen der Migrationsprozesse und Bevölkerungsexplosion, die in Minsk nach 1945 einsetzten. Die Stadtmigration führte dabei zu einer Entvölkerung und Überalterung der weißrussischen Dörfer. In Minsk stellten schlechte Wohnverhältnisse und Wohnungsmangel ein Problem dar, das bis in die Endphase der Sowjetzeit bestehen blieb, wie Bohn in einem weiteren Unterkapitel veranschaulicht. Im sechsten Kapitel spürt Bohn in vier kurzen Fallstudien den Grauzonen und Absurditäten des sowjetischen Alltags nach. Am Schluss folgen eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse sowie ein Anhang mit Tabellen, einem Literatur- und Quellenverzeichnis und einem Personenregister. Zudem verfügt der Band über einen Bildteil mit 35 Abbildungen.

Minsk erfuhr nach dem Ende der deutschen Besatzung einen einschneidenden Stadtumbau und Bevölkerungsaustausch und wandelte sich immer mehr zu einer Stadt der belarussischen Bauern, so könnte man Bohns Kernthese der „Verbäuerlichung von Minsk nach 1945“ zusammenfassen.4 Weil die belarussische Hauptstadt nach der Befreiung von den deutschen Besatzern quasi eine Tabula rasa darstellte, konnten die Prinzipien der sozialistischen Stadtplanung hier in Reinkultur umgesetzt werden. Minsk ist nach Ansicht Bohns also ein Paradebeispiel für eine „sozialistische Stadt“, ein Begriff, den er in seiner Untersuchung als Analysekategorie und zugleich Grundproblem der nachholenden Modernisierung in Ost- und Südosteuropa versteht. Bohn versucht am Beispiel der Musterstadt Minsk also auch allgemeine Probleme der Urbanisierung in Nachzüglergesellschaften begreifbar zu machen.

Um dem „Phänomen Minsk“ auf den Grund zu gehen, hat Bohn in mehreren belarussischen Staats- und Parteiarchiven gearbeitet und ein beeindruckendes empirisches Material zutage gefördert, das er durch die Auswertung von Bildbänden, Stadtführern und Stadtplänen, Adressbüchern, Zeitungen, Memoiren, Belletristik und Propagandaliteratur ergänzt. Der Autor bekennt freimütig in der Einleitung, dass die Darstellung, da es sich um eine Pionierstudie handele, „in weiten Teilen nicht mehr, als durch die Präsentation des empirischen Materials Überzeugungskraft zu leisten“ vermag. Ihm geht es darum, „vorzuführen, wie skurril, chaotisch und widersprüchlich das vermeintlich allmächtige Kommandosystem der Sowjetunion an der weißrussischen Peripherie funktionierte.“ (S. 28) Dies ist bereits eine beachtliche Leistung, die jeder, der einmal in belarussischen Archiven geforscht hat, zu schätzen weiß. Dennoch vermisst man als Leser zuweilen einen Blick auf die subjektiven Lebenserfahrungen der Stadtbewohner und fühlt sich von langen Zahlenkolonnen und 68 Tabellen und Graphiken erschlagen. Der Dualismus von modernen und traditionellen Elementen als Strukturproblem der sowjetischen Urbanisierung wird nur vereinzelt an den Alltagspraktiken der Stadtbewohner deutlich gemacht. Auch die für die sowjetische Wirklichkeitserfahrung so wichtige mediale Repräsentation und Konstruktion städtischer Räume wird bei Bohn nur am Rande thematisiert.5 Weitgehend unberücksichtigt bleiben zudem interethnische Aspekte, beispielsweise die Frage danach, wie sich die Ermordung der belarussischen Juden unter deutscher Besatzung und der massive Zuzug von russischen Arbeitsmigranten in der Nachkriegszeit im Stadtbild und in der urbanen Kultur niederschlugen und ob daraus neue interethnische und soziale Konflikte im Zusammenleben der Stadtbevölkerung erwuchsen. Auch die Nachwirkungen des Krieges werden in der Arbeit abseits von den materiellen Zerstörungen kaum deutlich gemacht.

Dass das Minsk der Nachkriegszeit entgegen einer Äußerung Bertolt Brechts keine langweilige Stadt war, zeigt Bohn am beeindruckendsten in seinem Schlusskapitel zu halböffentlichen Räumen und Grauzonen des Alltags. Auf kurzen 20 Seiten erzählt Bohn anhand von vier ausgewählten Fallstudien faszinierende Geschichten von einem „inoffiziellen Minsk“, die die Grenzen der Kontrolle durch das System im Alltag verdeutlichen. Hier liest man von der zu Beginn der 1950er-Jahre am Stadtrand illegal von findigen Unternehmern erbauten Holzhaussiedlung Nowye Schejpitschi, von erfolgreichem kollektivem Protest frierender Mieter in einer Neubausiedlung am Ende der 1950er-Jahre, von den Aktivitäten der Pfingstler in den Bauernhütten der Stadt, denen die Sowjetbehörden in den 1960er-Jahren ohnmächtig gegenüber standen, oder von einer „Enklave der Entrechteten“ in der Militärsiedlung Wostotschnyj. An anderer Stelle in Bohns Darstellung erfährt man vom Aufbegehren der belarussischen Architekten und Künstler gegen die Generalpläne und imperialen Entwürfe ihrer Moskauer Kollegen für die Umgestaltung der Stadt. In diesen Geschichten, die vom Unterlaufen der von oben auferlegten Regeln, von der Schaffung kleiner Freiräume durch die Stadtbewohner sowie von Meinungsdifferenzen zwischen Zentrum und Peripherie zeugen und die eben auch zum „Phänomen Minsk“ gehörten, liegt das eigentlich Spannende und Wegweisende an Bohns Arbeit. Als Leser wünscht man sich, dass der Autor diesen Geschichten, die er selbst eher als „Kuriositätenkabinett“ der Archive (S. 20) begreift, in seiner Arbeit mehr Raum gegeben und sie stärker in das Gesamtnarrativ eingebunden hätte.

Anmerkungen:
1 Diana Siebert, Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921-1941). Die Zerstörung patriarchalischer Familienwirtschaft, Stuttgart 1998.
2 Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Düsseldorf 1998.
3 Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
4 Zu ähnlichen Ergebnissen war beispielsweise David L. Hoffmann in seiner Studie zum Moskau der 1930er-Jahre gekommen. Vgl. David L. Hoffmann, Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow. 1929-1941, New York 1994.
5 Dass eine solche Perspektive durchaus erkenntnisfördernd ist, hat jüngst Monica Rüthers in ihrer anregenden Studie zu Moskau gezeigt. Vgl. Monica Rüthers, Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Köln 2007.

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