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Titel
Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich - Ein Porträt


Autor(en)
Hoyer, Timo
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Freimüller, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich (1908-1982) war nach seinem Tod für mehr als 20 Jahre nahezu vergessen. Erst in jüngster Zeit ist Mitscherlich als historische Figur wieder entdeckt worden: Nicht weniger als zwei Monographien und zwei Sammelbände zu seiner Person sind seit 2006 erschienen.1 Zum 100. Geburtstag Mitscherlichs am 20. September 2008 hat der Erziehungswissenschaftler Timo Hoyer nun ein „Porträt“ Mitscherlichs vorgelegt. Dieser Titel, aber auch die Tatsache, dass das Buch aus der Familie Mitscherlich heraus angeregt und unterstützt wurde, scheint anzudeuten, dass Hoyer sich auf jene Seite seines Protagonisten konzentriert, die bislang noch am wenigsten ausgeleuchtet ist: die des privaten Alexander Mitscherlich, des dreifachen Ehemanns und siebenfachen Vaters, des Hobby-Ornithologen und Liebhabers moderner Kunst.

Tatsächlich kann Hoyer auf einige bislang nicht zugängliche Briefe aus dem Privatbesitz von Margarete Mitscherlich zurückgreifen, die allerdings kaum neue Informationen bieten (S. 73, S. 91). Ausführliche Gespräche mit der Familie sowie mit ehemaligen Kollegen und Freunden Mitscherlichs scheint Hoyer indes nicht geführt zu haben. Auf die häufig als „Ehe- und Denkgemeinschaft“ bezeichnete Beziehung Alexander und Margarete Mitscherlichs kann er deshalb ebenso wenig näher eingehen wie auf das nicht unkomplizierte Verhältnis Mitscherlichs zu seinen Kindern.

Hoyer folgt stattdessen erneut dem Weg des öffentlichen Intellektuellen Mitscherlich und greift dazu einmal mehr auf dessen umfangreichen Nachlass zurück. Grundsätzlich Neues kann er darin nicht finden, doch schreitet Hoyer diesen Weg in höchster Ausführlichkeit ab – auf mehr als 600 großformatigen, eng bedruckten Seiten. Ausgesprochen problematisch ist allerdings, dass er nicht hinreichend kenntlich macht, wie sehr er sich auf Forschungsergebnisse der bereits vorliegenden Arbeiten zu Mitscherlich stützt – darauf hat jüngst schon Mitscherlichs erster Biograph Hans-Martin Lohmann hingewiesen.2

Mitscherlichs Lebensweg, das wird erneut deutlich, war keineswegs von Beginn an „Ein Leben für die Psychoanalyse“, wie es dieser in seiner Autobiographie nahelegte.3 Vielmehr hatte Mitscherlich in den 1930er-Jahren zunächst Geschichte, später Medizin studiert und war als Buchhändler und Verlagsmitarbeiter tätig. Nach einer dreimonatigen Gestapohaft, die ihm seine Nähe zu dem Kreis um Ernst Niekisch eingebracht hatte, fasste er 1938 eine vielleicht letzte Gelegenheit beruflicher Etablierung beim Schopf und bat Viktor von Weizsäcker, in Heidelberg seine medizinische Ausbildung beenden zu dürfen. Erst während der Kriegsjahre wurde Mitscherlich damit zum Arzt – und erst in den 1950er-Jahren schließlich zum begeisterten Psychoanalytiker, der die Lehre Freuds aus ihrem amerikanischen Exil in die Bundesrepublik reimportierte. Mitscherlich gründete eine psychosomatische Klinik an der Heidelberger Universität und das psychoanalytische Zentralorgan „Psyche“. 1960 hob er in Frankfurt am Main ein psychoanalytisches Ausbildungsinstitut (das spätere Sigmund-Freud-Institut) aus der Taufe. Spätestens damit hatte der begnadete Wissenschaftsmanager der Psychoanalyse einen Platz in der Bundesrepublik erkämpft.

Seit den 1950er-Jahren trat Mitscherlich auch als scharfzüngiger „Zeitkritiker“ in Erscheinung. Die Themen, zu denen er sich zu Wort meldete, waren denkbar breit gestreut: „Atheismus und Antisemitismus, Strafrechts- und Universitätsreform, Städtebau und Studentenbewegung, Geburtenkontrolle, Wiederaufrüstung und Humanismus, Marx, die Beatles und Marihuana, Happenings, Komfort und Konsumzwang, Rainer Barzel, Konrad Adenauer und Willy Brandt, Volkstrauertag und Vietnam, Terrorismus, Ehe- und Jugendprobleme, die Medizinverbrechen im Dritten Reich, die unmenschliche Medizin der Gegenwart“ (S. 15).

Hoyer stellt Mitscherlichs vielfältige Aktivitäten in größtmöglicher Unmittelbarkeit und Ausführlichkeit dar. Er bietet eine Nahsicht auf ein Gewirr von Initiativen und Kontakten, auf realisierte und gescheiterte Forschungs- und Buchvorhaben. Dabei droht nicht nur der Leser zeitweise den Überblick zu verlieren; auch der Autor hat Mühe, seine Darstellung in geordneten Bahnen zu halten. Davon zeugen die häufig eingestreuten steuernden Bemerkungen: „dazu später mehr“ (S. 185, S. 255), „das werden wir noch genauer verfolgen“ (S. 256), „zurück ins Jahr 1963“ (S. 365).

Zuweilen gelingen Hoyer eindrucksvolle Schilderungen, wie beispielsweise diejenige der ersten Amerikareise Mitscherlichs 1951 (S. 279-306). Der Leser vermag hier dem bald faszinierten, bald befremdeten Arzt aus Heidelberg geradezu über die Schulter zu sehen, während dieser Bekanntschaft mit der amerikanischen Psychoanalyse macht und damit die Initialzündung zu seiner persönlichen „Westernisierung“ erlebt. An anderen Stellen jedoch wird Hoyer von der Masse der Quellen fortgerissen, und die Darstellung gerät zur bloßen Dokumentation: So druckt er die Briefe, die Mitscherlich mit Ernst Niekisch sowie mit Ernst Jünger und dessen Frau nach 1945 wechselte, auf fast 20 Seiten in zum Teil voller Länge ab. Nicht nur hier wünschte man sich eine größere Bereitschaft des Autors zum eingangs angekündigten „Aussortieren“ von Informationen (S. 11). Zahlreiche Redundanzen ergeben sich auch zwischen der langen Einleitung (S. 14-64) und dem Hauptteil der Darstellung, der vor allem die Zeit nach 1945 behandelt.

Für die politischen Irrwege, die den Studenten Mitscherlich in den 1930er-Jahren in das Umfeld von Jünger und Niekisch führten, zeigt Hoyer viel Verständnis. Mitscherlich, so Hoyer, „lief eine Zeitlang ‚auf der falschen Seite’ mit“, blieb aber „als Benjamin innerhalb dieses Zirkels eine Figur am Rande“ (S. 78). Später hätten die Erfahrung der Haft, die räumliche und persönliche Distanz zu Jünger und Niekisch sowie die Bekanntschaften mit Karl Jaspers, Dolf Sternberger und René König „den politischen Spurrillenwechsel begünstigt“ (S. 35). Eine unkritische Würdigungsschrift hat Hoyer allerdings nicht geschrieben. Recht scharf ist etwa seine Einschätzung von Mitscherlichs Wirken während der Kriegsjahre. Könne es sein, fragt Hoyer (S. 97), dass Mitscherlich von der „Medizin ohne Menschlichkeit“ nichts mitbekam, die auch „kaum einen Steinwurf entfernt“ an der Heidelberger Medizinischen Fakultät ins Werk gesetzt wurde? Und wenn er später das bloße Funktionieren im NS-Staat als Schuld definierte, dann „hätte sich auch Mitscherlich die Schuldfrage stellen müssen“ (S. 154).

So sehr man Hoyer in diesen Einschätzungen folgen mag: Ihm entgeht die entscheidende Frage, welche Rolle die Erfahrung des Nationalsozialismus für Mitscherlich nach 1945 spielte. Dass er (anders als viele spätere Weggenossen wie Theodor W. Adorno oder Fritz Bauer) „auf der falschen Seite gestanden“ hatte, als es um die Verteidigung der Weimarer Demokratie ging, war Mitscherlich im Rückblick „schmerzlich“.4 Diese Erfahrung war es nicht zuletzt, die ihn zu seinem Lebensthema führte: zu der Frage, wie eine zunehmend desintegrierte, durch keine Traditionsbestände mehr geleitete Massengesellschaft hatte kollektiv auf der falschen Seite stehen können. So kreisten die großen Bücher Mitscherlichs um die Frage, wie die „vaterlose Gesellschaft“ (1963) zukünftig vor ideologischer Verführung geschützt werden könne und welche Rolle die NS-Erfahrung und die nachfolgende „Unfähigkeit zu trauern“ (1967) für die Gegenwart habe.

Diesen Lernerfahrungen, die Mitscherlich aus der konservativen Revolution der 1930er-Jahre ins linksliberale Establishment der 1960er-Jahre führten, misst Hoyer relativ wenig Beachtung bei – wie auch der Tatsache, dass die erstaunliche „Etablierung eines Unangepassten“ (S. 252) und der Aufstieg Mitscherlichs zum „Gewissen der Nation“5 entscheidend mit einer sich verändernden westdeutschen Gesellschaft zu tun hatten. Erst seit den späten 1950er-Jahren wuchs das Interesse an Mitscherlichs psychologisierender „Zeitkritik“, die stets eigentümlich zwischen konservativer Kulturkritik und Demokratisierungsappell changierte. Ohnehin ist die historische Kontextualisierung seines Protagonisten nicht Hoyers erstes Anliegen. Seine knappen Bemerkungen zum Kriegsende, zum „Aufbau der Bonner Republik“ (S. 246f.) oder zur Revolte von „68“ wirken pflichtschuldig eingeschoben, und manche historische Parallelisierung ist allzu flapsig geraten („Scharfe Konflikte mit den Vätern gehörten zu den Erfahrungen der um 1900 geborenen Jugendlichen wie der VW zur ‚Generation Golf’“; S. 69).

Spürbar Feuer fängt der Pädagoge Hoyer dagegen, wann immer sich Mitscherlichs Aktivitäten als „bildungstheoretisches Engagement“ betrachten lassen – und dies ist häufig der Fall, denn Mitscherlich habe sich „nach 1945 fortwährend mit pädagogischen Themen befasst“ (S. 60). Tatsächlich war Mitscherlich „von der nahezu deterministischen Wirkung von Erziehung und Sozialisation […] felsenfest überzeugt“ (S. 61), und „gelingende Erziehung“ war für ihn gleichbedeutend mit „Humanisierung“ (S. 62). Doch die Bedeutung, die Mitscherlich dem Thema zumaß, wird nicht recht verständlich, wenn man nur auf dessen eigene Erfahrung autoritär entfremdeter Erziehung und einer zutiefst unglücklichen Kindheit blickt (S. 66). Die durch Stärkung der „kritischen Ich-Leistung“6 „gelingende Erziehung“ war für Mitscherlich mehr: Sie war die einzige Gewähr dafür, dass zukünftige Generationen gegen ideologische Verführung womöglich immunisiert werden könnten.

Je detaillierter Hoyer die Aktivitäten seines Protagonisten im „Getümmel der Welt“ beobachtet, desto mehr gerät ihm der historische Kontext aus dem Blick; der Zusammenhang zwischen der Geschichte der Bundesrepublik und der Biographie Mitscherlichs bleibt undeutlich. Seinen Anspruch, ein „biographisches Portrait“ zu liefern, „in dem sich die Epoche spiegelt“ (S. 12), löst Hoyer damit nur in Grenzen ein.

Anmerkungen:
1 Martin Dehli, Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007; Sybille Drews (Hrsg.), Freud in der Gegenwart. Alexander Mitscherlichs Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 2006; Tobias Freimüller, Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler, Göttingen 2007; ders. (Hrsg.), Psychoanalyse und Protest. Alexander Mitscherlich und die „Achtundsechziger“, Göttingen 2008.
2 Hans-Martin Lohmann, Im Getümmel der Welt. Den letzten beißen die Hunde, in: Frankfurter Rundschau, 14.10.2008.
3 Alexander Mitscherlich, Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit, Frankfurt am Main 1980.
4 Ebd., S. 84.
5 Hans-Martin Lohmann, Alexander Mitscherlich, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 106.
6 Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963, S. 40.