J. Münkner: Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern

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Titel
Eingreifen und Begreifen. Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Münkner, Jörn
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Busse, Berlin

Der Germanist und Kulturtechnik-Forscher Jörn Münkner ist einer der wenigen aktiven Flugblatt-Spezialisten für die Epoche der Frühen Neuzeit. Seine vorliegende Dissertationsschrift liefert eine beeindruckende Betrachtung der haptischen und manuellen Eigenschaften von Einblattdrucken, die zwischen 1550 und 1700 entstandenen sind. Dabei liefert Münkner kein mediengeschichtliches Kontinuum, das die bereits damals wirkenden Methoden der Informationsvermittlung bis in die heutige Medienwelt aufzeigt. Zu diesen Bezügen äußerte sich bereits 2003 der Mediävist Horst Wenzel in seinem Aufsatz „Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens“.1 Solche Untersuchungen blieben jedoch im Bereich der Literatur- und Mediengeschichte rar – obwohl in den übrigen Geistes- und den Lebenswissenschaften der Hand neue Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, als dem Organ, das den Menschen erst zum Menschen machte und auf die Gehirnleistung zurückwirkt. Ein breites Publikum erreichte das Buch „The Hand. How its Use Shapes the Brain, Language, and Human Culture“ des amerikanischen Neurologen Frank R. Wilson. Dieser stellt das Primat des Geistes über den Körper infrage, indem er den Einfluss der Evolution der Hand auf Kognition und Kultur erörtert.2

Auch Münkner interessiert, inwiefern die Hand des Rezipienten den Wahrnehmungsprozess beeinflusst und wie das vom Produzenten der papiernen Informationsträger im Gestaltungsprozess bedacht worden ist. Dieser Frage wendet sich der Autor im umfangreicheren ersten Teil des zweiteilig gegliederten Buches zu. Dieser Teil A geht auf unterschiedliche Verwendungsweisen der Hand ein, mit deren Hilfe ein Zeigen, Orientieren und Navigieren in den Medien der Frühen Neuzeit befördert wird. In Teil B stehen optische Armaturen als Darstellungselemente im Mittelpunkt. Neben einigen mittelalterlichen Manuskripten setzt sich das Quellenmaterial für beide Teile vorwiegend aus dem umfangreichen Korpus frühneuzeitlicher Flugblätter zusammen. Die untersuchten Druckerzeugnisse unterschiedlicher Provenienz haben verschiedene inhaltliche Ausrichtungen, und sie erzielen ihre Wirkung in der Kombination von Bild, Text und anderen Darstellungselementen. Über ihr Layout und ihre drucktechnische Gestaltung stehen sie zueinander in Beziehung und werden so vergleichbar.

Anstatt die polyfunktionale Valenz der Hand in die den Lebensalltag menschlicher Existenz bestimmende longue durée handwerklicher Techniken und Praktiken einzubetten, fragt Münkner einerseits nach der Hand als Zeichen und Symbol (Teil A, Abschnitt I) andererseits aber nach ihrer haptisch bedeutsamen Wirkkraft in medialen Zusammenhängen und Denkprozessen (Teil A, Abschnitt II). Den Ausgangspunkt bildet seine Beobachtung, dass zahlreiche frühneuzeitliche Flugblätter in einem Spannungsverhältnis von künstlerisch-artifizieller und technisch-fabrizistischer Verfasstheit stehen. Dazu zieht er Exemplare heran, auf denen Drehscheiben oder Papierklappen angebracht sind, die der damalige Rezipient betätigen sollte: Klappbilder, auf denen durch aufgeklebte Papierteile oftmals erotische Zonen oder Szenen verdeckt und erst nach Lüften dieser Klappen offenbar werden. Dabei geht es nicht vordergründig um das Entblößen, sondern darum, das Interesse des Rezipienten zu wecken, um ihm sogleich moralische Lehren zu erteilen. Ein anderes Beispiel sind Blätter, die gefaltet werden müssen, damit sich ihr Kommunikat vollständig bzw. in intendierter Reihenfolge offenbart, etwa der zeitliche Ablauf historischer Ereignisse.

Anhand der zahlreichen Quellen wird gut nachvollziehbar, wie das, was Münkner als „apparative Mechanik“ (S. 96) der Blätter bezeichnet, grundsätzlich durch die bei der Konzeption der Blätter mitgedachte Hand vorbereitet wird. Um unterhaltsame Vorher-Nachher-Effekte und Schein-Sein-Enthüllungen im Umgang mit den Medien herbeiführen zu können, die dann für Kurzweil und Vergnügen sorgen, bedarf es der zugreifenden Hand von außen. Bei der Herstellung des Blattes wurde sie als latentes von Anfang an konstruiertes Agens bedacht. Der Autor untersucht, auf welche Weise die Hand des Rezipienten bei der Auseinandersetzung mit den Medien auf die eine oder andere Weise eingefordert und aktiv wird. Ihm geht es in der Studie weniger darum, was die Blätter darstellen und kommunizieren, sondern wie sie dies tun.

Mag man anfangs fragen, worin der Nexus zwischen den beiden Hauptteilen A und B besteht, erhellt sich dieser durch die Fragestellungen des zweiten Teils: Wie wird ein Betrachten und Lesen durch eine medial codierte Wahrnehmungslenkung mittels symbolisch dargestellter optischer Instrumente wie Brillen, Spiegel und Vergrößerungsgläser beeinflusst? Wie genau werden optische Vergrößerungs- und Verkleinerungseffekte in den Blättern eingesetzt? Münkners These lautet, dass die auf den Blättern verwendeten Darstellungen optischer Geräte als Visualisierungswerkzeuge nutzbar gemacht werden, indem sie Appellzonen markieren. Verklammert werden die Teile A und B nun durch die übergreifende Frage nach den kulturtechnisch und poetologisch bedeutsamen Strategien einer Aufmerksamkeitslenkung. Mit Bezug auf die exponierte Funktion der Hand stellt sich heraus, dass sie in Teil B ebenso auf den Plan tritt, nämlich als zwar unsichtbare, dafür gleichfalls unentbehrliche Haltehand der optischen Werkzeuge.

Im abschließenden Abschnitt II von Teil B widmet sich der Autor schließlich Blättern, die er als „technische Bilder“ bezeichnet. An die Blätter stellt er die Frage, wie sie als serielle Produkte die Wahrnehmung dynamisieren – ähnlich filmischer Szenenanordnungen. Die markierten Darstellungsräume in den Blättern geben Aufschluss über ein zeitgenössisches Bedürfnis, privilegierte Blickperspektiven durch ein instrumentell gestütztes Sehen herzustellen.

Jörn Münkner verdeutlich in seiner Studie anhand von frühneuzeitlichen Flugblättern, dass der Kommunikationsprozess nicht nur über Auge und Ohr abläuft. Das Spektrum an Ausdrucks- und Mitteilungsformen basiert vielfach auf zeichenhaften wie interaktiven Abläufen, während derer die Hand prominent verwendet wird. Im Rückgriff auf eine traditionell verankerte Handsymbolik und auf haptische Traditionen unterstreicht dies wiederum den Körperbezug als wesentliches Konstituens der untersuchten Medien. Die Hand lässt sich beileibe nicht auf die Funktion eines bloßen Werkzeuges reduzieren. In ihrem Bild und Schema und in ihrer Zurichtungskraft sind Gleichnis- und Erinnerungsfunktion, Symbolhaftigkeit und Rechenhilfe, Kalenderkalkulations- und gestisches sowie manipulatives Potential enthalten und miteinander verquickt. Die medienhistorische Perspektive auf die Blätter verdeutlicht, wie zeichenhaft benutzte optische Armaturen, optotechnische Effekte und Phantasien dazu herangezogen werden, um in den Medien Sichtbarkeit bis hin zu Frühformen von Audiovisualität herzustellen.

Die vorliegende Studie zeigt plausibel, dass zahlreiche Flugblätter mindestens zweifach gerichtet sind, um Erkennbarkeit herzustellen: Sie übernehmen Abbildungen der physischen Hand als Ausdrucksmotiv, Gedächtnishilfsmittel und Zeigwerkzeug, und sie nehmen verschiedene technische Visualisierungsverfahren in Dienst, wozu Klappbilder, Drehelemente, Faltvarianten wie auch ungewöhnliche, zeichenhaft hergestellte Perspektiven gehören. Damit gelingt es Münkner, frühneuzeitliche Flugblätter als mehrfach lesbare und polyfunktionale Objekte herauszustellen, für die eine experimentelle, künstlerische und zugleich durch technische Sachdienlichkeiten bestimmte Machart kennzeichnend ist. Das ist das große Verdient des Bandes. Für weitere historische medienanthropologische Untersuchungen dürfte sich die hier vorgestellte Schrift als grundlegend erweisen – vor allem wegen der ausgesparten Bezüge zu aktuellen medientechnischen Entwicklungen ergeben sich noch weitere Forschungsansätze.

Anmerkungen:
1 Horst Wenzel, Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens, in: Sybille Krämer / Horst Bredekamp (Hrsg.), Bild–Schrift–Zahl, München 2003.
2 Frank R. Wilson, The Hand. How its Use Shapes the Brain, Language, and Human Culture, New York 1998.

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