Der Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus gehört seit Jahrzehnten zu den populärsten und umstrittensten Unternehmungen der Historiker. Nach dem Ende des Kalten Krieges erlebte er eine Konjunktur, die jedoch nicht mit einer methodischen Erneuerung einherging. Der Vergleich war en vogue, vor allem weil die Forschung in den 1990er-Jahren empirisch belegte, dass die Gewalt des Stalinismus hinter der des Nationalsozialismus nicht zurückstand. Mit der heuristischen Kapazität der Methode hatte diese Entwicklung zunächst nichts zu tun, wohl aber mit einer vergleichenden Perspektive. Wer sich mit der Geschichte des Großen Terrors und des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, setzt seine Forschung – womöglich unbeabsichtigt aber meist unvermeidbar – in den Kontext des Diktaturenvergleichs.
Die Gewissheit, dass der Stalinismus und der Nationalsozialismus nicht ohne einander gedacht werden können, legitimiert den Vergleich und hat stets einen guten Teil seiner Faszination ausgemacht. Sie ist gleichzeitig seine größte Falle. Die Tücke des Vergleichs, die damit einhergehenden Suggestionen von Relativierung und hierarchisierendem „Gegeneinanderaufrechnen“ sind mächtig. Jedes dem Thema gewidmete Buch muss sich daher an der Frage messen lassen, inwiefern es ihm gelingt, den historischen Erkenntniswert des Vergleichs jenseits dieser Fallen darzustellen.
Der von den renommierten US-amerikanischen Historikern Michael Geyer und Sheila Fitzpatrick herausgegebene Sammelband „Beyond Totalitarianism“ will eingefahrene Wege des Diktaturenvergleichs verlassen. Über einige Jahre hinweg haben sich Historiker zu Workshops getroffen, um alternative Zugänge und die von einem Autorenpaar zu verfassenden Vergleichsstudien zu diskutieren. Mit diesem aufwändigen und doch überfälligen Verfahren waren zwei Absichten verbunden. Zunächst sollten Historiker beider Fachrichtungen nicht wie üblich nebeneinander, sondern miteinander arbeiten. Damit ging, zweitens, die Hoffnung einher, methodische Ansätze des kultur- und transfergeschichtlich inspirierten Vergleichs in die Praxis zu überführen. Ein derartiger Diktaturenvergleich ist ein ambitioniertes und riskantes Unterfangen, dessen Umsetzung hier nur halb gelungen ist.
Der Sammelband ist nach der längeren Einführung von Michael Geyer (unter Mitarbeit von Sheila Fitzpatrick) in vier Abschnitte – „Governance“, „Violence“, „Socialization“, „Entanglements“ –unterteilt. Exemplarisch sollen im Folgenden Stärken und Schwächen des Bandes anhand einzelner Beiträge demonstriert werden. Der solide, von Yoram Gorlizki und Hans Mommsen verfasste Beitrag zum Thema „Governance“ etwa setzt auf Bekanntes. Beide Autoren vergleichen die innere politische Dynamik des stalinistischen und nationalsozialistischen Herrschaftssystems, deren Strukturen sowie Aspekte des Führerkultes, um überzeugend darzustellen, dass die stalinistische Gesellschaft weitaus stärker „durchherrscht“ war, als die im Nationalsozialismus. Die Gründe sehen sie einmal mehr in der bolschewistischen Klassenideologie, die die alten Eliten per definitionem der Vernichtung preisgab. Die radikale soziale Revolution, die einherging mit der zentralen Machtposition der Partei, einer totalen staatlichen Lenkung der Wirtschaft und dem stalinschen Patronagesystem, legte, so die Autoren, letztendlich die Grundlagen für die Stabilität der den nationalsozialistischen Konkurrenten überlebenden sowjetischen Diktatur. Der Beitrag von Gorlizki/Mommsen entspricht dem derzeitigen Forschungsstand. Er ist jedoch methodisch und inhaltlich wenig innovativ. Darüber hinaus wird nicht klar, welche Frage die beiden Autoren mit dem Vergleich der Herrschaftsstrukturen beantworten wollen. Geht es darum, den Stalinismus als das erfolgreichere, weil radikaler implementierte System zu beschreiben? Wenn ja, dann bleibt rätselhaft, warum die Autoren ihre Intentionen vor den Lesern verbergen, zumal sie schlüssige Antworten geben können.
Die Abwesenheit einer bündigen Frage erschwert auch das Verständnis des Textes von Christian Gerlach und Nicolas Werth im Abschnitt „Gewalt“. Sie plädieren zunächst für den Vergleich mikrohistorischer Gewaltstudien, den sie für eine Täterforschung empfehlen, die in dichter Beschreibung nach den Handlungsmotiven und dem politischen Kontext der Gewalttat fragt. Die Autoren tun gut daran, diesen, in der NS-Täterforschung erfolgreichen Zugang auch für die osteuropäische Geschichte einzufordern, zumal hier Täterstudien nicht nur am eingeschränkten Archivzugang, sondern generell am fehlenden Unrechtsbewusstsein von Nachfolgeinstitutionen scheitern, die sich zunehmend stolz in die Tradition des stalinistischen Terrors stellen. Leider aber belassen es Gerlach und Werth bei diesem Plädoyer. In einer überraschenden Kehrtwende konzentrieren sich die Autoren nicht auf die Täter, sondern auf drei Opfergruppen. Sie vergleichen die Gewalt des Stalinismus und des Nationalsozialismus gegenüber „Asozialen“ und „sozial schädlichen Elementen“, Opfern ethnischer Vertreibung und Kriegsgefangenen. Nutzen und Ziel dieses Vergleichs aber bleiben unklar. Was erfahren wir durch den Vergleich, wenn er uns darüber informiert, dass das deutsche System der Kriegsgefangenenlager weitaus gewalttätiger war als das sowjetische, während in der Sowjetunion „sozial schädliche Elemente“ früher und schärfer gewaltsamen Repressionen ausgesetzt waren? Gerlach und Werth können den Vorteil nicht erklären, den ihre Analyse gegenüber der Einzeldarstellung hat; eine Unterlassung, die umso unglücklicher ist, da sie gerade beim Thema Gewalt erkenntnisfreie Hierarchisierungsreflexe bedient.
Der Sammelband gewinnt an Fahrt, wenn die Autoren auf etablierte Differenzbeschreibungen zur Sowjetunion und dem Dritten Reich verzichten. Es mag paradox erscheinen, dass dabei weniger Neuland beschritten, als vielmehr an frühe Ansätze der Totalitarismusdiskussion der 1930er-Jahre angeknüpft wird.1 Die Aufsätze von Jörg Baberowski / Anselm Döring-Manteuffel, Christopher Browning / Lewis H. Siegelbaum, Peter Fritzsche / Jochen Hellbeck, von Sheila Fitzpatrick / Alf Lüdtke, insbesondere aber der Beitrag von Karl Schlögel und Katerina Clark betonen die Ähnlichkeiten der beiden Regime. Sie fragen nach den gemeinsamen historischen Wurzeln beider Diktaturen, die das Autorenpaar Baberowski / Döring-Manteuffel unter anderem in den Ordnungsvorstellungen der Moderne sieht. Die Homogenisierungsparanoia beider Systeme und der Drang nach jeder Tilgung von Ambivalenz, führten, wie Jörg Baberowski unterstreicht, in die „absolute Katastrophe“ (S. 204) und in ein Gewaltchaos, das in den außerstaatlichen „Ermöglichungsräumen“ des gemeinsam besetzten Polens beispiellos in die Tat umgesetzt wurde.
Der Ansatz eines Diktaturenvergleichs, der von gemeinsamen Wurzeln ausgehend nach den Gründen für die Differenz und ihre Formen fragt, dominiert im dritten Abschnitt „Socialization“. Christopher Browning und Lewis H. Siegelbaum analysieren hier gekonnt die gemeinschaftsstiftende Rolle der Regime. Dass das Ziel die radikale und gewalttätige Herstellung einer neuen Gemeinschaft mittels Identitätszuschreibungen war, setzen die Autoren voraus. Anstatt aber Identitätszuschreibungen als bloße Herrschaftspraxis zu definieren, beschreiben Browning / Siegelbaum einen komplexen und widersprüchlichen Prozess kollektiver Vergemeinschaftung. Die Schaffung einer Klassen- und Rassengemeinschaft erforderte ungeheure Anstrengungen. Es war ein gewalttätiger Prozess, dessen Durchführung jedoch auch Kompromisse erforderte und Nischen schaffen konnte. So war den Bolschewiki durchaus bewusst, dass ihre Feindkategorien dehnbar sein mussten und dass die Rede von der Klassengesellschaft nur als ausgehöhlter Mythos erschien. Und dennoch: Die neue Gemeinschaft entwickelte eine unheimliche normative Kraft, die gesellschaftliche Realität herstellte. Sie veränderte Menschen; ihre Sprache und ihr Aussehen, wenn etwa der prominente Leningrader Parteichef Sergei Kirow in den 1920er-Jahren ängstlich darum bemüht war, in der Öffentlichkeit keine Brille zu tragen, um nicht als Intellektueller angefeindet zu werden. Browning / Siegelbaum gelingt die Darstellung von komplexen Prozessen der Identitätszuschreibung und Aneignung, die in beiden Diktaturen tödliche Gesellschaftsutopien in die Wirklichkeit überführten.
Der letzte Beitrag des Bandes, des Osteuropa-Historikers Karl Schlögel und der Literaturwissenschaftlerin Katerina Clark, befasst sich mit der gegenseitigen Wahrnehmung der beiden Diktaturen. Ihnen gelingt es, den Ansatz einer komparativen Verflechtungsgeschichte überzeugend umzusetzen. Damit widersprechen sie allerdings der verbreiteten Annahme, dass ein Diktaturenvergleich die Zusammenarbeit von Historikern voraussetzt. Clark und Schlögel zeigen, dass eine vergleichende Verflechtungsgeschichte zuallererst die Bereitschaft verlangt, die Grenzen des eigenen Gegenstandes zu hinterfragen. Zugegebenermaßen behandeln sie ein dankbares Thema für eine entangled history. Aber Clark / Schlögel belassen es nicht bei der Analyse von Stereotypen wie dem der wahrlich überstrapazierten „russischen Seele“. Darüber hinaus fragen sie nach der Wirkungsmacht geteilter historischer Erfahrungen wie der eines zusammenbrechenden Imperiums, von Bürgerkrieg und Revolution. Clark / Schlögel plädieren für einen Perspektivwechsel hin zu “reconstructing the contexts, the interactions, the transfers and interplays of 'national histories' in the framework of European civilization” (S. 401). Wie eine De-Nationalisierung des Vergleichs im Kontext der europäischen Geschichte geschehen kann, demonstrieren die Autoren unter anderem am Beispiel der sowjetischen Kulturpolitik der späten 1930er-Jahre, die sich in unmittelbarer Reaktion auf die Bücherverbrennungen in Deutschland als Bewahrer des europäischen Kulturgutes präsentierte und zahlreichen Emigranten eine bald verhängnisvolle Zufluchtsstätte bot.
Insgesamt hinterlässt die Lektüre des Buches einen zwiespältigen Eindruck. Denn leider bleiben zu viele Beiträge inhaltlichen und methodischen Konventionen verhaftet, die zwar über die Totalitarismustheorie hinausgehen, mögliche Alternativen aber nicht umsetzen. Eine gewisse Unentschiedenheit und mangelnde Stringenz mag bei Sammelbänden in der Natur der Sache liegen. Dass hier aber die Chance der vergleichenden Diskussion nahezu vergeben wurde, ist bedauerlich. Zumal der Diktaturenvergleich derzeit nicht nur im Zusammenhang mit dem 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes erneut in das geschichtswissenschaftliche Interesse rückt. Die (wieder-)erwachende Aufmerksamkeit verdankt sich dem Aufbrechen der ideologischen Denkblockaden des Kalten Krieges, in dessen Zuge historische Perspektiven neu ausgerichtet werden. Denn immerhin waren Stalinismus und Nationalsozialismus, wie Katerina Clark und Karl Schlögel betonen, Zwillinge und Rivalen (S. 396). Die Beschreibung dieses Spannungsverhältnisses ist in weiten Teilen ein Forschungsdesiderat, dem in der Tat weder mit der Totalitarismustheorie noch mit Relativierungstendenzen beizukommen ist. Die Unsicherheiten des Buches unterstreichen so den vorhandenen Diskussionsbedarf über kultur- und beziehungsgeschichtliche Zugänge zum Verstehen der europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert.
Anmerkung:
1 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Sich aufs Eis wagen. Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie, in: Mittelweg 36,2 (1993), S. 6-28, hier S. 15.