„Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken.“ Was Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ Eduard über chemische Verhältnisse sagen lässt, um damit das Ehebruchdrama metaphorisch vorwegzunehmen, ist das heimliche Leitmotiv von Philipp Sarasins neuem Buch über „Darwin und Foucault“. So wie es bei Goethe die disharmonischen Elemente sind, welche die scheinbar harmonische Beziehung zwischen Eduard und seiner Frau aufbrechen, um der viel intensiveren Beziehung zwischen Eduard und Ottilie Platz zu machen, so ist es bei Sarasin die geradezu anstößig wirkende Verwandtschaft zwischen Darwin und Foucault, die unsere gewohnten Zuordnungen – Darwin, der Biologist, und Foucault, der Kulturalist – aufbricht. Am Ende kehrt Sarasin diese Zuordnung sogar um: „Foucault war kein Kulturalist“; er war „gezwungen, die Freiheit des Subjekts […] in einer nichtdeterministischen Biologie begründet zu sehen“ (S. 420). Darwins „Konzeption des Gesetzes“ dagegen „erscheint plausibler“, und sein Prinzip der Selektion beschreibe „im präzisen Sinne ‚Kultur‘ [als] grundlegende[s] Prinzip der Evolution“ (S. 423). Bevor er zu diesen Urteilen kommt, entfaltet Sarasin zunächst auf 400 spannenden und gut zu lesenden Seiten jene unvermutete Wahlverwandtschaft zwischen Darwin und Foucault. Ihre eigentliche Überzeugungskraft gewinnt diese Verwandtschaft eben dadurch, dass sie ‚Scheidungen bewirkt‘: dass es Sarasin mit ihrer Hilfe gelingt, das uns so geläufige, weil harmonisch-einfache Gegensatzpaar Biologismus/Kulturalismus zu dekonstruieren.
Sarasin bezeichnet seine Verkupplung widerstreitender Geister eingangs als ein chemisches Experiment, als Vermischung zweier Theorien, deren Gemeinsamkeit darin liege, die Welt dem ‚Säurebad‘ der Historisierung auszusetzen, alles Sein in ein Werden aufzulösen. In dieser „ätzenden Schärfe“ beider Theorien, von Darwin wie Foucault im Begriff der „Genealogie“ umschrieben, liegt nach Sarasin der Kern ihrer Wahlverwandtschaft (S. 9). Und sein Experiment besteht darin, beide Säuren in Erwartung einer „chemischen Reaktion“ zu vermischen. Doch während Goethe in seinem Roman das der Chemie entlehnte Bild – „da doch überall nur Eine Natur ist“ – auf seinen sittlichen Ursprung zurückführt, indem er die Gleichnisrede wörtlich, aber anders als geplant, Geschichte werden lässt, kehrt Sarasin am Ende wieder zur Metaphorik zurück und erklärt sein Gedankenexperiment mit dem Hinweis für beendet, dass schließlich das Labor nicht mit der Natur zu verwechseln sei. So richtig dieser Hinweis ist – er konterkariert ein wenig, was Sarasin im Rest des Buches leistet: nämlich einen ungemein fruchtbaren Dialog konträrer und entfernter Geister in Gang zu bringen, von dem der Leser am Ende gar nicht mehr glaubt, dass er sich einfach „beenden“ ließe.
Von allen Darwin-Büchern, die aus Anlass seines 200. Geburtstags 2009 erscheinen, wird dieses wohl als das intellektuell anregendste gelten können. Unter breiter Berücksichtigung der umfangreichen Rezeptionen, die Darwin und Foucault erfahren haben, lässt Sarasin beide Denker in immer neuen Konstellationen miteinander sprechen, zerstört mit Hilfe des jeweils einen die Mythen, die sich um den jeweils anderen ranken, und entfaltet auf diese Weise Grundstrukturen und Grundprobleme des modernen Weltverständnisses. Denn der Biologismus oder Determinismus auf der einen Seite und der Kulturalismus, Konstruktivismus oder Subjektivismus auf der anderen lassen sich allemal als zentrale Koordinaten des modernen Denkens betrachten, weshalb Sarasin neben Darwin und Foucault noch eine Vielzahl weiterer Theoretiker und Analysten ins Spiel bringen kann: Zeitgenossen der beiden Haupthelden ebenso wie gegenwärtige Stimmen. Sarasins Studie zeichnet sich dadurch aus, dass er jene beiden Achsen des Modernitätsdiskurses eben nicht gegenüberstellt, gegeneinander ausspielt oder vergleichend bewertet, sondern mit der Hilfe Darwins und Foucaults ihr In- und Miteinander verstehen hilft. Denn Sarasin deckt nicht nur immer neue Parallelen zwischen dem Darwinismus und der Diskursanalyse auf, sondern benutzt diese, um die komplexen Debatten, die nicht zuletzt durch die beiden behandelten Klassiker angestoßen wurden, in neuem Licht erscheinen zu lassen. Vom Verhältnis zwischen Natur und Geschichte über die Geschlechterdifferenz und die Wissen(schaft)stheorie bis zum Rassismus und zur Bioethik lässt Sarasin stets beide Protagonisten zu Wort kommen und versteht es, ihre Stimmen zu einer historischen Kritik zu vereinen, die sich konsequent jenseits der Polarität von Biologismus und Kulturalismus bewegt.
Dabei bleibt Darwin, der hier deutlich im Zentrum steht und durch seine Verwandtschaft zu Foucault geadelt wird, dennoch immer ein Kind des 19. Jahrhunderts. Man sollte das Buch keinesfalls als eine Art Ehrenrettung der Darwin’schen Biologie lesen, sondern als das, was es sein will: ein intellektuelles Experiment mit dem Ziel, eingefahrene Denkmuster zu durchbrechen. Aus dieser Perspektive ist es dann in der Tat von einiger Bedeutung, dass sich Darwins so folgenschwere Evolutionstheorie in ihrem Zustandekommen, in ihrer Berücksichtigung von Zufall, Kontingenz und Serialität wie eine Strukturhermeneutik lesen lässt, während umgekehrt Foucaults Kritik des Subjekts und sein Verständnis von Genealogie wie eine fast verzweifelte Suche nach der materiellen Basis aller Geschichte anmutet. Entscheidend aber sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Lesart nicht so sehr für unser Darwin- oder Foucault-Bild, sondern für die Probleme ergeben, die mit dem gerade heute wieder prekären Verhältnis zwischen Natur und Kultur einhergehen. Den (zu) einfachen Gesten, Reflexen und Einordnungen den Boden unter den Füßen wegzuziehen ist Sarasins eigentliches Anliegen. Und wer sich auf den ‚Dialog im Jenseits‘ einlässt, den sein Buch zwischen zwei großen Repräsentanten der Moderne initiiert, wird die Begriffe Biologismus und Kulturalismus nicht mehr allzu leichtfertig verwenden.
Schließlich lädt Sarasins Buch noch zu einem anderen interessanten Projekt ein: nämlich jener eigenen Genealogie nachzugehen, die historisch von Darwin zu Foucault führte. Bisweilen lässt Sarasin zwar die komplexen Rezeptions- und Entwicklungswege aufblitzen, die durch das Ereignis- und Diskursgestrüpp zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts von einem Denker zum anderen verlaufen, doch spätestens am Ende der Kapitel tritt der Historiker zurück und macht dem distanzierten Theoretiker Platz, dem Chemiker, der nach seinem Experiment sieht und die Ergebnisse festhält. Eben dieses Experiment aber – das deutet Sarasin selber mehrfach an – zeugt immer auch von einem historischen Zusammenhang, für den die Namen Darwin und Foucault nurmehr symbolisch stehen und dessen historiographische Aufarbeitung noch aussteht. Jedenfalls würde es sich mehr als lohnen, die hier im theoretischen Labor entdeckte Wahlverwandtschaft in ihrer historischen Genese zu rekonstruieren. Wenn Labor und Natur auch nicht verwechselt werden sollten, so sind sie doch alles andere als getrennte Welten – und am Ende gibt es vielleicht doch ‚überall nur Eine Geschichte‘.