Rolf Schörkens 1981 erschienenes Werk zur ‚Geschichtskultur‘ hieß bescheiden „Geschichte in der Alltagswelt“. Der Sammelband, den Barbara Korte und Sylvia Paletschek als Sprecherinnen der DFG-Forschergruppe „Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen der Gegenwart“ vorgelegt haben, trägt den Aufmachertitel „History Goes Pop“. Möglicherweise ist dies symptomatisch: Auch die akademische Geschichtskultur unterliegt längst einer gesteigerten Aufmerksamkeitsökonomie.
Der Band liest sich insgesamt als eine meist kritische Bestandsaufnahme aktueller Tendenzen in der populären Geschichtskultur. Zu Wort kommen sowohl Praktiker/innen aus Literatur, Museum, Film und Fernsehen als auch Forscher/innen aus den Geschichts-, Medien- und Kulturwissenschaften. Diese Mischung aus Praxis und Theorie bietet viel Informatives über die Situation eines kommerziell zunehmend wichtigeren kulturellen Feldes. Von geringem heuristischem Wert erscheint indes die Entscheidung der Herausgeberinnen, die Beiträge nach Medienarten anzuordnen. Die stete Wiederkehr ähnlicher Grundfragen lässt vermuten, dass nicht die Medienarten das Forschungsfeld strukturieren, sondern die Fragen nach der Medialität und Intertextualität von Geschichte allgemein, dem Verhältnis von „fact“ und „fiction“, Bildung und Unterhaltung, Produktion und Rezeption sowie nach der Offenheit von Geschichtsdarstellungen.
Nach einer ausführlichen Einleitung bilden zehn Thesen des Romanautors Peter Prange den Auftakt. Er betont die Dignität des Genres und wendet sich gegen jede abbildrealistische Zumutung. Der Gegensatz zwischen „Geschichte“ und „Leben“ erscheint allerdings etwas zu scharf formuliert. Denn vielleicht hat die den Leser angeblich kalt lassende „Geschichte ‚an sich‘“ (S. 64) doch mit dem Leben zu tun.
Michael Butter beschäftigt sich mit der „alternate history“, die nicht vom Faktischen, sondern vom Möglichen handelt. Er unterscheidet zwei Idealtypen: den affirmativen Typ, der „durch die Projektion einer (meist) dystopischen Gegenwelt“ (S. 68) die etablierten Narrative stabilisieren hilft, und den revisionistischen Typ, der etablierte Erzählmuster in Frage stellt. Oft, so Butter, ist die „alternate history“ gar nicht alternativ, sondern eine „anti-alternate history“ (S. 73), da sie die alternative Erzählform benutzt, um konservative Werte zu reproduzieren.
Zur Beantwortung der Frage, wie eine Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Mythen das historische Lernen befördern kann, weiß Nicola Eisele einiges aufzubieten: anthropologische Grundmotive, allgemeinpädagogische Zielbestimmungen, Tolkiens Überlegungen zu Fairy-Stories, ein in der Geschichtsdidaktik umstrittenes Kompetenzmodell, das mythentheoretische Analysemodell Jean-Jacques Wunenburgers und eine eigenhändig durchgeführte Befragung einiger Geschichtsstudierender zu ihrem kindlichen Leseverhalten. Insgesamt hinterlassen die Referenzen jedoch einen disparaten Eindruck, zumal am Ende ‚nur’ der Vorschlag herauskommt, die Mittelaltermythen zu ‚dekonstruieren‘.
Martin Nissen untersucht das bisweilen prekäre Verhältnis zwischen Fachhistoriker/innen und Sachbuchautor/innen. Ein Beispiel ist der Sachbuchautor Werner Maser, der unter anderem mit einer detailreichen Hitler-Biographie und als Biograph Helmut Kohls bekannt wurde. Trotz beachtlichem Œuvre traf Maser stets auf die Ablehnung der Historikerzunft – und das zu Recht, folgt man Nissens Analyse. Masers geringes geschichtstheoretisches Problembewusstsein habe zu fragwürdigen Deutungen geführt, bis hin zur „Remythisierung“ von Geschichte (S. 116).
Den Kern von Kees Ribbens’ Beitrag bildet die Analyse eines französischen und eines niederländischen Nachkriegs-Comics. Beiden bescheinigt Ribbens eine national-patriotische Tendenz, da sie die Leser/innen zur Opferbereitschaft für ihr jeweiliges Land anhalten sollten. Beide Geschichten kennzeichne eine vereinfachende Opfer-Täter-Dichotomie, der Rückgriff auf nationale Gründungsmythen und die Aussparung der Kollaborationsproblematik. Doch lassen die Einzelfälle kaum die Verallgemeinerung zu, die Ribbens im Fazit vornimmt.
Matthias Steinles Beitrag über filmische „Dokudramen“ sticht aufgrund seines kritischen Ansatzes besonders positiv hervor. Es gelingt ihm, das Genre in die übergreifenden soziokulturellen, medialen, technischen und ökonomischen Entwicklungen einzuordnen. Die aus „fact“ und „fiction“ montierten Hybride verwenden oft besondere Authentifizierungsstrategien; sie emotionalisieren, personalisieren, sind selbstreferentiell und entlastend und kodieren historische Zeichenkomplexe um. Steinle plädiert hier für ein stärker medienreflexives Vorgehen.
Dass eine solche Reflexivität bei ‚Dokufilmern‘ nicht immer vorauszusetzen ist, deutet der SWR-Archivleiter Edgar Lersch an, der in den Rundfunkarchiven fast keine Belege für ein Nachdenken über die theoretischen Grundlagen des Genres finden konnte (S. 184). Sein Beitrag widmet sich der Entwicklung der besonderen formästhetischen und funktionalen Elemente von Fernsehdokumentationen. Deutlich wird, dass die Bilder oft eher eine illustrative als eine dokumentarische Funktion erfüllen. Thomas Fischer beschäftigt sich ebenfalls mit der Geschichte und den Bausteinen des „dokumentarischen Geschichtsfernsehens“. Ein gewisses Maß an Redundanz liegt in der Natur eines Sammelbandes. Wenn es sich jedoch um bereits andernorts veröffentlichte Texte handelt (Lersch und Fischer), sollten die Herausgeber/innen darauf bestehen, dass die Autoren aufeinander Bezug nehmen.
Der medienpädagogische Gedanke, dass Fernsehen die Wünsche von Zuschauern nicht nur bedient, sondern zugleich deren Sehverhalten formt, bleibt auch in Stefan Brauburgers Beitrag unberührt. Der ZDF-Filmemacher beurteilt den Trend „weg vom Analytischen, hin zu [dramatisierten] Geschichten“ (S. 207) vor allem nach Einschaltquoten. Diese würden zusammen mit empirischen Wirkungsstudien den Erfolg des Genres belegen. Da ZDF-Studien zudem zeigen, dass die Mehrheit der Zuschauer die Dokumentationen für „glaubwürdig“, „seriös“, „kompetent“ und „informativ“ hält (S. 210), scheint eigentlich alles gesagt. Warum das Publikum mit dem Hinweis verunsichern, dass auch Fernsehen nur eine von mehreren möglichen Geschichtsinterpretationen liefert?
Obgleich Wolfgang Hochbrucks Beitrag zu „Delimitationen der Anschaulichkeit im Geschichtstheater“ ein neues Kapitel eröffnet, wirkt er wie eine Replik auf Brauburgers Machergestus. Der Projektleiter der DFG-Forschergruppe unterscheidet systematisch zwischen Rekonstruktion und Vergegenwärtigung von Geschichte und besteht in wohltuender Weise auf einem kritischen Bewusstsein der eigenen Begrenzung (S. 221). Statt auf ausgespielte Szenen setzt Hochbruck auf die „Qualität des innerfilmisch reflektierten Fachwissens“ sowie auf die didaktische Aufbereitung. „[…] lieber reflektiertes Lückenwissen des in der dritten Person erzählenden Living Historian als Geschichtspräsentation als Illusionstheater in der Ich-Form.“ (S. 227f.)
Erwin Keefer, Archäologe am Württembergischen Landesmuseum, durchmisst am Beispiel des steinzeitlichen Einbaums die Geschichte der experimentellen Archäologie. Der mehr beschreibende denn analysierende Text changiert allerdings zwischen der Beschwörung einer „Gefahr der Vulgarisierung“ (S. 242) und der Affirmation erlebnisorientierter Angebote des eigenen Museums (S. 243ff.), das sich vom ARD-Format „Steinzeit: Das Experiment“ ein gesteigertes öffentliches Interesse erhofft hatte.
Eine aus emanzipatorischer Absicht ‚von unten‘ gewachsene Form der Geschichtsaneignung beschreibt Birgit Heidtke in ihrem Aufsatz über feministische Stadtrundgänge. Hier sind die Adressatinnen nicht Konsumentinnen einer zwischen Unterhaltung und Bildung oszillierenden Geschichtspräsentation, sondern selbst Akteurinnen interaktiver und bisweilen investigativer Angebote. Gerade die Rekonstruktion der Geschichte von Marginalisierten lässt es notwendig erscheinen, nicht nur neue Erinnerungsorte zu schaffen oder bisherige umzuwidmen, sondern sogar spielerisch Geschichte zu phantasieren, wobei im Unterschied zu vielen Dokufiktionen das Spiel als solches „offen gelegt“ wird (S. 260).
Dass sich das Erinnern an die NS-Verbrechen zu einer lukrativen Kulturindustrie entwickelt, erscheint wie eine späte Bestätigung für Adornos und Horkheimers kritische Dialektik. Aber nicht nur Dokudramen zur Nazizeit werden heute gewinnbringend verkauft – auch Denkmäler, Museen und KZ-Gedenkstätten fungieren längst als Ziele eines ‚dark tourism‘, wie Erik Meyer in seinem Beitrag konstatiert. Gern hätte man noch erfahren, wie der als prekär charakterisierten Orientierung am Populären zu entgehen wäre. Die Feststellung, dass der Medienwandel auch Möglichkeiten zur Partizipation bereithalte, erscheint jedenfalls etwas dürftig.
Über die Hinter- bzw. Abgründe des auf Partizipation setzenden Online-Lexikons Wikipedia informiert Maren Lorenz. Es lohnt allemal, sich mit den Strukturen dieses wirkmächtigen Echtzeit-Experiments auseinanderzusetzen. Laut Lorenz sind die fluiden Inhalte kaum vor Manipulationen zu schützen, und die Einträge zur Geschichte kennzeichne oft ein positivistisches bis tendenziöses Verständnis (S. 296f.). Beim Edieren setzt sich nicht die ‚fachwissende‘ Minderheit, sondern die halbwissende Mehrheit durch.
Angela Schwarz untersucht schließlich das historische Wissen, das in Computerspielen vermittelt wird. Diese verwenden nicht nur Text-, Bild- und Tonquellen, sondern in einem Crossover auch Reenactments aus Fernsehsendungen oder Spielfilmen. Wer allerdings vermutet, dass die Spiele auf der inhaltlichen Ebene nur ‚schwarz-weiß‘ malen, wird von der Autorin eines Besseren belehrt: Manche Programme seien durch eine erstaunliche Informationsfülle und eine multiperspektivische Darstellungsweise gekennzeichnet.
Trotz der Varianz in der Qualität der Beiträge und des additiven Konzepts hinterlässt der Band den positiven Eindruck, fundierte Einblicke in wichtige Phänomene populärer Geschichtskultur zu vermitteln und neue Fragen aufzuwerfen. Bereichernd ist zudem der häufige Wechsel zwischen Macher/innen- und Forscher/innenperspektive.