Erstmals werden hier drei Texte des Friedensnobelpreisträgers Ludwig Quidde aus der Zeit seines Schweizer Exils ediert, die der Herausgeber im Bundesarchiv, Koblenz und im Dänischen Reichsarchiv, Kopenhagen entdeckt hat. Sie dokumentieren sowohl Quiddes scharfzüngige historisch-politische Analysefähigkeit als auch seine Fehlprognosen. Aus der profunden Biografie von Karl Holl über Ludwig Quidde sind wir zwar über die Existenz dieser Texte unterrichtet.1 Zugänglich für ein interessiertes Publikum waren sie jedoch bisher nicht.
In dem Aufsatz „Deutschlands Rückfall in Barbarei“, ein im Dezember 1933 fertig gestelltes 72 Seiten umfassendes, chronologisch geordnetes Typoskript, das eigentlich anonym publiziert werden sollte, drückt Quidde sein Entsetzen über den Zivilisationsbruch aus, den die nationalsozialistische Herrschaft bewirkt hat. Er charakterisiert deren antisemitische, antidemokratische Ideologie und terroristische Praxis mit dem Ziel, dem Ausland die Brutalität der Nationalsozialisten drastisch vor Augen zu führen. Quiddes Befunde sind heute nicht unbekannt oder originell. Als Zeitzeugnis erhellen sie aber, wie ein linksliberaler Demokrat die NSDAP unmissverständlich bewertete: als eine vom Großkapital finanzierte, auf die Zerstörung von Gewerkschaften, demokratischen Parteien und Organisationen hin ausgerichtete Bewegung. Hinter der Propagandamaske erkennt Quidde den menschenverachtenden Grundzug der Bewegung, ihr Bestreben, die Machtübernahme als legal auszugeben und zugleich mit entsetzlichen brutalen Methoden gegen politische Widersacher vorzugehen. Die Schilderung der Misshandlungen des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Sollmann verdeutlicht exemplarisch, dass das nationalsozialistische Regime die Ausgeburt des Staatsterrors ist. Die Drangsalierung politischer Gegner in der so genannten „Schutzhaft“ und in Konzentrationslagern, die grobe Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien, die ungehemmte Wahlpropaganda unter Benutzung des Rundfunks bei gleichzeitiger Beseitigung der Pressefreiheit, die Massensuggestion durch Reden und nationale Feiern stellt Quidde ebenso als charakteristisch heraus wie den Boykott jüdischer Geschäfte, die Vernichtung der Existenz von jüdischen Gewerbetreibenden und Freiberuflern, die Gewaltenkonzentration und Gleichschaltung, die Durchsetzung des Führerprinzips in Staat und Gesellschaft sowie die Ausmerzung demokratischer Ideen in Schulen, Hochschulen und Bibliotheken. Auffällig dabei ist, dass Quidde die Reichstagsbrandverordnungen nicht besonders hervorhebt, vielleicht ein Indiz dafür, dass er Ende 1933 noch nicht abschätzen konnte, dass diese Verordnungen die Basis für die dauerhafte Installierung einer Diktatur boten.
Die Schilderungen Quiddes zur Phase der Machtergreifung und Machtstabilisierung wären aufgrund der sprachlich klaren Diktion, der chronologischen Gliederung und der knappen Bewertungen durchaus geeignet gewesen werden, einen Beitrag dafür zu leisten, das demokratische Ausland sachgerecht über den terroristischen Charakter der Regierung Hitler aufzuklären. Zur Veröffentlichung ist es aber zu seinen Lebzeiten nie gekommen.
Als grundlegend falsch erweisen sich Quiddes Prognosen, dass sich Hitler an die außenpolitischen Notwendigkeiten anpassen werde und finanzielle Schwierigkeiten seine vollmundigen Versprechungen zur radikalen Reduzierung der Arbeitslosigkeit sich nicht würden einlösen lassen. Als Pazifist setzte er gar 1933 seine Hoffnungen auf einen Militärputsch zur Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes.
Unerbittlich scharf fällt Quiddes Kritik („Die Kehrseite des Friedens“, geschrieben 1938) am „feigen Verrat“ der Tschechoslowakei durch Chamberlain aus, der „allen Traditionen englischer Politik und wesentlichen Interessen des Landes zuwider“ laufe. (S. 113) „Hunderttausende von Deutschen und Tschechen“ seien „geradezu gegen ihren Willen der Barbarei Hitler-Deutschlands ausgeliefert“ worden. (S. 115) Quidde hatte gehofft, seinen Kommentar mit Hilfe des dänischen Historikers Aage Friis in einer dänischen Zeitung „Politiken“ unterzubringen.
Im dritten Text aus der Anfangszeit des Zweiten Weltkrieges setzt Quidde seine Hoffnungen auf „das andere Deutschland“ und skizziert einen Friedensschluss, der zwar Deutschland entnazifizieren, aber einen Rechtsfrieden herstellen sollte, der sich vom Versailler Diktat abhob, um den Nationalisten keine Angriffsfläche für neue Revanchegelüste gegen die Siegermächte zu bieten.
Die zeitgebundenen Texte zeigen, wie ein demokratischer Beobachter den Nationalsozialismus beurteilte und wie schwierig es war, überhaupt eine angemessene Bühne zu finden, um das Ausland wirksam über die Verbrechen im Reich aufzuklären. Sie sind zugleich Dokumente über die Entwicklung Ludwig Quiddes in der Einschätzung der Hitler-Bewegung: Zunächst machte er sich angesichts der blumigen Friedensreden partielle Illusionen über deren friedfertige Außenpolitik. Spätestens 1938 aber reifte seine Einsicht, dass Hitler rigoros auf einen Krieg zusteuerte. Hier waren ihm viele radikale Pazifisten in der nüchternen Einschätzung des Hitlerregimes voraus.
Die Quellentexte sind sparsam, aber hilfreich kommentiert und durch ein detailliertes Personenverzeichnis erschlossen. In einer knapp gehaltenen Einleitung werden die Entstehungszusammenhänge der Texte erläutert. Insgesamt eine ansprechend gestaltete und bebilderte Edition.
Anmerkung:
1 Karl Holl, Ludwig Quidde (1858-1941). Eine Biografie. Düsseldorf Verlag 2007; vgl. Roger Chickering, Rezension zu: Karl Holl, Ludwig Quidde (1858-1941). Eine Biografie. Düsseldorf 2007, in: H-Soz-u-Kult, 19.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-059>.