Rezensionsessay: M. Sapper u.a. (Hrsg.): Russlands Krieg gegen die Ukraine

Cover
Titel
Russlands Krieg gegen die Ukraine. Propaganda, Verbrechen, Widerstand


Herausgeber
Sapper, Manfred; Weichsel, Volker
Reihe
Osteuropa
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Hilger, Max Weber Stiftung Bonn

Bekanntermaßen hat der russische Gesetzgeber am 4. März 2022 Strafvorschriften erlassen, mit denen die offiziellen russischen Sprachregelungen hinsichtlich des Kriegs gegen die Ukraine im In- und Ausland unangreifbar gemacht werden sollen.1 Nicht nur russische Staatsbürger:innen, sondern auch Ausländer:innen können für die Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten und Interpretationen mit langjährigen Haftstrafen belegt werden. Die Vorschriften tragen auf der wissenschaftlichen Ebene dazu bei, jeden offenen und sinnvollen Dialog über Russlands internationale Politik mit Kollegen und Kolleginnen in Russland zu ersticken. Es bleibt einstweilen die Möglichkeit, kritischen Köpfen unter anderem der russischen Geschichts- und Politikwissenschaft ein Forum im Ausland zu bieten. Um es zu nutzen, müssen diese den enormen Mut aufbringen, alle Brücken hinter sich abzubrechen oder sich der Strafverfolgung auszusetzen, mit jeweils ungewissem Ausgang. Diese wissenschaftliche Ausgangslage wird auch in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ nach dem 24. Februar 2022 deutlich. Die hier dokumentierten nichtoffiziellen russischen Stellungnahmen stammen allein aus den Federn von Bürgerrechtsaktivist:innen und Journalist:innen.

Dieses – mittlerweile vorletzte – Heft der Zeitschrift „Osteuropa“ ist im Mai 2022 erschienen. Die Zeitschrift thematisiert im Übrigen die ukrainische Politik und Geschichte sowie die schwierigen ukrainisch-russischen Beziehungen nicht erst seit 2022.2 Die aktuellen Beiträge des Hefts waren in der Regel bis April 2022 abgeschlossen. Da war bereits klar, dass aus dem von Moskau erwarteten schnellen Durchmarsch nach Kyiv nichts wurde. In Deutschland liefen zu dieser Zeit hitzige Diskussionen über die Lieferung sogenannter schwerer Waffen an die ukrainischen Streitkräfte. Sie verzahnten sich mitunter mit innerdeutschen wechselseitigen Vorwürfen hinsichtlich möglicher Versäumnisse und Fehlstellen bisheriger und aktueller Russland- und Ukrainepolitik von Bundes- und Landesregierungen. In den Debatten schimmerte noch Wochen nach dem 24. Februar die Fassungslosigkeit darüber durch, dass Moskau tatsächlich mit großer Wucht eine, so die russische Bezeichnung, „spezielle Militäroperation“ gegen die Ukraine gestartet hatte. Eine große Mehrheit innerhalb der UN-Staatengemeinschaft hatte bereits am 2. März klargestellt, dass sie das russische Unterfangen als völkerrechtswidrige Aggression betrachte.3

Zugleich setzte sich in den Wochen bis April die Erkenntnis durch, dass russische offizielle und offiziöse Stimmen, die eine „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine einforderten, die territoriale Integrität der Ukraine in Frage stellten sowie Staat, Regierung und Nation der Ukraine letztlich die Existenzberechtigung absprachen, keine leeren Drohungen waren. Erschüttert blickte die Welt auf Fotos und Filmausschnitte, die die gnadenlose Belagerung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol zeigten. Früh warfen die ukrainischen Behörden sowie unabhängige Beobachter:innen der russischen Armee Kriegsverbrechen vor, nicht zuletzt im ukrainischen Butscha. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, startete bereits am 2. März eigene Ermittlungen, nachdem neben der Ukraine rund 40 europäische Staaten und Japan Untersuchungen beantragt hatten.4 Dagegen zeichnete Wladimir Putin eben diejenige 64. Brigade, die in Butscha im Einsatz war, „für Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ aus.5 Die Ereignisse und Bewertungen zeugten nicht nur davon, dass sich binnen Tagen ein nahezu unüberbrückbarer Graben zwischen den beiden Nachbarstaaten und -völkern Ukraine und Russland aufgetan hatte. Sie belegten auch, dass Wahrnehmungen und Bewertungen der Ereignisse sowie entsprechende Narrative in Russland auf der einen und in der – keineswegs nur westlichen – internationalen Welt auf der anderen Seite inkompatibel waren.

Liest man die Ausgabe mit einem Abstand von gut drei Monaten erneut, wird deutlich, wie sehr sich mittlerweile in der deutschen allgemeinen Berichterstattung und Perzeption die Themen zumindest in Teilen gewandelt haben. Verschiedene frühere Prognosen und Erwartungen scheinen überholt. Einzelne Problemlagen werden sachlicher diskutiert, das Gesamtbild wird facettenreicher, die Bewertungen genauer – doch in keiner Weise positiver. Man kann diese Entwicklungen als eine Überwindung der ersten Schockstarre oder als sukzessive Gewöhnung an das Undenkbare und Unerträgliche aus sicherer Entfernung rationalisieren bzw. beklagen. Eine Ausdifferenzierung und Versachlichung der Debatten über politische, wirtschaftliche, militärische und eben auch wissenschaftliche Ursachen, Folgen und Lehren des russischen Angriffs wird den langfristigen Standortbestimmungen zugutekommen.

Vor diesem Hintergrund stellt das vorliegende Themenheft einerseits eine zeitunmittelbare Quelle dar. Vor allem aber bietet es aktuelle Orientierungshilfen und wichtige Denkanstöße auch für künftige historische Forschungen. So werden die Interventionen von Karl Schlögel und Gerd Koenen in Debatten um adäquate geschichtswissenschaftliche und erinnerungskulturelle Auseinandersetzungen mit dem 20. und 21. Jahrhundert, die der 24. Februar 2022 zwangsläufig verändern wird, von Belang bleiben. Die Diagnosen von postimperialen Phantomschmerzen oder eines „russischen Versailles-Komplexes“ sind dabei jedoch keineswegs unvereinbar (S. 23). Die Gefahr einer russischen Entwicklung à la Weimar sahen bereits 1990 diverse Beobachter, wenn Marktwirtschaft und Demokratisierung nicht rasch den überhöhten Erwartungen gerecht würden und die Verklärung von angeblichen sowjetischen Sicherheiten darob nicht verblassten.6 Zudem standen auch in den 1990er-Jahren und im 21. Jahrhundert komplexe internationale Beziehungen mit „inneren Dynamiken von Staatswesen“ eher in Wechselwirkung, als dass sie sich einseitig daraus „ableiten“ ließen (S. 16). Zweifellos gehören entsprechende Interdependenzen im gesamten postsowjetischen Raum und in seinen internationalen Beziehungen zu den Dingen, die „wir […] zu diskutieren“ hätten (S. 27). Hierzu zählen auch westliche Ukraineperzeptionen und ukrainische Entwicklungen vor Februar 2022. Fabian Baumann resümiert die lückenhaften Grundlagen, die die historische Ukraineforschung seit 2014 hierfür bereitstellt (S. 299–329). Die Beiträge von Frank Grelka und André Härtel bieten aufschlussreiche erste Ansätze zu Innenpolitik und Geschichtskultur. Darüber hinaus zeigte bereits die Vielfalt globaler Reaktionen, dass internationale Dimensionen und Lesarten des Kriegs über deutschland- und europazentrierte Argumente hinausgehen, wenn auch mit unterschiedlicher Überzeugungskraft. Die klaren Dichotomien, die Debatten über den Umgang mit russischer Politik und Gesellschaft einstweilen prägten, werden in nachträglichen Analysen möglicherweise ausfransen.

Der Ausgang der internationalen strafrechtlichen Verfolgung von völkerrechtlich definierten Verbrechen – Aggression, Völkermord und Kriegsverbrechen – ist ebenfalls noch nicht ausgemacht. Die fünf Autor:innen der Sektion zum Völkerrecht schlüsseln eingehend die komplexen Probleme einer völkerstrafrechtlichen Bewertung von Krieg und Kriegführung auf. Über die Anwendbarkeit einzelner Bestimmungen ist demnach in der juristischen Diskussion noch nicht entschieden. Der Umgang mit Kriegsgefangenen wird in der zukünftigen strafrechtlichen Würdigung eine größere Rolle spielen, als es die Bestandsaufnahmen bis Mai 2022 vermuten lassen. Dabei verweisen alle Analysen im Heft mit Recht auf die sehr begrenzten Möglichkeiten des Internationalen Strafgerichtshofs, selbst nach einer Einstellung der Kämpfe potenzielle Tatbestände und Täter gerade in Russland konsequent zu verfolgen. Bereits 1998 spiegelten das Statut des Gerichts sowie die Weigerung insbesondere großer Staaten, ihm beizutreten, einzelstaatliche Machtinteressen und internationale Spannungen wider. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wird diese politischen Widersprüche im aktuellen Fall mit juristischen Mitteln ebenfalls nicht auflösen können.

Die genaue Dokumentation relevanter Verlautbarungen von Putin, Volodymyr Zelens’kyj und Dmitrij Medvedev ab Mitte Februar 2022 lässt hierbei die Schwächen der von Moskau vorgebrachten völkerrechtlichen Begründungen für seinen Einsatz hervortreten. Generell werden derartige Quellensammlungen, die im Heft kompakt zusammengestellt sind, für die weitere historische Analyse von Motiven, Bewertungen, Strategien und Weltbildern im Kreml und in Kyiv von wesentlicher Bedeutung sein (S. 119–168).

Der dritte Teil des Hefts bietet einen bunten Strauß aktueller militärischer Szenarien, Einzelanalysen etwa von kirchlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten des Kriegs und, wie bereits erwähnt, von Skizzen ukrainischer Innenpolitik und historischer Ukraineforschung (S. 169–329). Militärische Analysen und Voraussagen der Frühlingsmonate weisen aus heutiger Sicht auf den ersten Blick eine recht geringe Halbwertszeit auf. Sie werden aber in längerfristigen militärgeschichtlichen Studien sowie in genauen Untersuchungen der Ukrainepolitik westlicher Staaten wieder an Bedeutung gewinnen können (S. 169–196, insbes. S. 179–183). Ähnliches gilt für Bestandsaufnahmen der westlichen Sanktionspolitik (S. 197–222). Dass sich die kirchliche Spaltung zwischen ukrainischen und russischen Gemeinden ab Februar zügig vertiefte, unterminiert zusätzlich deutlich russisch-orthodoxe Argumente pro Putins Politik.

Ungewisser fällt dagegen bis heute die Beurteilung der Haltung der russischen Gesellschaft selbst aus. Kreativität und der Widerhall der Proteste der russischen Bevölkerung gegen den Krieg waren durchaus beeindruckend. Die Verfolgung kritischer und unangepasster Stimmen und Stimmungen nimmt seit Februar offenkundig an Intensität und Dichte noch zu. Staatliche Zwangsmaßnahmen werden oft durch vorauseilenden Gehorsam oder überzeugten Nachvollzug beispielsweise universitärer und schulischer Administrationen flankiert und verschärft. Diese repressiven Mechanismen bleiben nicht ohne Wirkung (S. 227–276).

Im Ganzen bereitet der Band wichtige Fragestellungen hinsichtlich des Kriegs auf und liefert der weiteren (historischen) Forschung in wesentlichen Themenbereichen anschlussfähige Grundlagen. Eine vielschichtige Analyse der russischen Politik gegenüber der Ukraine 2022 wird, auch dies zeigt der Band, mitunter weit zurückgehen müssen. Während sich über die entscheidende Verantwortung für den Krieg 2022 nicht ernsthaft streiten lässt, werden die komplexen innen- und außenpolitischen Entwicklungsstränge von 1990 bis 2022 noch genau ausgefächert werden müssen. Ein einfaches Schwarz-Weiß-Gemälde wird sich auch für die Zeit nach Kriegsbeginn in verschiedenen Fragen kaum zeichnen lassen, wie die Reaktionen auf die jüngeren – umstrittenen – Berichte von Amnesty International zur ukrainischen Kriegführung nahelegen.7 Es wird weiterhin eine intellektuelle Herkulesarbeit sein, neben allen anderen Quellen die laufende vielstimmige und widersprüchliche Berichterstattung kritisch aufzuarbeiten und naheliegende Analogien und Einordnungen zu hinterfragen. Der informative Beitrag von Arkadiusz Łuba über „Russlands Ukraine-Krieg in der Karikatur“ belegt einmal mehr die suggestive Macht von Bildern aller Art, der sich auch zeitgenössische wissenschaftliche Analyst:innen mitunter nur schwer entziehen können. Zukünftige Untersuchungen werden die gesamten Wirkungen von Social Media und Cyberwar prominent und detailliert ergründen, um den Spannungen zwischen Informationsflut, -bedürfnis und -krieg gerecht zu werden. Schließlich wird eine Globalgeschichte des Konflikts wichtige afrikanische und asiatische Perspektiven einbeziehen. Eine erste Auswertung der Abstimmung der Generalversammlung über den Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat (7. April 2022) auch nach wirtschaftlichen Kriterien und nach Bevölkerungszahl (S. 224–225) lässt die Relevanz einer globalen Erweiterung der Fragestellungen des Hefts erkennen. Derweil geht es akut in vielerlei Hinsicht erst einmal um Beweis- und Faktensicherung. Neben anderen Foren bedient „Osteuropa“ den hohen Bedarf an sachlichen Informationen mit aktueller Berichterstattung in einem Blog und in weiteren Ausgaben. Die Zeitschrift liefert damit unverzichtbare, doch immer wieder kritisch zu befragende Bausteine für eine zukünftige internationale Geschichte russischer internationaler Beziehungen in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Gesetz 4.3.2022 Nr. 32-FZ, unter https://www.publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202203040007 (22.08.2022).
2 Vgl. neben Einzelartikeln der vergangenen Jahre u.a. das Themenheft Schlachtfeld Ukraine. Studien zur Soziologie des Kriegs, Osteuropa 69 (2019), 3–4; die Hefte 9–10 und 5–6 des Jahrgangs 2014 oder das Heft 2–4 des Jahrgangs 2010.
3 Resolutionen UN-Generalversammlung Nr. A/RES/ES-11/1, 2. und 24.03.2022, unter https://www.documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N22/293/36/PDF/N2229336.pdf?OpenElement bzw. https://www.documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N22/301/67/PDF/N2230167.pdf?OpenElement (17.08.2022). Die grundlegende Resolution vom 2. März wurde mit 141 Stimmen bei 5 Gegenstimmen und 35 Enthaltungen angenommen.
4 Situation in Ukraine, ICC 01-22, https://www.icc-cpi.int/ukraine (17.08.2022).
5 Putin verleiht Ehrentitel an Brigade, in: FAZ.net, 18.04.2022, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/putin-verleiht-ehrentitel-an-brigade-nach-graeueltaten-in-butscha-17966206.html (16.08.2022).
6 Mary Elise Sarotte, Not one inch. America, Russia, and the making of post-cold war stalemate, New Haven i.a. 2021, S. 106.
7 Amnesty International, Ukraine, 04.08.2022, unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/08/ukraine-ukrainian-fighting-tactics-endanger-civilians/ (17.08.2022).

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