Über den utopischen fiktionalen Film ist vor allem seit den 1970er-Jahren umfangreich publiziert worden, Denis Gifford hat 1971 mit Science Fiction Film den Grundstein dazu gelegt. Zuletzt sind Utopien und vor allem Dystopien mit dem Erfolg der Hunger Games-Reihe (seit 2012) und auf literarischen Vorlagen basierenden Serien wie The Man in the High Castle (2015–2019) und The Handmaid’s Tale (seit 2017) wieder in das Zentrum des Interesses, auch der Fachliteratur, gerückt.1 Dass es auch jenseits des doch recht engen Bereichs der Science-Fiction-Literatur bzw. des Science-Fiction-Films einen Umgang mit Utopien gibt, ist dabei immer wieder auch angeklungen, z.B. in einer Engführung von Utopie und Gesellschaftskritik in der Romanliteratur etwa in Basil Davenports Klassiker The Science Fiction Novel, in dem George Orwell, Aldous Huxley und andere nicht nur als Science-Fiction-Autor:innen rezipiert werden.2 Auch die Utopie in der Literaturwissenschaft ist mittlerweile ein gut erschlossener Topos, vor allem durch Wilhelm Voßkamps Standardwerk3, das fast alle relevanten Utopien in Textform von Morus bis Musil betrachtet und einordnet. Dennoch ist die Verbindung von Utopie und Dokumentarfilm, die der Zürcher Filmwissenschaftler Simon Spiegel in dem vorliegenden Buch unternimmt, immer noch als ungewöhnlich zu bezeichnen. Der Dokumentarfilm kann – und sollte – aufklärend, lehrreich, gesellschaftskritisch, sogar auch unterhaltend sein, aber darf er auch utopisch sein und damit das Reale, Tatsächliche, was er zumeist reflektiert, auch ins Mögliche verlängern? Spiegel, der nicht nur über den fiktionalen Science-Fiction-Film publiziert hat, sondern dieses Buch in etwas anderer, längerer Form auch schon in deutscher Sprache vorgelegt hat4, bejaht diese Frage und liefert auf rund 300 Seiten aufschlussreiche Antworten zum Utopischen im non-fiktionalen Film.
Nach einer angenehm übersichtlichen Einführung werden im ersten Teil zunächst Theorien der Utopie und Klassiker der literarischen und filmischen Utopie behandelt und eingeordnet. Bemerkenswert ist der schon früh erfolgende Hinweis, dass Utopien keinesfalls nur als fiktionale Form zu verstehen sind, sondern auch utopische Sozialtheorien bereits seit der Aufklärung bekannt sind; nicht zuletzt ist auch Thomas Morus' Utopia (1516) eher eine Anleitung für den Bau einer utopischen Gemeinschaft als ein kontinuierlich erzählter Roman (S. 7). Neben Erzähltraditionen werden deshalb auch Themen der Utopie diskutiert (S. 16f.), die eben fiktional, aber auch non-fiktional behandelt, auskleidet und fortgedacht werden können. In Bezug auf den Film ist bemerkenswert, dass es an sich relativ wenige audiovisuelle Utopien gibt, da die Dystopie schon seit Metropolis (1927, Fritz Lang) deutlich größere Potentiale der erzählerischen Konfliktbewältigung bietet, die bis The Matrix (1999, The Wachowskis) und The Hunger Games (2012, Francis Lawrence) reichen. Reihen wie Star Trek (seit 1966, Gene Roddenberry) hingegen versuchen sich daran, im Kontext eines Zusammenlebens mit inklusiven und exklusiven Außerirdischen an einer Amalgamierung von utopischen Elementen mit einer immer auch konfliktären Handlung. Einige interessante Beispiele der Auseinandersetzung mit der filmischen fiktionalen Utopie wie der Film bzw. die Serie Pleasantville (1998, Gary Ross) oder der literarische und filmische Entwurf Cloud Atlas (2012, The Wachowskis, Tom Tykwer) werden leider nicht erwähnt, hingegen aber sehr ausführlich die Zeitgeist-Dokumentarfilmreihe (seit 2011, Peter Joseph), die eher im zweiten Teil zu erwarten wäre, in dem es dann zentral um non-fiktionale filmische Utopien geht.
Das Kapitel, das sich mit dem Dokumentarfilm beschäftigt, geht von den Anfängen und klassischen Theorien, d.h. von John Griersons „the creative treatment of actuality“ bis zu Bill Nichols dokumentarischen Modi, behält dabei aber immer den Faktor des Auserzählenden, Möglichen und des Kontrafaktischen im Blick (S. 71ff.). Auch Mockumentaries und Doku-Soaps zeigen, wie das Fiktive oder Mögliche, aber real nicht Eingetroffene „dokumentiert“ wird – oder dessen Dokumentation zumindest suggeriert wird. Mit Roger Odin ist im letzten theoretischen Kapitel noch die Frage offen, wie Rezipient:innen filmische Inhalte lesen und daraus Bedeutung generieren. Das Besondere der Utopie ist, dass sie verschiedene Lesarten gleichzeitig ermöglicht und diese am konkreten Beispiel realisiert. Dabei wird nicht nur der – mit Odin – fiktivisierende oder dokumentarisierende Modus aufgerufen, sondern auch ein aktivierender, da die meisten Texte ihre Erzählung als möglichen, durchaus erstrebenswerten Gesellschaftsentwurf perspektivieren. Oder anders ausgedrückt: Utopias „are always more than just literature, just social criticism or just a political pamphlet. There are always all in one, ‘a sort shot-silk texture between philosophical discussion on the one hand and imaginative narrative on the other’, as H.G. Wells put it.” (S. 92) Im Folgenden werden insbesondere die „conditional tense documentary”5 thematisiert, die Christian Hißnauer als „fiktive Dokumentation“6 bezeichnet, da sie erste Modelle beschreiben, wie auch das Non-Fiktionale utopisch sein kann. Hißnauers äußerst spannender Text zum Thema, „MöglichkeitsSPIELräume“7, wird hingegen nicht herangezogen.
Im zweiten Teil werden konkrete Beispiele verhandelt und in die theoretische Matrix eingeordnet. Dabei geht es Simon Spiegel nicht um eine erschöpfende Darstellung, sondern eher um eine exemplarische, die die verschiedenen Grenzen seines theoretischen Entwurfs ausleuchtet. Im ersten Kapitel werden die sogenannten Zukunftsfilme der DEFA vorgestellt: kurze dokumentarische Entwürfe, die in der DDR-Zeit als mögliche gesellschaftliche und vor allem technische Projektionen verstanden wurden. Den Filmemacher:innen ging es darum, das Zusammenleben in Bezug auf moralische oder technische Herausforderungen neu zu regeln. Das zweite Kapitel behandelt am Beispiel von Propaganda eine völlig andere Ausprägung, indem die Tendenzen sowjetischer, nationalsozialistischer und von ISIS-Propaganda definiert werden. Auch hier werden Gesellschaftsentwürfe den jeweiligen Ideologien entsprechend am Beispiel konkretisiert. Weil der Autor die Kapitel eher thematisch als chronologisch geordnet hat, sind hier die historischen Entwicklungen leider nur bedingt nachvollziehbar.
Im dritten Kapitel geht es um Stadt-Utopien, also filmische Entwürfe von Metropolen, die überwiegend utopischen Charakter haben. Diese Beispiele sind sehr nah an den frühen Utopien von Morus, Campanella und anderen, die ihre Projekte konkret auch als Anleitungen oder Modell-Entwürfe verstanden haben. Das letzte Kapitel befasst sich schließlich mit post-klassischen Utopien, die die altbewährten Ideen unterminieren und neu zu denken versuchen. Dazu gehören etwa die französischen Filme Demain (2015, Cyril Dion, Mélanie Laurent) und The Marsdreamers (2009, Richard Dindo). Hier geht es um eine konkretisierende Angleichung des Möglichen an gesellschaftliche Realitäten, die in der eher idealisierenden Form der Utopie, gerade auch im Bereich der Propaganda, selten zur Sprache kommen.
Was in Bezug auf die Beispiele vermisst wird, sind die von Paul Ward und Christian Hißnauer besprochenen Zukunftsentwürfe im Rahmen dokumentarischer Reihen, die gerade im bundesdeutschen Fernsehen so populär sind. Dazu gehören Beispiele wie 2057 – Unser Leben in der Zukunft (2007, Lars Montag), in der der Autor Frank Schätzing Möglichkeiten technischer und sozialer Entwicklung moderiert, oder auch internationale Projekte wie The Future of Work and Death (2016, Sean Blacknell, Wayne Walsh). Diese wären zumindest aus Sicht des Rezensenten ebenfalls interessante, mithin sehr populäre non-fiktionale Filmutopien, zu denen auch die Gelegenheitsleser:in einen Bezug herstellen kann.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich das vorliegende Buch von Simon Spiegel eines Themas annimmt, das auf der Hand zu liegen scheint, jedoch zuvor von der Wissenschaft nur im Rahmen dokumentarfilmtheoretischer oder literarischer Studien gestreift wurde. Die Hinführung zum Thema im dichten theoretischen Teil ist vorbildlich gestaltet. Der exemplarische Teil ist – vermutlich aufgrund der Straffungen des Buchs im Vergleich zur deutschen Version – oft eher streiflichtartig entwickelt, ihm fehlt gelegentlich die konsequente Nachverfolgung historischer Entwicklungslinien. Dies schmälert den Gesamteindruck jedoch keinesfalls. Das Buch kann allen an der Utopie Interessierten unbedingt empfohlen werden. Die sehr gut lesbare, überaus gelungene englische Übersetzung ermöglicht es den Studien des Autors hoffentlich, auch international anschlussfähig zu werden. Eine begleitende Website mit Filmausschnitten der erwähnten Beispiele rundet die Arbeit ab und lädt zum Erkunden ein.
Anmerkungen:
1 Karen A. Ritzenhoff / Angela Krewani (Hrsg.), The Apocalypse in Film. Dystopias, Disasters, and other Visions about the End of the World, Lanham 2015.
2 Basil Davenport, The Science Fiction Novel. Imagination and Social Criticism, Chicago 1969.
3 Wilhelm Voßkamp, Emblematik der Zukunft. Poetik und Geschichte literarischer Utopien von Thomas Morus bis Robert Musil, Berlin 2016.
4 Simon Spiegel, Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film, Marburg 2019.
5 Paul Ward, The Future of Documentary? “Conditional Tense” Documentary and the Historical Record, in: Gary D. Rhodes / John P. Springer (Hrsg.), Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, Jefferson, NC 2005, S. 270–283.
6 Christian Hißnauer, Fernsehdokumentarismus. Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen, Köln 2011, S. 332–339.
7 Christian Hißnauer, MöglichkeitsSPIELräume, Fiktion als dokumentarische Methode. Anmerkungen zur Semiopragmatik Fiktiver Dokumentationen, in: MEDIENwissenschaft: Rezensionen Reviews, Jg. 27 (2010), Nr. 1, S. 7–28, https://doi.org/10.17192/ep2010.1.323 (10.12.2022).