Das Ende des Kalten Krieges 1989 verlief in der Schweiz parallel zu einer dreifachen Legitimitätskrise: nicht nur der Regierung mit dem erzwungenen Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp und der militärischen, aber auch symbolischen Landesverteidigung mit dem guten Abstimmungsergebnis der Initiative für die Abschaffung der Armee, sondern auch des Staatsschutzes. Wie eine parlamentarische Untersuchungskommission zum Vorschein brachte, waren rund 900.000 Personen von der Bundesanwaltschaft wegen ihrer politischen Tätigkeit oder Meinung beobachtet und registriert worden, davon die Mehrheit Ausländer. Die „Fichenaffäre“ zeigte, dass der Antikommunismus in der neutralen, aber de facto westintegrierten Schweiz ein besonders aktives Staatsschutzdispositiv hervorgebracht hatte. Gleichwohl harrt die Geschichte des Kalten Krieges in der Schweiz noch einer Gesamtdarstellung. Sogar erst in Ansätzen erschlossen sind die Kontinuitäten im Forschungsfeld des Schweizer Antikommunismus. Um es vorwegzunehmen: Eine Synthese vermag auch der Sammelband „Geschichte(n) des Antikommunismus in der Schweiz“ nicht zu leisten, was er im Übrigen auch nicht beansprucht. Der Band ist Ergebnis einer Tagung, die im November 2005 unter dem Titel „Mythes, réseaux, milieux, formes et cultures de l'anticommunisme en Suisse des origines à nos jours“ an der Universität Genf stattfand. Deren Veranstalter arbeiten seit 2001 im Rahmen eines SNF-Projekts an der Erschließung der Bestände der Entente internationale anticommuniste (EIA) des Advokaten Théodore Aubert. Die Vereinigung war am 23. Juni 1924 in Paris gegründet worden, hatte aber ihren Sitz in Genf, wo auch zahlreiche internationale Organisationen zur Wiederherstellung einer stabilen internationalen Ordnung etabliert waren, die es zu lobbyieren galt. Deren Materialien finden sich in der Bibliothèque publique et universitaire (BPU) der Stadt Genf. Die internen Quellen (Korrespondenz, Protokolle, Arbeitsdokumentationen usw.) waren jedoch im Unterschied zu den Periodika und Broschüren der Organisationen bis vor kurzem nicht zugänglich. Sie waren zwischen 1945-1950 vom Bureau permanent der EIA in der BPU Genf deponiert worden, dort aber verschollen, bis sie 1980 anlässlich eines Umzugs wieder aufgefunden, jedoch sofort bis 1991 unter Verschluss gestellt wurden, womit sie wieder in Vergessenheit gerieten. Die komplizierte Geschichte dieses Quellenkorpus wird im Nachwort von Michel Caillat beleuchtet.
Der Band ist dreisprachig, mit einer Mehrheit von französischen Beiträgen (16 von 21), vier sind auf Deutsch und einer ist auf Englisch. Die Einleitung ist sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch publiziert. Ihr Autor, Jean-François Fayet, nimmt darin eine Annäherung an den Gegenstand vor. Er verweist darauf, dass der Antikommunismus, der in seiner einfachsten Definition als Ablehnung des Kommunismus bezeichnet werden kann, ein transnationales Phänomen darstellte, in der Schweiz aber besonders ausgeprägt gewesen sein dürfte. Als historischer Gegenstand zeigt er sich freilich sperrig, handelt es sich doch ebenso um ein Ensemble von Werten, Glaubenssätzen und Mythen als um politische Praktiken und legale Maßnahmen. Die Geschichte des Antikommunismus ist eine Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts, aber auch eine Geschichte der Demokratie seit dem 19. Jahrhundert. Sie berührt Emotionen, insbesondere diejenige der Angst in der Politik, Phantasmata und Projektionen. Antikommunismus ist multifunktional. Er ist Abwehr, Diabolisierung und Stigmatisierung des Gegners von links, er dient als Legitimation für Repression und Kriminalisierung jeder Bewegung, welche die herrschende Ordnung in Frage stellt. Schließlich stellt er einen Kampfbegriff dar, um den Kommunismus selbst zu denunzieren. Antikommunismus kann diverse Formen annehmen und ist Produkt vieler Kontexte. So nennt die von Jean-Jacques Becker formulierte Typologie nicht weniger als sieben verschiedene Typen, etwa vom kontingent-zeitgebundenen bis zum ideologischen, staatsdoktrinären über den klassenspezifischen Antikommunismus der Besitzenden. Sein mitunter verdecktes Vorgehen, sozusagen hinter einer Maske, macht die historische Annäherung an das Phänomen nicht leichter.
Angesichts der Vielschichtigkeit und Multifunktionalität des Phänomens Antikommunismus ist es nur folgerichtig, dass das Buch nach verschiedenen Themen unterteilt ist. Es kann hier aber nicht auf alle Texte eingegangen werden. Im ersten Abschnitt zur Bedeutung der Ursprünge macht Hans Ulrich Jost in seinem Beitrag, der auch eine zweite, auf die Schweiz bezogene Einführung sein könnte, die Anfänge einer langen Praktik der Disqualifikation aller Forderungen mit sozialem Anstrich bei der vom konservativen Schriftsteller Jeremias Gotthelf, aber auch vom liberalen Politiker Johan Caspar Bluntschli schon vor der Schaffung des Bundesstaates vorgezeichneten Methode aus: Sozialisten und Kommunisten werden als antithetisch zum „Schweizer Geist“ gezeichnet. Diese figurieren aber nur als Kern eines Feindbildes, das auf sämtliche Reformregungen ausstrahlt. Der frühe Antikommunismus stützt sich nicht allein auf die Suggestivkraft wirksamer Imaginationen, er erhält auch bald handfeste Konturen durch die 1889 in Funktion gesetzte politische Polizei. Auch Marc Vuilleumier reflektiert den Widerspruch zwischen dem moderaten Einfluss sozialistisch-kommunistischer Ideen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der dazu in keinem Verhältnis stehenden behördlichen Reaktionen. Markus Bürgi untersucht am Beispiel des Zürcher Publizisten Eduard Attenhofer, einem Agenten des sich formierenden Klassenkampfes von oben, wie sich in den 1880er-Jahren ein Legitimationsprozess des Antisozialismus abzuspulen beginnt, der bald einmal zur Einschränkung des Asylrechts führt.
Der nächste Teil versammelt Beiträge zu zeitlichen Höhepunkten und Mythen des Antikommunismus. Ausgehend von der Genfer Streikbewegung in den Jahren 1902-1903 bringt Charles Heimberg die Schärfe des Antikommunismus in der Schweiz mit seiner Instrumentalisierung als Selektions- und Ausschlussinstrument von politisch unliebsamen Arbeitern in Zusammenhang, wobei auch hier die Ausländer als erste visiert waren. Deren Ausweisungen (und später Berufsverbote) hatten jedoch disziplinierende Funktion für die gesamte Arbeiterbewegung. Es folgt eine weitere Lokalstudie von Laurent Andrey, die zeigt, dass der Antisozialismus/Antikommunismus von den Katholiken auch als Abgrenzungsmittel gegen die protestantische, urbane und industrialisierte Schweiz genutzt werden konnte. Im agrarischen und konservativen Kanton Freiburg inszenierten die Eliten ab 1919, und zwar bis in die 1960er-Jahre, jährliche Gedenkveranstaltungen an den Militäreinsatz der Freiburger Soldaten gegen den Generalstreik von 1918. Diese Erinnerungspolitik diente nicht nur als Kampfansage an die Sozialdemokratie, sondern ebenso zur Stärkung der eigenen Identität.
Zwei der zentralen Organisationen werden im Teil „Akteure, Netzwerke und Milieus des Antikommunismus“ behandelt. Andreas Thürer geht auf den Schweizerischen Vaterländischen Verband (SVV) ein. Die rechtsbürgerliche Vereinigung, die 1919 als Reaktion auf den Generalstreik aus der Taufe gehoben wurde, wollte die Bekämpfung der Linken nicht allein gesetzgeberischen Beschränkungen überlassen. Ohne auf diesen Weg zu verzichten, setzte sie auf die Organisation von Freiwilligen für Ordnungsdienste, für die Streikbekämpfung oder etwa zur Informationsbeschaffung über das Militärwesen. Der SVV war institutionell sehr gut vernetzt und trug in der Zwischenkriegszeit dazu bei, den rechtlichen Rahmen nach rechts auszuweiten oder sogar bei Bedarf zu ritzen. Die (über)eifrigen Patrioten waren den Behörden ebenso nützlich wie manchmal auch lästig. Auf sie verzichten wollte man aber nicht, und so blieben sie gleichsam als „Rückversicherung des Bürgertums“ (S. 144) bis nach dem Zweiten Weltkrieg locker in das politische System eingegliedert. Auch der Beitrag von Michel Caillat ist für die Frage der Relevanz des Schweizer Antikommunismus zentral. Caillat geht dem Einfluss der EIA nach, weniger in Bezug auf ihr transnational weit verzweigtes soziales Netzwerk, als auf ihre breite Abstützung in Elitenzirkeln in der Schweiz. Ihre Kontakte reichten von der Armeespitze bis zur Finanz (so war die Genfer Bankiersfamilie Hentsch offenbar ihr wichtigster Geldgeber) über die Diplomatie, den Bundesrat (in der Person von Jean-Marie Musy), Sportvereine (hier vor allem der Schweizer Alpenclub), die Neue Helvetische Gesellschaft und den SVV. Eine besonders enge Verzahnung zeigte sich mit dem IKRK, mit der die EIA drei Leitungsmitglieder teilte. Die selbstzufriedene Bilanz der Organisation lautete 1939 dementsprechend, dass die Schweiz, „ce petit pays“, ihre wichtigste und solideste Aktionsbasis darstelle (S. 159).
In der Tat, wie handlungsrelevant erwies sich das Motiv der Abwehr des Kommunismus für die Schweizer Behörden? Diese Problematik durchzieht den mit „Staatlicher Kommunismus“ überschriebenen Teil. Er befasst sich mit den behördlichen Repressionsmaßnahmen, deren Schwerpunkt mit den Parteiverboten in die zweite Hälfte der 1930er-Jahre und die Kriegsjahre fallen, während in der Nachkriegszeit eher subtilere Mechanismen wie die erwähnte systematische polizeiliche Überwachung und daraus folgende Berufsverbote zur Anwendung kamen. Einen breiten Überblick über die antikommunistischen Maßnahmen vom Generalstreik bis zur Gegenwart liefert André Rauber. Ihm geht es um die Kontinuität der Staatsschutzbestimmungen im Kampf gegen den Bolschewismus in den 1920er-Jahren bis zu den gegen die Partei der Arbeit gerichteten Strafrechtsbestimmungen Anfang der 1950er-Jahre, die in eine flächendeckende Fichierung eines Großteils der Bevölkerung ausarteten. Auch Sébastien Farré deutet die Parteienverbote zwischen 1936 und 1945 als Ausdruck einer zielgerichteten Politik und nicht, wie von bürgerlicher Seite anlässlich ihrer Aufhebung behauptet wurde, als außerordentliche Maßnahmen in einer Ausnahmesituation, die sich sowohl gegen den Links- wie den Rechtsextremismus richteten. Das heißt aber nicht, dass das Maß der Repression nicht vom Kontext abhängig gewesen wäre. So lässt sich am Beispiel der Genfer Gerichtsakten zeigen, dass die gegen Kommunisten angestrengten Prozesse deutlich dem Kriegsverlauf folgten. Während das Jahr 1942, als der nationalsozialistische Angriff gegen die Sowjetunion noch erfolgreich aussah, die höchste Dichte aufweist, ging die Repression nach der Schlacht bei Stalingrad rapide zurück. Mit zeitlicher Verzögerung lässt sich diese Liberalisierung auch in Bezug auf die politische Tätigkeit ausländischer Kommunisten auf eidgenössischer Ebene verfolgten, wie Alix Heiniger in ihrem Beitrag zum Sonderlager Bassecourt im Jura nachweist. Erst gegen Kriegsende weichten die Bundesbehörden ihre restriktive Politik auf und genehmigten die Aktivitäten der Bewegung Freies Deutschland. Die Verfasserin erklärt das auch mit der Politik der Organisation, die Emigranten zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen, was ganz im Sinne der Transitkonzeption der Schweizer Flüchtlingspolitik lag.
Nach Beiträgen zu antikommunistischen Vorstellungen des Kommunismus und zum Antikommunismus von links geht der abschließende Teil auf das Verhältnis von Antikommunismus, Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus ein. In einem weit ausholenden Beitrag rekonstruiert Jean Batou die Genealogie des Topos „Judeo-Bolschewismus“ und seine Weiterführung zum „Judeo-Kommunismus“ bis zur Verschmelzung von Antikommunismus und Antisemitismus im Nationalsozialismus, ohne freilich daraus ein kontinuierliches Narrativ von der Mitte 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg konstruieren zu wollen. Der quellengestützte Beitrag von Sandra Bott führt die Leserinnen und Leser zur Problematik zurück, welcher Stellenwert dem Antikommunismus in der Schweizer Politik zukommt. Wie lassen sich die guten Beziehungen der Schweiz zu Südafrika zwischen 1945 und 1970 erklären? Bott argumentiert, dass diese nicht allein auf Wirtschaftsinteressen beruhten, sondern auch auf dem ideologischen Support seitens einzelner Schweizer Wirtschaftsvertreter für den rassistisch gestützten Antikommunismus am Kap. Menschenrechtsüberlegungen traten im Kontext des Kalten Krieges und der Südafrika zugestandenen Rolle als Bollwerk gegen den Kommunismus jedenfalls in den Hintergrund. Der Beitrag schließt mit der bemerkenswert vieldeutigen Aussage des Schweizer Botschafters in Südafrika, Franz Kappeler, von April 1958: „Was die Nationalisten betrifft, so ist für sie eine Preisgabe der weißen Herrschaft in Südafrika in ähnlicher Weise undenkbar, wie für uns die Preisgabe unserer Neutralität.“ (S. 344).
Die äußerst lesenswerte Publikation stellt einen Meilenstein dar für die Geschichte des Antikommunismus in der Schweiz. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wie in jedem Sammelband die Beiträge nicht alle gleicher Qualität sind. Während viele Aufsätze durch eine breite und vielfältige Quellenbasis abgestützt sind oder Synthesen langjähriger Recherchen darstellen, basieren andere auf einem beschränkten Quellencorpus und erweisen sich daher in ihrem Fokus und in ihrem Aussagehalt als eher beschränkt. Gewonnen hätte die Publikation auch durch Illustrationen etwa von antikommunistischen Plakaten. Diese kritischen Bemerkungen können aber die Verdienste dieses informativen Bands insgesamt nicht schmälern. Mit Fokus auf die institutionelle Perspektive1 zeigt das Buch, dass antikommunistische Maßnahmen nicht „Ausrutscher“ einzelner übereifriger Schweizer Politiker und Behörden darstellten, sondern Teil und Effekt eines politischen Ordnungsdiskurses waren, der durch die Werte Patriotismus, Familie, Privateigentum getragen wurde. Antikommunismus unterlagerte in der Schweiz ebenso die behördliche Praxis wie die Diskurse. Er war Motor und Motiv der Ausländerfeindlichkeit und er diente mit seinem sukzessiv ausgebauten Polizeidispositiv einer engen Sozialkontrolle, die sich in erster Linie gegen die Arbeiterbewegung, in zweiter aber auch gegen jeglichen Nonkonformismus richtete. Nach dem Schock des Generalstreiks wurde er sogar impliziter Teil der Staatsdoktrin, sodass sich die Schweiz bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs weigerte, die Sowjetunion anzuerkennen. Die in der Einleitung gestellte Frage, ob der Antikommunismus wirklich einen Gegenstand der Geschichtsforschung darstelle, ist nach der Lektüre jedenfalls eindeutig mit Ja zu beantworten.
Anmerkung:
1 Für die Betroffenensicht siehe Martha Farner et al., ‚Niemals vergessen‘. Betroffene berichten über die Auswirkungen der Ungarn-Ereignisse 1956 in der Schweiz, Zürich 1976.