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Titel
Die Massen lenken. Propaganda, Experten und Kommunikationsforschung im Zeitalter der Extreme


Autor(en)
Nietzel, Benno
Erschienen
Anzahl Seiten
518 S., 13 Abb.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Mühlenfeld, Universität Düsseldorf

Die vorliegende Arbeit ist eine 2019 an der Universität Bielefeld angenommene Habilitationsschrift. Sie untersucht das Zusammenspiel von Staat, Kommunikation und Kommunikationswissenschaft im 20. Jahrhundert, vorrangig am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika, aber unter fallweiser Einbeziehung (West-)Deutschlands und der UdSSR. Konkret benennt der Autor vier Teilfragen, denen er sich in der chronologisch angelegten Arbeit widmet: Es geht ihm um die Diskurse und Diskursstrategien, die Propaganda seit dem Ersten Weltkrieg als neue Herausforderung für Politik und deren Organisation begreifen (I), um jene Personen, die als Experten – und wenige Expertinnen1 – in diesem Diskursfeld auftreten bzw. sich etablieren, ohne dass es bisher einen klaren disziplinären Rahmen gab (II), um die Dynamiken, die sich aus der wechselseitigen Beobachtung der betrachteten Länder für die jeweiligen nationalen Diskurse ergaben (III), sowie um die „Semantiken, Modelle und Metaphern“ und die „Denkrahmen“, innerhalb derer über Propaganda diskutiert wurde (IV). (S. 2ff.) In diesem Sinne versteht sich die Arbeit nicht als eine Geschichte der Propaganda, sondern als deren Metageschichte (S. 8), wobei diese strikte Differenzierung im Verlauf der Arbeit nicht vollends durchgehalten wird. Zudem sei das Ziel auch nicht, eine Geschichte der Propagandatheorie zu schreiben, sondern vielmehr eine Geschichte jener Konzepte, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts tatsächlich praktische Relevanz erlangt hätten (S. 9).

Der Einstieg in die Arbeit erfolgt dann aber doch am Fallbeispiel Deutschland. Nietzel beginnt seine Arbeit mit einer Betrachtung der Weimarer Republik und einer intensiven, jedoch nicht wirklich neue Erkenntnisse zutage fördernden Erörterung der Diskurse um und über Propaganda und deren vermeintliche Rolle beim Zustandekommen des alliierten Sieges über die Mittelmächte und insbesondere Deutschlands. Tatsächlich aber drehte sich Nietzel zufolge der Propaganda-Diskurs in Weimar weniger um den Gegenstand an sich. Vielmehr war das Sprechen über Propaganda ein besonders in rechten Kreisen beliebter Versuch, die Niederlage des Deutschen Reichs zu erklären, ohne sie eingestehen zu müssen. Komplementäre Argumente bzw. Narrative waren die Klage über die aus deutscher Sicht unehrenhafte Form der alliierten Kriegführung mittels Handelsblockade2 und die Legende vom Verrat der von linken Agitatoren untergrabenen Heimatfront an dem im Felde unbesiegten Heer, gemeinhin auch als „Dolchstoß“-Legende bezeichnet. Hier gelingt es dem Autor überzeugend nachzuzeichnen, wie die rhetorische Übersteigerung der im Weltkrieg vermeintlich bewiesenen Wirkmächtigkeit von Propaganda dazu führte, sie als ubiquitäres Manipulations- und Kontrollinstrument zu verstehen (S. 21ff.). In einer Situation, in der es gerade aus der Sicht des Bürgertums dringend neuer Mittel und Wege bedurfte, die als „Massengesellschaft“ perhorreszierte neue gesellschaftliche Realität zu domestizieren, schien Propaganda eine verheißungsvolle Chance zu sein, dessen politische Dominanz auch in der parlamentarischen Demokratie aufrechtzuerhalten; gewissermaßen die politische Prärogative mit anderen Mitteln zu sichern – freilich ohne, dass in der Untersuchung genau ausbuchstabiert würde, wie die Anwendung von Propaganda als Herrschaftsmittel konkret gedacht war.

In diesem Zusammenhang zeigt der Autor, dass es jedoch durchaus schon früh Stimmen gab, die die Wirkmächtigkeit von Propaganda infrage stellten, weil schlichtweg keine Möglichkeit bestehe, klare Kausalzusammenhänge herauszuarbeiten (S. 30). Dennoch – oder gerade deshalb – erfreuten sich unterkomplexe Theoriebildungen zur Wirkungsweise von Propaganda, wie etwa das strikt lineare Stimulus-Response-Modell, breiter und anhaltender Beliebtheit in letztlich allen Ländern, in denen es entsprechende Diskurse gab (S. 12). Während in Deutschland die Tätigkeit des „Propaganda-Machens“ in Anlehnung an die narzisstischer Selbstdarstellung entsprungene Auffassung Joseph Goebbels‘, wonach man Propaganda nicht lernen könne, sondern es eine Gabe sei, Propagandist zu sein, keine rechte Expertokratie im Sinne eines klar umrissenen Berufsbildes mit fachlicher oder gar akademischer Qualifizierungsperspektive entwickelte, stritten in den USA weniger offen als faktisch die Praktiker aus dem Bereich der Produktwerbung mit den zumeist sozialwissenschaftlich geschulten Akademikern um die Vorherschafft bei der Konzeptionierung und Umsetzung der US-amerikanischen Kommunikationspolitik vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 71ff.).

Gänzlich anders, so beschreibt die Studie, habe sich die Diskussion in der UdSSR entwickelt. Denn hier endeten die Versuche, eine sozialwissenschaftlich unterlegte Wirkungsforschung zu etablieren, relativ rasch dort, wo die dabei aufgeworfenen Fragen die dogmatischen Prämissen leninistischer Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft herausforderten. Die faktische Abwicklung der sowjetischen Zeitungs- bzw. Kommunikationswissenschaft vollzog sich zeitlich parallel zur Zeit der großen Säuberungen 1937/38 (S. 108f.). Weil damit die UdSSR als tertium comparationis im Sinne der Fragestellung der Arbeit de facto ausfällt, bleiben auch die weiteren Verweise im Rest der Studie quantitativ eher bescheiden. Dies gilt für das Deutsche Reich zwar in quantitativer Hinsicht nicht, doch bleibt die Schilderung der Propagandadiskurse und der Entwicklung der akademischen Beschäftigung mit dem Phänomen eher konventionell und folgt in ihren Befunden weitgehend bereits vorliegenden Studien.

Am überzeugendsten ist die Arbeit dort, wo sie sich der Entwicklung in den Vereinigten Staaten während und nach dem Zweiten Weltkrieg widmet. Wie der Verfasser die Genese der Idee eines elaborierten Konzepts einer „psychological warfare“ als Rückgrat der „Roll-back“-Strategie der USA in den frühen 1950er-Jahre beschreibt und schließlich zeigt, wie die normativen Ansprüche der wechselnden Administrationen an die Leistungsfähigkeit dieser Aktivitäten angesichts ihrer faktischen Wirkungslosigkeit immer weiter zurückgefahren werden, bis kaum mehr bleibt als die Hoffnung auf Diversion mittels russischsprachigen Auslandsrundfunks, ist ebenso überzeugend argumentiert wie als historische Analogie zur Gegenwart der innenpolitischen Debatte der USA über ihre Haltung zu und ihr Auftreten gegenüber Russland interessant zu lesen: Wo schon kurz nach dem Kriegsende und trotz des sich bereits abzeichnenden Anbruchs der Systemkonkurrenz mit der UdSSR insbesondere republikanische Senatoren die Haushaltsmittel für die Auslandskommunikation der USA zusammenkürzten, lässt dies den Leser angesichts der aktuellen Haltung nicht weniger republikanischer Senatoren und Mitgliedern des Repräsentantenhauses zur Unterstützung der Ukraine an das bekannte Diktum Karl Marx‘ denken, wonach Geschichte sich immer zweimal ereigne; das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.3

Tatsächlich greift der Verfasser diese durchaus tagespolitisch relevante Dimension des Themas selbst auf, jedoch nicht in der Einleitung der Arbeit, sondern überraschenderweise lediglich im Nachwort, in dem er nicht zuletzt auf die Bedeutung von Propaganda als notwendiger Bedingung der russischen Aggression gegenüber der Ukraine seit spätestens 2014 oder der mutmaßlichen Interventionen zugunsten Donald Trumps im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 verweist (S. 461). Dabei konstatiert der Verfasser zutreffend, dass das Neue an der Wiederkehr der Propaganda auf die Bühne der Weltpolitik ihre veränderte Zielstellung sei: Es gehe nicht mehr darum, Menschen von einer konkreten Meinung oder Anschauung zu überzeugen, sondern bestehende Meinungen – und hier insbesondere den demokratischen Grundkonsens der westlichen Gesellschaften – zu untergraben, indem Zweifel an allem gesät und Fakten zu bloßen und damit relativierbaren Meinungen herabgewürdigt werden.4

Abgesehen von der Tatsache, dass die offenkundige, geradezu auf der Hand liegende tagespolitische Relevanz des Themas somit unerklärlich spät in der Arbeit adressiert wird, bleiben nach der Lektüre noch eine Reihe weiterer Fragen offen, auf die man sich als Leser eine Antwort gewünscht hätte: Welche Rolle hatte konkret die NS-Erfahrung von Emigranten aus deutschsprachigen Ländern wie Paul Lazarsfeld, Hans Speier oder Herbert Marcuse, die zu relevanten Akteuren in jenem Feld der Propaganda-Experten in den USA aufstiegen, welches im beginnenden Kalten Krieg die sozialwissenschaftlichen Prämissen für eine „psychological warfare“ gegenüber der UdSSR formulierte, für deren Rezeption der UdSSR? Warum findet in der Studie zwar Siegfried Kracauer einmalige Erwähnung, jedoch nicht seine wichtige und bislang weitgehend übersehene Studie zu „Totalitärer Propaganda“, die zwar zeitgenössisch nie erschien, jedoch in den Kreisen der Frankfurter Schule im Exil durchaus bekannt war, diskutiert wurde und insofern durchaus einen relevanten Beitrag zu jenem Propaganda-Diskurs darstellte, dem die Studie sich bemüht nachzuspüren?5

Trotz dieser kritischen Nachfragen gelingt es der Arbeit durchaus, die gesteckten Ziele zu erfüllen, auch wenn die quantitative Gewichtung der drei Vergleichsländer sehr disparat ausfällt. Die Darstellung bleibt dort, wo der deutsche Fall verhandelt wird, eher konventionell und ohne wirklichen Erkenntnisgewinn. Ihre große Stärke hat die Arbeit bei der Analyse des Propaganda-Diskurses in der Nachkriegszeit der USA, wo sie für künftige Forschungen Standards setzt.

Anmerkungen:
1 Tatsächlich sind nahezu alle in der Untersuchung erwähnten Experten Männer; zu der Handvoll Frauen, die eher kursorische Erwähnung finden gehören Elisabeth Noelle, Margret Mead, Marie Jahoda oder auch Nadežda Krupskaja.
2 Vgl. Nicholas Mulder, The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War, New Haven 2022.
3 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 18, S. 115–123, hier S. 15 (urspr. 1852).
4 Aus soziologischer Perspektive zuletzt Nils-Christian Kumkar, Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung, Berlin 2022.
5 Siegfried Kracauer, Totalitäre Propaganda, hrsg. v. Bernd Stiegler, Berlin 2013.