Über die adäquate Beschreibung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft in der DDR oder das Leben in der Diktatur wird seit den frühen 1990er-Jahren gestritten. Dabei wurden ganz unterschiedliche Zugänge gefunden. Erinnert sei nur an die Kontroverse zwischen Sigrid Meuschel, Ralph Jessen und Detlef Pollack in „Geschichte und Gesellschaft“ oder an die unterschiedlichen Perspektiven etwa in Klaus Schroeders „SED-Staat“ und Alf Lüdtkes Ansatz von „Herrschaft als sozialer Praxis“ mitsamt dessen „Eigensinn“-Konzept. Zugespitzt lassen sich zwei Zugänge zur DDR ausmachen: Der erste verfolgt eine eher systemzentrierte Sicht, manchmal in Verbindung mit einer mehr oder minder großen Anbindung an totalitarismustheoretische Ansätze. Daneben steht ein zweiter, der mehr subjektzentriert oder alltagsgeschichtlich orientiert ist.
Der vorliegende Band ist eher dem zweiten Zugang zuzuordnen, bemüht sich allerdings, einen systematischen Zugang zu finden, auch um einer „gewissen Theoriearmut“ zu begegnen (S. 12). Der Sammelband versucht dieses mithilfe des Konzepts der „Normalisierung“ auszuloten. Die theoretische Unterfütterung des Konzepts geht maßgeblich auf die Herausgeberin Mary Fulbrook zurück. Sie befasst sich seit mehr als 20 Jahren intensiv mit der Geschichte der DDR. Gerade das Verhältnis von Staat und Gesellschaft waren zentrale Forschungsinteressen, wie sich an über einem Dutzend Aufsätzen und Artikeln, zwei Forschungsprojekten und zwei Monographien1 ablesen lässt. Dieser Band erwuchs aus einer Tagung im Rahmen des von 2002 bis 2007 laufenden und vom britischen „Arts and Humanities Research Council“ geförderten Projekts „The ‘Normalisation of Rule’? State and Society in the GDR 1961-1979“. Das Konzept der „Normalisierung“, so Fulbrook, dürfe nicht als Apologie des SED-Regimes missverstanden werden. Eher sei es ein Idealtyp und heuristisches Werkzeug, mit dem sich die relative Stabilität von Strukturen, Mentalitäten, Verhaltensmustern und Diskursen sowie deren Veränderungen untersuchen ließen. Dabei gehe es auch darum, die oft behauptete Frontstellung zwischen Staat und Gesellschaft aufzubrechen. Denn wenn Regelbefolgung auch noch nichts darüber aussagt, ob Normen als legitim angesehen werden, so sei der Konsens zwischen Gesellschaft und Staat doch größer gewesen als oft zugestanden. Das Konzept der „Normalisierung“ gründet daher auf drei Säulen: Stabilisierung, Routinisierung und auf der Internalisierung von Normen. Neben dem einführenden Aufsatz Mary Fulbrooks besteht das Buch aus zwei etwa gleich großen Teilen. Der erste Teil gruppiert sich um „Systemic Parameters and the Roles of Functionaries“. Zentraler Aspekt ist „Normalisierung“ unter der Perspektive von Stabilisierung und Routinisierung am Beispiel von Funktionären. Der zweite Teil befasst sich mit „Conformity, ‚Normality‘, and ‚Playing The Rules‘“ und fokussiert besonders die Internalisierung von Normen.
Der erste Teil des Buches macht bereits deutlich, wie unterschiedlich „Normalisierung“ gedacht werden kann. Merrilyn Thomas richtet etwa den Blick auf die Entspannungspolitik der 1960er- bis 1970er-Jahre und deren Normalisierungsprozesse. Sie geht zum Beispiel anhand westlicher Reisereglungen für DDR-Bürger den strategischen Überlegungen des Westens nach, die DDR durch die „Normalisierung“ ihrer internationalen Position langfristig zu destabilisieren, obwohl diese Strategie kurzfristige eine innere Stabilisierung bedeutete. Jeanette Madarász dagegen zeigt am Beispiel der Wirtschaftsfunktionäre „Normalisierung“ als zwiespältigen Prozess. Auf der einen Seite lassen sich bei den Funktionären in der sich bildenden Routine Stabilität und äußerliche Ruhe ausmachen. Für den Einzelnen stiegen die Planbarkeit des eigenen Lebens und die sozio-ökonomischen Erwartungen. Auf der anderen Seite führte das zu Resignation oder gar Lethargie und verstärkte Individualisierungsprozesse. „Normalisierung“ stand auch in der Landwirtschaft, wie George Last ausführt, für eine konfliktreiche und durch Kompromisse und Aushandlungen gekennzeichnete Entwicklung. Die unterschiedlichen lokalen Normalitäten wurden durch zentrale Beschlüsse immer wieder aufgebrochen und mussten unter Vermittlung der Funktionäre jeweils wieder hergestellt werden. Die vermittelnde Rolle von Funktionären hebt auch Esther von Richthofen am Beispiel der Kulturfunktionäre hervor. „Normalisierung“ habe der Internalisierung bestimmter Spielregeln bedurft, etwa um mit Staats- und Parteistellen zu interagieren und die Dinge im eigenen Sinne beeinflussen zu können – wenn auch oft einseitig zu den Bedingungen der SED-Führung. Für Dan Wilton begründete die Ausweitung des Staatseinflusses in den 1960er- und 1970er-Jahren nur vordergründig einen Normalisierungsprozess, wie er anhand von Sportfunktionären und den Protagonisten im Bereich der populären Musik verdeutlicht. Vieles sei Fassade geblieben, da die Akteure oft eigennützige Interessen verfolgten und die Bindungskraft der Massenorganisationen mit wachsender Größe eher abnahm. Jan Palmowski untersucht schließlich die Tragfähigkeit des Normalisierungskonzeptes am Beispiel der Heimataktivisten. Er kommt zu dem Schluss, dass die Arbeit dieser Personengruppe eher durch Brüche und fortdauernde Neuorientierung als durch „Normalisierung“ geprägt gewesen sei, was vor allem an den oft willkürlich wechselnden Agenden der SED-Führung lag. Für dieses Beispiel sei der Normalisierungsansatz nur begrenzt nützlich.
Auch im zweiten Teil lassen sich unterschiedliche Manifestationen von „Normalisierung“ und deren Ambivalenzen finden. Alf Lüdtke stellt zufällig ausgewählte Beispiele alltäglicher Regelaneignung vor, und fragt angesichts starker Divergenzen kritisch, worin der gemeinsame Nenner liege. Die Frage sei, welche Verhaltensweisen mit dem Label „Normalität“ gekennzeichnet werden können. Betrachte man nämlich umgekehrt alle Fallbeispiele als Repräsentanten für Normalität, verliere die Kategorie an Schärfe. Ina Merkel regt eine Abkehr von der isolationszentrierten Sicht auf die DDR an. Stattdessen wäre an Aspekte des „kulturellen Transfers im Kontext der Mauer“ (S. 197), aber auch an Prozesse des alltäglichen Aushandelns zu denken, bei der es letztlich auch um die Konstituierung und den Wandel von Normalitäten ging. Dorothee Wierling analysiert das unterschiedliche Normalitätsverständnis von Generationen, etwa der 1929er und der 1949er. Die verschiedenen Erfahrungshorizonte bedingten eine jeweils differierende Wahrnehmung von Normalität. Diese konnte einerseits als sicher, andererseits aber auch als bedrückend und langweilig empfunden werden. Auch die Schaffung der „sozialistischen Persönlichkeit“, mit der sich Angela Brock beschäftigt, konstituierte DDR-Normalität. Dieses Projekt, das freilich habe scheitern müssen, hinterließ Spuren. So konstituierte es Wahrnehmungskategorien und trug zum Normalitätsempfinden des Einzelnen bei. Den Ambivalenzen von Normalität sucht Mark Allinson am Beispiel des Jahres 1977, dem seiner Meinung nach „most normal Year“ der DDR, nachzugehen. Die ökonomischen Umstände und die Meinungen der DDR-Bürger zu ihrem Staat lassen neben äußerlicher Stabilität auch wahrnehmbare Kritik und Frustration zu Tage treten. Die „‚Normalisation‘ in Retrospect“ von Mary Fulbrook stellt schließlich die Ergebnisse einer Umfrage unter Ostdeutschen aus dem Jahr 2005 vor. Die allgemeinen historisch-politischen Entwicklungen und privaten Erfahrungen dürfen demnach nicht automatisch parallel gedacht werden. Vielmehr sei Normalität als individuelle Erfahrung zu sehen, die privates Befinden ebenso einschloss wie die Widrigkeiten und normativen Ansprüche des Systems.
Es sind anregende Perspektiven auf die DDR in diesem Band versammelt. Das Konzept der „Normalisierung“ ist geeignet, unterschiedliche Probleme der DDR-Geschichte gleichsam immanent zu fassen und bestehende Ansätze, zu denen es Überschneidungen gibt, zu ergänzen. Die Kehrseite ist: Einiges ist nicht neu. Man fühlt sich bei der Lektüre des Bandes manchmal an frühere Arbeiten der einzelnen Autoren erinnert, nur die Terminologie ist eine andere. Folgerichtig können nicht alle Aufsätze des Bandes in der Verwendung des Konzepts überzeugen, wirkt es doch manchmal sehr strapaziert. Dieser Umstand, der vielleicht auch aus den Produktionsbedingungen von Sammelbänden resultiert, zeigt nebenbei Grenzen des Konzepts auf, wie sie bereits im Aufsatz von Jan Palmowski deutlich wurden: Die Kategorie „Normalität“ muss nicht immer die passende sein. Insgesamt ist der Band durchaus gelungen und das Konzept der „Normalisierung“ kann, mit Augenmaß eingesetzt, neue Ansatzpunkte generieren.
Anmerkung:
1 Mary Fulbrook, The People's State. East German Society from Hitler to Honecker, New Haven/London 2005; Dies., Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR, 1949-89, Oxford 1995.