Cover
Titel
Arbeit und Umwelt?. Die Umwelt- und Energiepolitik der SPD zwischen Ökologie und Ökonomie 1969–1998


Autor(en)
Lieb, Felix
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
451 S.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Lettang, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die „Analogien zwischen gestern und heute“ stehen angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen gerade in der zeithistorischen Umweltgeschichte besonders stark im Vordergrund der Reflektion des Untersuchungsgegenstands sowie des Fachs selbst und seiner Rolle in der Öffentlichkeit.1 Die „ökologische Herausforderung“ der Gegenwart stellt aus parteienhistorischem Blickwinkel auch den Ausgangspunkt von Felix Liebs Dissertation dar. Als „Vorgeschichte der Gegenwart“ entworfen, fragt sie am Beispiel der SPD nach dem „Wandel des Politischen“ in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1969 und 1998 (S. 1). Die Entwicklung der SPD in der „Ära der Ökologie“2 steht im Zentrum der Arbeit, die das „Ausmaß und die Form der ‚Ökologisierung‘“ der Partei untersucht. (S. 6) Der Frage, ob bzw. wann „Umwelt“ der „Arbeit“ als Zielwert in der SPD gleichberechtigt oder doch eher untergeordnet war, geht Lieb anhand der programmatischen Debatten, Organisationstrukturen und instrumentellen Ansätze der Partei nach. Diese internen parteipolitischen Prozesse werden unter Rückgriff auf eine Vielzahl an Quellenbeständen der einschlägigen Archive zur Geschichte der Sozialdemokratie, der Nachlässe wichtiger (Umwelt-)Politiker:innen und der Ministerialverwaltung des Bundes untersucht.

Für die Frühphase der sozialdemokratischen Umweltpolitik in den 1970er-Jahren zeigt Lieb im zweiten Kapitel, dass diese zunächst nur nachrangig auf die konkreten Instrumente des Umweltschutzes fokussiert war. Die hauptsächlich von der Parteispitze und Parteiintellektuellen wie Erhard Eppler getragene Umweltdebatte in der Partei fand vielmehr in Begriffen der „Lebensqualität“ und des „qualitativen Wachstums“ ein „permanentes Reibungsfeld“ zur Aushandlung von konfligierenden Fortschritts- und Wachstumsverständnissen (S. 30). Erst mit den Planungen zum Ausbau der Kernenergie entstand für die Akteur:innen schließlich der Schauplatz, auf dem sie das Ökologieverständnis der Partei entlang konkreter umwelt- und energiepolitischer Maßnahmen aushandelten. Die Notwendigkeit von Fortschritt und Wachstum wurde hier aber auch vom ökologischen Flügel nie grundsätzlich infrage gestellt. Ausgehend von diesen umweltpolitischen Anfängen und den Zerreißproben in der Kernenergiefrage habe sich der vorrangig wirtschaftspolitische Zugriff ab 1982 auch in dem auf einen Modernisierungsbegriff abhebenden umweltpolitischen Programm gezeigt. Die prägende Rolle der SPD für die „Boomphase“ der westdeutschen Umweltpolitik wird von Lieb anhand der verstärkten ökologischen Profilierung der Partei verdeutlicht, die erst mit der Oppositionsrolle auf Bundesebene möglich geworden sei. Getragen vom Aufstieg von Umwelt-Politiker:innen in die Parteispitze verdichtete sich im Projekt der „ökologischen Modernisierung“ ein Kompromiss der „gezielte[n] Wachstumspolitik“ (S. 140). Mit der staatlichen Förderung der Ressourcenschonung und erneuerbaren Energien, dem langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie und einer „umweltfreundlichen“ Kohlevorrangpolitik zielte die Kompromissformel nun auf eine Umweltpolitik der Vorsorge, ohne zugleich Wachstums- und Arbeitsplatzeinbußen hinnehmen zu wollen.

Die Beharrungskraft traditioneller Parteiorganisation und Repräsentationsverständnisse gegen Partizipationsforderungen von unten, die von Bürgerinitiativen, Umweltverbänden und den sich formierenden Grünen ausging, stellt Lieb in den Kapiteln 3 und 5 heraus. Diese Untersuchung der zeithistorischen Rolle der SPD ist eine wichtige Ergänzung zur bereits bestehenden Forschung über die Aushandlung von Demokratievorstellungen in umwelt- und energiepolitischen Zusammenhängen.3 Für die „Normalisierung“ der Beziehungen zur Umweltbewegung ab Mitte der 1980er-Jahre zeigt Lieb, dass hierfür nicht allein das letztlich gestärkte ökologische Profil der SPD verantwortlich war, sondern dass auch „die Umweltorganisationen immer mehr an konfliktorientiertem, teils radikalem Bewegungscharakter eingebüßt“ hatten (S. 101). Lieb betont, dass es dem Parteiestablishment auch gegen die eigene Basis und die Landesverbände gelungen sei, einen „ökologische[n] Konsens“ mit der „Zentralisierung der Entscheidungsfindung“ zu verbinden (S. 237). Dass die Umweltpolitik in der SPD allerdings auch über die 1980er-Jahre hinaus strukturell fragil blieb, erhellt Lieb im fünften Kapitel anhand der personellen Struktur und nur punktuellen Institutionalisierung im Parteiapparat.

Die Umweltpolitik war damit langfristig von Einzelpersonen sowie deren Machtkalkül und der parteipolitischen Wahlarithmetik abhängig, wie Lieb auch in den folgenden drei Kapiteln herausarbeitet. Die Zeit der Wiedervereinigung als „Hochphase sozialdemokratischen Umweltschutzes“ war nach Lieb der „Kulminationspunkt“ der in der Oppositionszeit „ökologisierten Sozialdemokratie“ (S. 270). Damit einher ging ein Wandel der präferierten Instrumente vom staatlichen Anspruch auf Steuerung durch Subventionspolitik und Grenzwerte in den 1980er-Jahren zu einer verstärkten Marktorientierung in den 1990er-Jahren, die u. a. auf ökonomische Anreize in Gestalt der Ökosteuerreform setzte. Sowohl vor als auch nach dem instrumentellen „Paradigmenwechsel“ (S. 241) war die sozialdemokratische Position Lieb zufolge aber eine Politik der technologischen Modernisierung, die verstärkten Umweltschutz mit Beschäftigungs- und Industriepolitik in Einklang zu bringen versuchte.

Entsprechend wird die Ökonomisierung der Umweltschutzkonzepte als fortgeführter Versuch interpretiert, den ökologischen Umbau immer auch als Wachstumspolitik zu denken. Im siebten Kapitel, das den gesamten Untersuchungszeitraum in den Blick nimmt, kann Lieb daher zeigen, dass der Bedeutungsgewinn der Umweltpolitik im Profil der SPD nach 1980 nicht mit einer „postmateriellen“ Wende und der betonte Marktliberalismus nach 1990 nicht mit einer „neoliberalen“ Wende zu erklären sind. Der grundsätzlich „materialistische Charakter sozialdemokratischer Umweltpolitik“ (S. 284) mündete in programmatischen Entwürfen einer „ökologischen Modernisierung“ und dem zukunftsoptimistischen Ansatz, risikobehaftete Technologien und Marktprozesse aktiv durch den Staat zu gestalten. Die Wahl der regulatorischen Mechanismen sieht Lieb daher auch vorrangig von Effizienzfragen geprägt. So sei der Staat als steuernde Letztinstanz nie in Zweifel gezogen worden.

Die Bedeutung von Lobbyismus und Machtarithmetik kommt in der Darstellung ebenfalls nicht zu kurz. Besonders deutlich kann Lieb diese Faktoren in der Abschwächung der Ökosteuerkonzepte und dem nachlassenden Reformelan im Kontext der „Standortdebatte“, der Wiedervereinigung und der Bundestagswahlen der 1990er-Jahre nachweisen. Trotz des nun stärker wahrgenommenen klimapolitischen Problemdrucks rückte die Umweltpolitik im Vorfeld der rot-grünen Koalition wieder in die zweite Reihe machtpolitischer Erwägungen. Die nationale tagespolitische Bühne, die wirtschaftlichen Probleme und die in der „Neuen Mitte“ identifizierten Wähler:innenpotentiale standen wesentlich stärker im Vordergrund der SPD-internen Aushandlungen. Die Umweltpolitik wurde unter dem „Primat der Ökonomie“ endgültig zu einer Innovations- und Wachstumspolitik. Lieb macht damit greifbar, dass das Regierungsbündnis mit den Grünen 1998 keineswegs so selbstverständlich war, wie es noch zu Beginn des Jahrzehnts erschien.

In einem ausführlichen Fazit sieht Lieb die historische Bedeutung der SPD für die bundesdeutsche Umweltpolitikvor allem in den Kompromissen, die sie zwischen den Polen „Arbeit“ und „Umwelt“ sowie organisatorisch zwischen „Bewegung“ und „Partei“ gefunden habe. Der wirtschafts- und machtpolitisch „instrumentelle Blick auf den Umweltschutz“ implizierte, dass die „Formel ‚Arbeit und Umwelt‘ […] die ungleiche Beziehung zwischen beiden Normen [verdeckte] – ‚Arbeit durch Umwelt‘ trifft sie eher“ (S. 377). Lieb gelingt insgesamt ein darstellerisch konzises und in die Zeitgeschichte eingebettetes Porträt der SPD, das gerade auch auf deren Traditionslinien und innere Widersprüche hinweist. Über die in der Zeitgeschichte vielfach betonten Strukturbrüche hinweg rückt die Darstellung nahe an die Gegenwart heran. Die zugleich vielfältigen wie wiederkehrenden umweltpolitischen Ansätze und ihre Begründungen erinnern hin und wieder stark an aktuelle Debatten.

Liebs Arbeit wird damit auf eindrucksvolle Weise zu der von ihm anvisierten „‚Problemerzeugungsgeschichte‘ der Jetztzeit“ (S. 7). Für diese hebt er auch die „durchaus integrativ[e]“ Wirkung der umweltpolitischen Kompromisse nach innen und außen hervor (S. 383). Sicherlich ist die historische Bedeutung der SPD auch in ihrer Wirkung auf die generelle Gestalt der bundesrepublikanischen Umweltpolitik zu sehen, die in Kompromissformeln wie der „ökologischen Modernisierung“ zum Ausdruck kam. Je näher die Darstellung an die Gegenwart heranrückt, desto mehr stellt sich aber beim Lesen die Frage, wie weit der sehr zeitgebundene Begriffsgegensatz von „Ökologie“ und „Ökonomie“ zur Unterscheidung der SPD von anderen Parteien trägt, zumal weitere systematische, parteihistorische Studien zur Umweltpolitik, insbesondere für die Zeit ab den 1990er-Jahren, abgesehen von solchen zu den Grünen noch weitgehend fehlen. An der detaillierten und zugleich klaren Darstellung Felix Liebs werden jedenfalls zeithistorische Arbeiten zur politischen Kultur der Bundesrepublik nicht vorübergehen können, sei es auf dem Feld der Umwelt- und Energiegeschichte oder darüber hinaus.

Anmerkungen:
1 Timothy Moss / Heike Weber, Technik- und Umweltgeschichte als Usable Pasts: Potenziale und Risiken einer angewandten Geschichtswissenschaft. Einleitung, in: Technikgeschichte 88 (2021), S. 367–377.
2 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.
3 Unter anderem und daher lediglich exemplarisch die Monografien von Frank Uekötter, Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Stuttgart 2022; Stephen Milder, Greening Democracy. The anti-nuclear movement and political environmentalism in West Germany and beyond, 1968–1983; Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension