F. Loetz (Hrsg.): Gelebte Reformation

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Titel
Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800


Herausgeber
Loetz, Francisca
Erschienen
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Sallmann, Institut für Historische Theologie, Theologische Fakultät, Universität Bern

Ein stattliches Buch in bibliophiler Ausführung und bis in die Details sorgfältig bearbeitet gilt es zu besprechen. Der äußeren Präsentation des Bandes entspricht die inhaltliche Fülle. Der Sammelband mit 29 Beiträgen und einem ausführlichen Anhang widmet sich auf 544 Seiten der Reformation in Zürich. Titel und Untertitel markieren zwei wesentliche Entscheidungen: Zum einen weist das Adjektiv „gelebt“ vor „Reformation“ darauf hin, dass nicht die normativen Ideale von „Reformation“, entfaltet etwa in theologischen Traktaten oder obrigkeitlichen Verlautbarungen, bevorzugter Gegenstand sind, sondern die Umsetzung im vielfältigen, alltäglichen Leben des frühneuzeitlichen Zürich. Zum anderen zeigt die zeitliche Angabe von 1500 bis 1800 im Untertitel an, dass dem Band das Konzept einer „langen Reformation“ zugrunde liegt.

Die Beiträge sind auf acht Kapitel aufgeteilt, die jeweils mit zwei Verben überschrieben das „Leben“ aus dem Haupttitel aufnehmen sollen. Im ersten Kapitel „Sich abgrenzen und sich annähern“ umreißt André Holenstein den gegenseitigen politischen Umgang der konfessionell geprägten eidgenössischen Orte sowie deren Bündnisbestrebungen innerhalb der Eidgenossenschaft und über diese hinaus, wobei der pragmatische politische Umgang innerhalb der Eidgenossenschaft und die Rücksicht auf gemeinsame Interessen nach außen die konfessionellen Spielräume sichtbar machen. Fabrice Flückiger erläutert an den zwei Disputationen von 1523 die Annäherung der reformatorischen Kreise um Zwingli an die weltliche Obrigkeit und auch die Mittel der Abgrenzung gegenüber der etablierten Kirche. Francisca Loetz behandelt „Begegnungen“ mit dem Islam, die durch literarische Bilder in unterschiedlichen Textgattungen, aber auch durch wenige physische Kontakte greifbar sind.

Im zweiten Kapitel „Lesen und lernen“ zeigt Bruce Gordon den weiten Weg vom traditionellen Klerus zu einer reformierten Pfarrerschaft auf. Aufschlussreich ist der Hinweis, dass die Pfarrer ein entbehrungsreiches Leben führten und der Nachwuchs durchaus nicht selbstverständlich war. Anja Lobenstein-Reichmann untersucht die Unternehmung der Zürcher Bibelübersetzung, ihre Bezüge zum Wittenberger Unterfangen, setzt sie in den erhellenden sprachgeschichtlichen Zusammenhang des Frühneuhochdeutschen und arbeitet die unterschiedlichen Übersetzungskonzepte heraus. Zum Kapitel passen Michael Eggers Ausführungen über Alphabetisierung, Lesestoffe und Volksbildung, wofür die Verzeichnisse der Bevölkerung, die „Seelenbeschreibungen“, die seit 1633 angelegt wurden, ausgezeichnete Einblicke bieten.

Unter dem Titel „Sehen und hören“ behandeln Martina Stercken die Veränderungen des Stadtraumes im 16. Jahrhundert durch Umwidmung der Nutzung oder durch Abbruch von Gebäuden, Hildegard E. Keller den Aufschwung des Theaters in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum Verbot in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Carola Jäggi den differenzierten Umgang mit Bildwerken nach der Reformation sowie Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder die Praxis des Kirchengesangs in der Stadt und auf der Landschaft bis in das 18. Jahrhundert.

Mit „Streiten und bezeugen“ ist das vierte Kapitel benannt. Es umfasst Peter Niederhäusers Darlegungen über die kirchlichen Umstände und das Pfarramt auf der Zürcher Landschaft und Nicole Zellwegers Untersuchung des Wirtshauses als Ort konfessioneller Auseinandersetzung, die sich vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert inhaltlich veränderten. Urs B. Leu behandelt das nicht nur für Zürich dunkle Kapitel der Täufer:innen, von der Obrigkeit verfolgt und von der Dorfbevölkerung respektiert.

Das fünfte Kapitel „Ausgrenzen und aufnehmen“ umfasst drei Beiträge: Markus Brühlmeier und Dominik Sieber zeigen Kontinuität und Entwicklung des Armenwesens sowie deren Situierung in der reformierten Gesellschaft auf. Eveline Szarka untersucht die Inanspruchnahme religiöser Inhalte wie Segensprüche durch Laien, um Krankheiten zu bewältigen, was von den etablierten kirchlichen und obrigkeitlichen Kreisen als „Zauberei“ zurückgewiesen wurde. Peter Niederhäusers Artikel widmet sich der Frage, wie Nonnen und Mönche der Zürcher Landklöster behandelt wurden und welche Möglichkeiten der Lebensgestaltung ihnen offenstanden.

Das Thema Sexualität nimmt das sechste Kapitel unter der Überschrift „Nicht eheliche Sexualität dulden und bestrafen“ auf. Francisca Loetz behandelt Eherecht und Ehegericht, etablierte Sexualität zwischen heterosexuellen Ehepaaren, Scheidung von Ehen und den Umgang mit vorehelichem Geschlechtsverkehr. Auch nicht eheliche Formen von Sexualität, die im reformierten Zürich als „ehrlos“ beurteilt wurden, sowie der theologische, rechtliche und institutionelle Umgang damit kommen im Beitrag von Adrina Schulz zur Sprache. Markus Brühlmeier geht der Homosexualität nach, auf die für Männer und Frauen in Zürich die Todesstrafe stand, wobei sich keine grundsätzlichen konfessionellen Unterschiede im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Handlungen zeigen.

Das siebte Kapitel „Glauben und zweifeln“ legt einerseits von der Norm abweichende Formen religiöser Praxis dar wie der Glaube an und der Umgang mit Geistern (Eveline Szarka) oder das Fluchen, Schwören und Leugnen von Gott (Francisca Loetz), andererseits kommt die seelsorgerliche Praxis der Pfarrer zwischen sozialer Überwachung und alltagspraktischer Begleitung durch Ermahnen, Belehren, Trösten und Beraten zur Sprache (Nicole Zellweger).

Verschiedene Quellenbestände in unterschiedlichen Archiven werden im achten Kapitel „Quellen“ aufgenommen. Randolph C. Head zeigt exemplarisch an reformatorischer Briefkorrespondenz auf, wie durch das Sammeln, Ordnen und Archivieren die Überlieferung gesteuert und dadurch das Bild der Geschichte geprägt wird. Weitere für die Geschichte der „Reformation“ wesentliche Quellengattungen werden umrissen wie obrigkeitliche Mandate (Nicole Zellweger), kirchliche Dokumente aus dem Antistitialarchiv (Rainer Henrich), Protokolle des Ratsgerichts (Francisca Loetz) oder der landschaftlichen Sittengerichte (Peter Niederhäuser). Sehr plausibel wird in diesem Kapitel auch auf überlieferte Objekte als materielle Quellen hingewiesen wie beispielsweise Schmuck, bildliche Darstellungen oder Waffen (Christian Hörack).

Der Anhang bietet exemplarische, handschriftliche Quellenstücke in transkribierter Form, die Einblick in den „gelebten Alltag“ (S. 464) geben, wie etwa verschiedene Quellen zu Mustapha Caffa, einem konvertierten Türken, einem Schreiben Heinrich Bullingers an Agatha Zoller zur Einschätzung eines bildlichen Wirkteppichs, einen Antrag zur Finanzierung einer Pfarrstelle in einem Dorf, eine „Kundschaft“ über eine Auseinandersetzung im Wirtshaus, Verhörakten von einem Täufer, ein Verzeichnis der Almosenkasse oder Ehegerichtsakten zu Scheidung, Ehebruch und Homosexualität.

Der Sammelband wird durch mehrere „Hilfsmittel“ erschlossen: Im Anhang findet sich eine chronologisch aufgebaute Tabelle, welche die Zürcher Reformation „ereignisgeschichtlich“ von 1519 bis 1772 darlegt. Eine weitere Tabelle verzeichnet wichtige religiöse Topoi, die differenziert nach den zwei Konfessionen ausgeführt werden. Ein Register bietet zudem Orte, Personennamen und Sachbegriffe. Hilfreiche, kurze Zusammenfassungen in deutscher Sprache und englischer Übersetzung gehen jedem Beitrag voraus.

Der Sammelband ist in seiner äußeren Ausgestaltung und der formalen Ausführung vorbildlich sowie inhaltlich außerordentlich anregend. Die interdisziplinär zusammengestellten Beiträge ermöglichen ungewohnte und vertiefte Einblicke in eine konfessionell reformiert ausgestaltete Gesellschaft. Die Beiträge stützen sich durchweg auf eingehende Quellenarbeiten ab. Immer wieder reflektieren sie die Quellenlage und damit auch deren inhaltliche Reichweite und Aussagekraft. Wiederholt werden offene Fragen für weiterführende Forschungen gestellt. Neben den Textquellen bieten die Beiträge auch Bildquellen, die nicht einfach der Illustration, sondern der inhaltlichen Darlegung des Themas dienen. Vorbildlich ist auch die Zusammenarbeit mit Beiträger:innen, die verschiedenen beruflichen Hintergründen und unterschiedlichen Ebenen der akademischen Tätigkeit entstammen (S. 10). Um diese interdisziplinäre und akademisch vielfältige Zusammenarbeit sichtbar zu machen, wäre ein Verzeichnis der Beiträger:innen hilfreich.

Der Ansatz des Sammelbandes, unterschiedliche Lebensbereiche einer konfessionell geprägten Gesellschaft zu untersuchen, ist unbedingt zu würdigen, zumal die Ergebnisse die Kenntnisse der gewählten Zeitspanne enorm bereichern. Zugleich zeigt der Band auf, dass es bei diesem Unterfangen nicht ratsam ist, „lebensweltliche Praxis“ von einer „normativen, ideellen Vorstellungswelt“ zu trennen, weil letztlich beide relational miteinander verbunden sind. „Gelebte Reformation“ ist ohne die zeitgenössischen „ideellen“ Vorstellungen von Reformation nicht wirklich nachzuvollziehen. Gerade weil die Beiträge immer wieder auf bestimmte Bestände reformierter Theologie Bezug nehmen, wäre daher ein Überblicksartikel zur Entwicklung der Lehre hilfreich, wie dies analog für die Religionspolitik der Eidgenossenschaft instruktiv geschieht. Auch die Formierung und Konsolidierung der Kirche vom Widerspruch und Aufbruch zur etablierten reformierten Kirche, die selbst zum Mittel obrigkeitlicher Machtausübung wurde, kommt kaum zur Sprache. Einer der unbestreitbaren Vorteile eines Konzepts der „langen Reformation“ liegt darin, Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte verfolgen zu können. Damit tritt aber auch die Frage nach unterschiedlichen reformerischen Bewegungen auf, vorreformatorisch etwa humanistische, innerkirchliche Reformen, danach etwa orthodoxe, pietistische und aufklärerische Bestrebungen, die ausdrücklich und zum Teil vehement die Lebenspraxis suchten. Der vorliegende Sammelband ruft geradezu nach einer synthetisierenden methodischen Reflexion zum Konzept von „gelebter Reformation“ verbunden mit dem Konzept einer „langen Reformation“, wie es im Vorwort von Francisca Loetz angesprochen wird.

Was kann noch mehr erwartet werden, als dass ein formal und inhaltlich rundum schöner Sammelband die Forschung inhaltlich und methodisch anregt und so tatsächlich einen „frischen Zugang zur Zürcher Reformation“ bietet (Vorwort, S. 10, und Rückdeckel)?

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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