Cover
Titel
Constructing Lithuania. Ethnic Mapping in Tsarist Russia, ca. 1800-1914


Autor(en)
Petronis, Vytautas
Reihe
Stockholm Studies in History 91
Erschienen
Stockholm 2007: Almqvist & Wiksell
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Happel, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel

Karten wurden in der Geschichtswissenschaft allzu häufig nur als Illustrationen verwendet. Dabei sind Karten erstklassige historische Quellen, die Auskunft über historische Prozesse geben können. In seiner Stockholmer Dissertation nimmt sich Vytautas Petronis der Darstellung Litauens auf Karten in der Zeit von 1800 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs an. Er zeigt auf, wie sehr Karten Konstruktionen sind, aber dennoch prägend dazu beigetragen haben, welche konkrete Gestalt das „imaginierte Litauen“ für die historischen Akteure annahm. Für Petronis steht bereits eingangs fest, dass Karten die Realität zerstören (S. 15). Sie sind lediglich Abbildungen einer von bestimmten Personen konstruierten Wirklichkeit, die der realen Entsprechung durch Schwerpunktsetzungen in der Darstellung nicht gerecht werden kann. Seine Studie ist dann am stärksten, wenn er seine Kartenbeispiele in den Mittelpunkt rückt und ausführlich analysiert (etwa S. 210-219). Dadurch kommt er zu weitreichenden Erkenntnissen über Nationalisierungsprozesse im untersuchten historischen Raum. Leider wird aber nicht jede seiner Referenzquellen ausreichend dicht beschrieben, so dass manche Karten – wohl unbeabsichtigt – doch wieder einen rein illustrativen Anschein erwecken. Gleichwohl ist mit Petronis Studie eine Arbeit über Karten und ihre historische Kontextualisierung entstanden (S. 23), die tiefe Einblicke erlaubt, wie Litauen als kartografisch-ethnisch-homogener Raum entstanden ist und wie dieser durch Nationalisten zu einem einheitlichen Litauen stilisiert wurde (S. 274f.). An diesem Prozess waren Kartenzeichner und die Karten in ihrer Wirkung selbst massiv beteiligt.

Petronis Auswahl von Karten und Atlanten ist überzeugend: Chronologisch aufgebaut entsteht für den Leser visuell nachvollziehbar ein Panorama Litauens in 31 Kartenausschnitten, das mit dem 18. Jahrhundert einsetzt. In vier Hauptteilen nimmt sich Petronis hier der Karten an: Er differenziert zwischen dem Entstehen des „Imperiums der Regionen“ (S. 40-108), den ethnographischen und geographischen Erforschungen der westlichen Provinzen (S. 109-173), der Darstellung der Litauer auf den zaristischen ethnographischen Karten (S. 174-221) sowie der Konstruktion eines litauischen nationalen Raums (S. 222-269).

Petronis arbeitet gekonnt mit dem Zusammenspiel der russischen imperialen und der litauischen nationalen Perspektive. Letztlich hatten die Litauer den russischen Kartographen die Festlegung ihrer Nationsgrenzen zu verdanken (S. 39). Russische Kartographen nahmen auf Befehl Peters des Großen die Vermessung der westlichen Provinzen in Angriff (S. 42-49), wobei auch die Grenzen der Litauer aufgezeichnet wurden – gleiches fand im Osten des Imperiums, in Sibirien, statt (S. 107, 113). Im Zuge der Teilungen Polens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte das Großreich Polen-Litauen endgültig aufgehört zu existieren. Wieder entstanden Karten, wieder kam es zu territorial-administrativen Reformen (besonders unter Katharina der Großen), bei denen auch den Litauern ein Platz im Imperium zugewiesen wurde (S. 58-68, 72). Kartographie entwickelte sich im Zarenreich nun mehr und mehr zu einem politischen Vorhaben der imperialen Bürokraten (S. 100-103). Das lässt sich vor allem an der Einrichtung von ethnographischen und geographischen Abteilungen aufzeigen, die das Vielvölkerreich vermaßen und zeichneten (S. 119), wenngleich bei weitem nicht alle Forscher Russen waren (S. 111).

Virtuos geht Petronis mit Dokumenten zur ethnisch-sprachlichen Trennung der Völker im Zarenreich um. Diese von Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen geführte Diskussion fand ihren Ausdruck wiederum auf Karten (S. 168, 179, 189). Bei deren Herstellung kam der statistischen Erhebung eine führende Rolle zu – auch hier erweist sich Petronis als Kenner. Veranschaulicht wird die gelehrte Auseinandersetzung in seinem Buch mittels vereinfachter kartographischer Darstellungen, die das Nacherleben der hitzigen Debatten aus dem 19. Jahrhundert erleichtern. Die hier herangeführten historischen Karten geben beim eigenständigen Betrachten jenseits der von Petronis vorgeschlagenen Lesart zudem weitere Aufschlüsse, etwa über die Lokalisierung der litauischen Tataren auf der ethnographischen Karte des europäischen Russlands von 1848 (S. 189, 192). In dieser Zeit des „Völkerfrühlings“ kam den Karten ohnehin eine nationale Bedeutung zu, wie Petronis für das aufkommende nationale Selbstverständnis der Litauer aufzeigen kann. Diese Entwicklung fand ihre Fortsetzung in den folgenden Jahrzehnten. Besonders nach dem polnischen Aufstand von 1863/64 betonten Karten des westlichen Russlands bewusst sprachliche und religiöse Unterschiede. Den Litauern wurde dabei wenig Raum zugemessen. Als Konsequenz daraus begannen litauische Intellektuelle ab den 1860er-Jahren, gestützt auf die Karten der imperialen Kartographen, selbst zu bestimmen, was litauisches Territorium war und wo es sich befand (S. 222f., 226f., 233f.). Die von Litauern gefertigten Karten enthielten jetzt für die Beamten des Zaren nationalen Sprengstoff, da sie nicht nur ein homogenes Litauen abbildeten, sondern darüber hinaus auch noch dank illegaler Drucke einen großen Einflussradius innerhalb „Litauens“ erreichten. Die Zarenmacht schritt deshalb zu Kartenverboten (S. 237), was die Karten gleichwohl innerhalb der Intelligenzija noch attraktiver werden ließ.

Die Revolution von 1905 erbrachte Neuerungen im Schulsystem des Imperiums. Auch Geographie wurde in Litauen nun verstärkt unterrichtet. Ein Basis-Geographiebuch erschien, das eine Karte Litauens enthielt, in der prominent die das Gebiet durchschneidenden Eisenbahnlinien verzeichnet waren (S. 245). Die Botschaft war eindeutig: Die Modernisierung hatte Litauen vollends erreicht; beinahe in alle Winkel des Landes ragte ein Eisenbahnstrang hinein. Generell stiegen in jenen Jahren die Veröffentlichungen von Karten an. Besonders ethno-linguistische Karten scheinen Konjunktur gehabt zu haben, die nach 1905 verstärkt mit lateinischen Buchstaben beschriftet waren. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeichneten sich so die litauischen „Kernlande“ endgültig ab: Sie unterschieden sich für alle sichtbar von den russischen, polnischen oder deutschen Nachbargegenden und schienen dank der Eisenbahn auch noch industrialisierter als die anderen Regionen zu sein.

Vytautas Petronis nimmt die Leser mit in jene aufregende Zeit der Konstruktion einer eigenständigen litauischen Nation. Als einen Zugang zu dieser Vergangenheit rückt er zahlreiche Karten in das Zentrum seiner Argumentation. Dabei wird deutlich, dass Karten ohne entsprechende Kontextualisierung oftmals nur geringen Informationswert besitzen. Leider beschäftigt sich Petronis aber nicht immer gleich intensiv mit dem von ihm abgedruckten historischen Kartenmaterial. Auch fehlt bei der Beschreibung und Auswertung der Karten eine gründliche Auseinandersetzung mit der Analysekategorie der Grenze. Petronis hätte bei seiner Untersuchung nicht nur die territorialen Grenzziehungen im Prozess der Kartografierung aufzeigen können, sondern darüber hinaus auch auf die durch die Kartenzeichner teilweise begangene Grenzüberschreitung eingehen können. Hier hätte mehr über die Autoren der Karten herausgefunden werden können: Was bedeutete für sie das Zeichnen einer Grenzlinie? Was markierte eine Grenze und was nicht?

Karten ohne die Markierung von Grenzen sind kaum vorzustellen. Die Studie von Vytautas Petronis treibt die Diskussion über Karten als historische Quellen voran und kann in diesem Sinne als eine Grenzüberschreitung in ein viel zu wenig bearbeitetes historisches Feld betrachtet werden. Karten und deren Zeichner ernst zu nehmen, eröffnet ungeahnte Einblicke nicht nur in Osteuropa.1 Hierfür sollte die Dissertation von Petronis zum Weiterforschen einladen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Christof Dipper / Ute Schneider (Hrsg.), Kartenwelten, Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit, Darmstadt 2006; Jörn Happel / Mira Jovanović / Christophe von Werdt (Hrsg.), Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe, Münster: Lit-Verlag (voraussichtlich) 2009; Valerie A. Kivelson, Cartographies of Tsardom, The Land and Its Meanings in Seventeenth-Century Russia, Ithaca, London 2006; Ute Schneider, Die Macht der Karten, Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2004.

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