Cover
Titel
Geschäfte mit Moskau. Die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion 1964–1982 aus Schweizer Perspektive


Autor(en)
Lohm, Christina
Reihe
Die Schweiz und der Osten Europas
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Dunja Krempin, Center for Eastern European Studies, Universität Zürich

Der Titel von Christina Lohms Buch könnte treffender nicht sein: So beschreibt die Autorin die Entwicklung des Rohstoff- und Warenhandels zwischen der Schweiz und der Sowjetunion mit einem Fokus auf die 1960er- bis 1980er-Jahre. Sie stellt die zentrale Frage, wie sich dieser Handel unter den politischen Vorzeichen seiner Zeit entwickelte, so etwa der Auswirkungen konkreter politischer Ereignisse auf die Handelbeziehungen und den Verlauf des Handels (S. 15). Im Zentrum der Analyse stehen sowohl die Akteursebene als auch die exemplarische Analyse dreier wichtiger Wirtschaftszweige. Damit schliesst Lohm nicht nur eine Forschungslücke, sondern trägt massgeblich zum Verständnis der schweizerisch-sowjetischen Beziehungen insgesamt bei. Denn wenn auch die wirtschaftliche Relevanz des Aussenhandels zwischen den beiden Ländern insgesamt zu wünschen übrig liess, knüpften sie an historische Beziehungen an und verfolgten auch politische Motive: So wollte die Sowjetunion Beziehungen mit einem neutralen Land vorweisen, während die Schweiz die Demonstration ihrer Neutralität und Universalität verfolgte und sich damit bisweilen auch gegenüber anderen westlichen Ländern positionierte.

Die Autorin greift vorwiegend auf reichhaltiges schweizerisches Quellenmaterial zurück, das schliesslich auch den gewählten Fokus begründet. Sowjetische Quellen werden nur am Rande verwendet. Ebenfalls wird ein persönliches Interview mit Peter Hutzli, dem Vertreter des Vorstands des Handels- und Industrievereins, genannt Vorort, in der gemischten schweizerisch-sowjetischen Kommission in die Analyse miteingeflochten.

Lohm hat ihr Buch in sechs grossen Kapiteln angelegt, gefolgt von Schlussbetrachtungen und einem umfassenden Anhang. Das erste Kapitel widmet sich der Vorperiode des Untersuchungszeitraums, nämlich der Wiederaufnahme der Wirtschafts- und politischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei geht es der Autorin um die Einordnung der wirtschaftlichen und politischen Situation beider Länder, den Handelsvertrag von 1948, die Embargopolitik sowie deren Auswirkung auf schweizerische Osthandelskampagnen und -diskussionen.

Hieran knüpft der erste Teil des zweiten grossen Kapitels über die Ära Breschnews an, der die sowjetischen und schweizerischen Voraussetzungen für die weitere Entwicklung der Handelbeziehungen während des Kalten Krieges untersucht. Behandelt werden die Wirtschaftsstrukturen der beiden Länder, die Akteure der Wirtschaftspolitik, die Vormacht in der jeweiligen Aussenpolitik und internationale Entwicklungen wie die Entspannungspolitik und deren Ende. Denn auch die Schweiz profitierte vom neuen Bestreben der Sowjetunion nach wirtschaftlichem Aussenhandel mit dem kapitalistischen Westen, an den sie in Zukunft Fertigwaren zu liefern wünschte (S. 103). Trotz des umfassenden Einblicks in die Grundlagen der sowjetisch-schweizerischen Handelsbeziehungen stellt die Autorin im ersten Teil des Kapitels zu wenig neue Gedanken zum sowjetischen Wirtschaftssystem an. So attestiert sie zwar vollkommen zurecht, dass sich das sowjetische Wirtschaftssystem nicht dynamisch genug entwickelte und grosse Strukturmängel aufwies, sie bleibt jedoch bei Rückschlüssen auf die innersowjetische Entwicklung zu plakativ. Hier wäre, wie auch im gesamten Kapitel, die Einbeziehung sowjetischer Quellen für einen umfassenderen Blick auf die Handelsbeziehungen und Wirtschaftsbemühungen der sowjetischen Akteure geboten gewesen.

Im Folgenden baut der Text schliesslich zunehmend auf Quellenmaterial aus Schweizer Archiven auf, was die Darstellung eindeutig stärker und gehaltvoller werden lässt. Die Autorin stellt überzeugend dar, wie nun auch auf schweizerischer Seite ein grosser Bedarf nach einer Ausweitung des Handels aufkam, der in Zusammenhang mit der weltweiten Rezession der 1970er-Jahre als Folge der Ölkrise und des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems stand. In der Schweiz kam es zu einem sektoralen Strukturwandel, der vormals starke Branchen wie die exportorientierte Uhren- und Textilindustrie betraf (S. 129).

Im schweizerisch-sowjetischen Handel trafen nun aber unterschiedliche Wirtschafts- und Aussenhandelssysteme aufeinander: Während in der Sowjetunion der Aussenhandel ausschliesslich zentral organisiert war, bestand die schweizerische Aussenwirtschaftspolitik aus einer Art Milizsystem, in dem die Wirtschaftsverbände die Interessenvermittlung zwischen verschiedenen Akteuren übernahmen (S. 130). Zwar gab es in der Schweiz Konstanten wie die Wahrung nationaler Interessen, eine liberale Ausrichtung auf internationale Märkte, die multilaterale Absicherung und eine pragmatische Politik, doch die einzelnen Wirtschaftsakteure, vornehmlich Firmen sowie deren Verbandszusammenschlüsse, genossen grossen Handelsspielraum. So wurde der Osthandel nach starken Beschränkungen durch das Hotz-Linder-Agreement in den 1950er-Jahren im folgenden Jahrzehnt auch für die Schweiz wieder salonfähig und aufgewertet, was nicht zuletzt der Entspannungspolitik anderer westeuropäischer Länder gegenüber der Sowjetunion zu verdanken war. Doch die schweizerischen Firmen, die das Osthandelsgeschäft intensivieren wollten, sahen sich mit vielen Problemen wirtschaftlicher oder politischer Art konfrontiert, die unter anderem durch die Gründung einer Gemischten Kommission (GK) 1973 gelöst werden sollten.

Diese GK ist Gegenstand des dritten Kapitels. Sie wurde gegründet, um den Handel zwischen den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen zu ermöglichen und kontinuierlich zu gestalten, stellte jedoch einen Spezialfall dar, da andere gemischte Kommissionen jeweils auf zwischenstaatlicher Ebene und über die Aussenministerien organisiert waren. Die Schweiz hingegen zeigte sich sehr zurückhaltend, was ein zwischenstaatliches Abkommen betraf, wollte die Kommission aber nutzen, um weiterhin ein Interesse an der Intensivierung des Handels zu signalisieren, ohne dass die Bundesregierung vordergründig beteiligt war. In der Folgezeit intensivierten sich viele persönliche Beziehungen der schweizerischen Mitglieder zu ihren sowjetischen Pendants: Gerade diese informellen Kontakte führten häufig zu Geschäftsabschlüssen, sodass ihnen eine grosse kommerzielle Bedeutung zukam. Schliesslich drängte die sowjetische Seite doch noch auf ein zwischenstaatliches Rahmenabkommen mit «langfristigem Programm», das vom Bundesrat genehmigt und 1978 (Rahmenabkommen) und 1979 (Langfristiges Programm) abgeschlossen wurde. Während die Sowjetunion dem Abkommen eine politische Bedeutung zumass, sah die Schweiz es lediglich als wirtschaftlichen Rahmen. So stellt Lohm abschliessend fest, dass die Erwartungen sehr unterschiedlich blieben, die GK jedoch einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaftsbeziehungen leistete.

Für die konkrete Darstellung der Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen greift Lohm exemplarisch auf drei äusserst unterschiedliche, für die Schweiz jedoch wichtige Industriesektoren zurück. Die erste Fallstudie behandelt die Uhrenindustrie, den stärksten Schweizer Exportzweig in der Zarenzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte die Schweiz einen neuen Absatzmarkt in der Sowjetunion und zeigte sich entsprechend interessiert an einem Rahmenabkommen. Die Bedürfnisse der beiden Länder hätten jedoch unterschiedlicher nicht sein können: Während die Sowjetunion bestrebt war, ihre eigene Uhrenindustrie gewaltig auszubauen und selbst der weltweit grösste Uhrenproduzent zu werden, wollte die Schweiz weiterhin ihre hochwertigen Uhren in der Sowjetunion verkaufen und blieb zurückhaltend, wenn es um den Export von Uhrenmaschinen ging. Der Erfolg des 1970 unterzeichneten Abkommens und einer gemischten Uhrenkommission blieb wohl auch deshalb in den folgenden zwei Jahrzehnten aus. Das anvisierte Ziel, in der Sowjetunion einen Absatzmarkt zu finden, wurde trotz des hohen Aufwandes seitens der schweizerischen Firmen nicht erreicht. Dennoch kommt die Autorin zum Schluss, dass die Uhrenindustrie eine Katalysatorfunktion für die Aufnahme der Wirtschaftsbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg hatte.

Ganz anders gestaltete sich der Verlauf des Exportgeschäfts für die schweizerische Maschinen- und Chemieindustrie, wie die zweite Fallstudie zeigt. Schon in der Zwischenkriegszeit war der Maschinenexport zum Posten im schweizerisch-sowjetischen Aussenhandel geworden, nach dem Zweiten Weltkrieg holte die Chemieindustrie ebenfalls stark auf, sodass beide Bereiche bald zu den wichtigsten Exportzweigen wurden. Umgekehrt blieb die Einfuhr von chemischen Rohstoffen aus der Sowjetunion gering, da auf schweizerischer Seite Qualität, Preise und Lieferverzögerungen bemängelt wurden, sodass Bartergeschäfte nur bis zu einem gewissen Umfang stattfanden bzw. die erworbenen Waren durch die Schweiz weiterverkauft wurden. Die Geschäftsaktivitäten entwickelten sich, abgesehen vom pharmazeutischen Sektor, den die Sowjetunion selbst bestückte, in den 1960er-Jahren sehr positiv und politische Differenzen fielen nicht ins Gewicht. Dies setzte sich in den späten 1980er-Jahren fort, in denen schliesslich Joint Ventures gegründet wurden, die nicht etwa von den Regierungen Gegenwind erhielten, sondern von der „lokalen grünen Bewegung“ in der Sowjetunion. Während die Chemieindustrie, vorwiegend die grossen Basler Unternehmen, selbstständig agierte, blieb die Maschinenindustrie stärker auf die Hilfe des Bundes und auf Bewilligungen angewiesen, konnte aber dennoch trotz strittiger und ungelöster Fragen gute Erfolge vorweisen.

Die dritte Fallstudie beschäftigt sich mit dem Erdöl- und Erdgasimport aus der Sowjetunion in die Schweiz, der im Untersuchungszeitraum stark anstieg und ab Mitte der 1970er-Jahre für eine negative Handelsbilanz sorgte (S. 358). Erdöl erwies sich als flexibles Handelsgut, das einerseits direkt von schweizerischen Firmen, anderseits von internationalen Erdölbörsen importiert wurde. Insbesondere nach der ersten Ölkrise wurde vermehrt auf sowjetisches Erdöl und Erdölprodukte zurückgegriffen. Gegenstimmen zu den Energieimporten aus der Sowjetunion verwiesen auf eine zu grosse wirtschaftliche und politische Abhängigkeit und forderten ein Boykott, was jedoch aufgrund der fehlenden Deklarierungspflicht und Importe durch andere westeuropäische Länder in die Schweiz nicht umsetzbar war. Die Einfuhr von Erdgas in ein kleines Land wie die Schweiz gestaltete sich wesentlich schwieriger und kam erst 1988 zustande, 20 Jahre nach den ersten Bekundungen. Diversifizierungsbestrebungen führten zwar auch hier zu einem grossen Interesse, Erdgas ist aber auf Infrastrukturen angewiesen, die in der Schweiz wenig ausgebaut waren. Die Sowjetunion steuerte beim Erdgasexport vor allem Kompensationsgeschäfte an, bei denen Kredite oder Anlagen für die Erdgasindustrie ausnahmslos durch Erdgas bezahlt werden sollten. Da die schweizerischen Bezüge zu gering waren, importierte die Schweiz letztendlich über die westdeutsche Ruhrgas sowjetisches Erdgas.

Die drei Fallstudien sind zentral für die Arbeit und sehr gut gelungen. Sie arbeiten die Hintergründe, Motivationen, Diskussionen und Differenzen in den schweizerisch-sowjetischen Handelsbeziehungen der Nachkriegszeit für die drei Sektoren heraus und beantworten damit exemplarisch die zentrale Fragestellung, wie sich die Handelsbeziehungen zur Sowjetunion in der Breschnew-Ära entwickelten.

Ihre Analyse schliesst Lohm mit den Schlussbetrachtungen ab, in denen sie auf die Analysekategorien von Peter Collmer zurückgreift.1 Hier wäre es allerdings noch stimmiger gewesen, auf den „kontinuierlichen Handel“ und den schweizerischen Pragmatismus zu fokussieren. Denn offensichtlich traten politische und ideologische Überzeugungen in den Hintergrund, wenn es um den Geschäftsabschluss ging. Damit unterschied sich der schweizerische Aussenhandel mit der Sowjetunion grundlegend etwa von jenem der Bundesrepublik Deutschland, der immer auch die Klärung strittiger politischer Fragen und insgesamt eine Aussöhnung der ehemaligen Kriegsgegner verfolgte und damit eine ganz andere inhaltliche Ausrichtung erhielt, wenn auch hier Handelsgeschäfte zur Annährung beitragen sollten. In der Schweiz, so postuliert Lohm, ersetzte der Aussenhandel bisweilen die Aussenpolitik.

Abschliessend kann man feststellen, dass Christina Lohm eine solide Monografie verfasst hat, die einen tiefen und interessanten Einblick in die schweizerisch-sowjetischen Handelsbeziehungen in der Nachkriegszeit aus Schweizer Perspektive gewährt, die die Ausgestaltung der Geschäfte, beteiligte Firmen und Personen sowie deren Motivationen durchleuchtet. Der Aufbau und Erzählstrang verfolgen die klare Linie einer schweizerischen Sichtweise auf den Aussenhandel. Gleichzeitig liegt darin auch das grösste Defizit: Dass keine sowjetischen Quellen miteinbezogen werden, führt zu verkürzten und einseitigen Interpretationen der innersowjetischen Wirtschaftsdiskussionen und der sowjetischen Aussenhandelspolitik, die sich aus schweizerischen Quellen nicht ausreichend analysieren lassen. Die Beleuchtung der sowjetischen Seite war aber ohnehin nicht das erklärte Ziel der Arbeit. So leistet die historische Untersuchung einen grundlegenden und wertvollen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im Kalten Krieg.

Anmerkung:
1 Siehe hierzu Peter Collmer, Die Schweiz und das Russische Reich 1848–1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung, Zürich 2004.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension