Die Debatte um die Beziehungen, Kontinuitäten und Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist eine der bedeutendsten historischen Kontroversen der Gegenwart. Anfang der 2000er-Jahre begannen Historiker:innen den Holocaust und den Kolonialismus als miteinander verbundene historische Phänomene zu beschreiben und hinterfragten in der Geschichtswissenschaft etablierte Perspektiven, die beide als vollkommen separat zu betrachtende, ontologisch verschiedene Gewaltgeschichten darstellten. Daraus entspann sich eine robust geführte wissenschaftliche Debatte.1 Unter dem Stichwort „Historikerstreit 2.0“ erhielt diese geschichtswissenschaftliche Debatte etwa 20 Jahre später ein öffentliches Echo in den deutschsprachigen Feuilletons und eine erhitzte mediale Debatte. In diesem diskursiven Umfeld ist das hier besprochene Buch verortet. Dabei ist es erfreulich, dass im aufgeheizten Klima eine Rückbesinnung auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung erfolgt. Dies ist umso bedeutender, als dass mit dieser Publikation, die in der Reihe „European Holocaust Studies“ des Zentrums für Holocauststudien am Münchener Institut für Zeitgeschichte erschienen ist, eine zentrale Institution zur Erforschung der Geschichte des Holocausts einen signifikanten Beitrag zur Erweiterung des Diskurses leistet.
Basierend auf der gleichnamigen Konferenz vom November 2020, versammelt dieser Sammelband Beiträge aus diversen Disziplinen, die sich mit der Verflechtungs- und Gewaltgeschichte von Nationalsozialismus und Kolonialismus beschäftigen. Aufgeteilt ist das Werk in vier Segmente: eine Sektion mit acht „Research Articles“, gefolgt von einer „Roundtable Discussion“, einem „Source Commentary“ und abschließend fünf „Project Descriptions“. In ihrer programmatischen Einleitung, die sie selbst als Teil der „Research Article“ fassen, erläutern die beiden Herausgeberinnen ihren Ansatz, ausgehend von Raphael Lemkins, Aimé Cesaires und Hannah Arendts Überlegungen, Verbindungslinien zwischen europäischem Imperialismus und Nationalsozialismus empirisch zu untersuchen. Ihre Einleitung ist ein starkes Plädoyer für komparative Analysen und Perspektiven, die den Holocaust gemeinsam mit europäischer Kolonialgewalt als Teil eines Kontinuums untersuchen.
Dorota Glowacka untersucht in ihrem Beitrag Schnittpunkte zwischen dem Holocaust und den Erfahrungen der indigenen Bevölkerung Nordamerikas anhand des Konzepts des kulturellen Genozids. Sie weist auf Ähnlichkeiten in der durch siedlungskoloniale diskursive Dispositionen erschaffenen Metapher der „untergegangenen Welten“ („vanished worlds“) zwischen Nordamerika und Osteuropa hin und argumentiert, „dass die Auseinandersetzung indigener Denker mit der Bedeutung des Kulturverlusts infolge genozidaler Gewalt Licht auf das Verständnis des Kulturverlusts während des Holocausts werfen kann“ (S. 57). Glowackas Artikel zeigt, wie Ansätze aus der Kolonialgeschichte, insbesondere aus den Settler Colonial Studies, produktiv für eine vertiefte Analyse des Holocaust genutzt werden können.
Jack Palmer nähert sich in seinem eher theoretisch angelegten Beitrag Raphael Lemkins Genozid-Konzept als einer Geschichte konzeptioneller Verflechtungen und den Kontexten, vor deren Hintergrund Lemkin den Begriff einführte. Genozid, so Palmer, sei in Lemkins Konzeptualisierung mit den Konzepten von Aussterben („extinction“) und Besatzung („occupation“) verwoben (S. 62) und dadurch mit der spezifischen Form des Siedlungskolonialismus verbunden. Dies hinterlasse Aporien des Konzepts, da Lemkin Formen kolonialer Herrschaft gutgeheißen habe, die bestehende indigene Kulturen als Objekte der „Bewahrung“ („preservation“, S. 75) imaginierte, das in sich selbst Formen des „‚absolutistischen‘ Identitätsdenkens“ in sich trüge (S. 77). Gleichzeitig habe Lemkin das genozidale Potential anderer Formen kolonialer Herrschaft unterschätzt.
Sarah Ehlers nutzt die Biografien der Tropenmediziner Claus Schilling, Robert Kudicke und Gerhard Rose, um Kontinuitäten zwischen Kolonialmedizin und Nationalsozialismus zu beleuchten. Schilling begann seine Karriere in Togo und Deutsch-Ostafrika und war ab 1942 im Konzentrationslager Dachau für Menschenversuche mit synthetischen Malariamitteln an über 1.200 Häftlingen verantwortlich. Ehlers verwendet diese Biografien als Ausgangspunkt für ihre Überlegungen zu den Übergängen von kolonialmedizinischen Praktiken hin zu nationalsozialistischen Verbrechen. Ehlers argumentiert, dass personelle Kontinuitäten zwar nicht aussagekräftig seien, sie aber bei der Ausleuchtung von Kontinuitäten in spezifischen Fällen – etwa von Menschenversuchen – helfen können. Obwohl sie in ihrem Beitrag – an Gerwarth und Malinowski anküpfend – konstatiert, dass die Taten der Mediziner im Nationalsozialismus sich „fundamental“ von ihren Aktivitäten im Kolonialismus unterscheiden würden (S. 114), habe der deutsche Vernichtungskrieg im Osten doch einen Rahmen für die Radikalisierung der Täter geboten, durch den die Kolonialmediziner weder sich noch ihre Expertise neu erfinden mussten. Diese Überlegung führt jedoch zu der Frage, ob die Kolonialmedizin nicht nur personelle Kontinuitäten zum Nationalsozialismus aufwies, sondern auch strukturell besser als andere Subdisziplinen in die nationalsozialistische Medizin integriert wurde und aufgrund welcher spezifischen Elemente dies der Fall gewesen sein könnte.
Ángel Alcalde beleuchtet in seinem erhellenden Beitrag Kontinuitäten zwischen dem Rifkrieg in Marokko und dem Spanischen Bürgerkrieg. Viele der insbesondere in Südspanien verübten Massaker und Gräueltaten wurden von der spanischen „Afrikanischen“ Armee verübt, die aus marokkanischen Regulares Indígenas und der Spanischen Legion bestand. Die „Rückkehr“ der kolonialen Gewalt nach Spanien, so der Autor, sei ein eigener Weg vom „Rif nach Badajoz“. Neben personellen Kontinuitäten, symbolisiert durch Francisco Franco, verweist der Rückgriff auf Martin Shaws Konzept des „degenerierten Krieges“ auf eine Kriegsführung, die gezielt Zivilistinnen und Zivilisten ins Visier nimmt. Diese Strategie bildet ein Kontinuum, das die Bekämpfung kolonialen Widerstands mit dem Massenmord in Spanien selbst verbindet.
Carroll P. Kakel III erläutert in seinem Beitrag, der auf seiner bereits 2011 erschienenen Monografie basiert2, Gemeinsamkeiten zwischen der Kolonisierung des amerikanischen Westens und dem Lebensraum-Konzept der Nationalsozialisten. Es sei die durch die Lektüre von Karl May und Frederick Jackson Turner ausgelöste Faszination Adolf Hitlers und anderer wichtiger NS-Politiker für den „Wilden Westen“ gewesen, die ein großes Repertoire an kolonialen Fantasien inspiriert und damit einen zentralen Interpretationsrahmen für die Eroberung des „wilden Ostens“ erzeugt hätte. Darüber hinaus habe die Kolonisierung des amerikanischen Westens auch in ideologischer Hinsicht wichtige Impulse für das Lebensraum-Konzept geliefert, etwa durch die Monroe-Doktrin, in der die USA ihre Interessensphären festlegten.
In ihrem Artikel verwendet Jadwiga Biskupska das Konzept des „Siedlungskolonialismus“, um die spezifischen Gewaltverhältnisse in der Region um Zamość zu erklären. Die Stadt Zamość, die sich im Distrikt Lublin des „Generalgouvernements“ in Ostpolen befand, diente als Experimentierfeld für die Gewaltpraktiken der SS. Biskupska identifiziert fünf Phasen siedlungskolonialer Experimente während der Besatzung des Bezirks Lublin. Diese reichten von der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Polen, Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei in sogenannte „Reservate“ in der Region, über deren Ghettoisierung, bis hin zu ihrer Ermordung in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor und der anschließenden Besiedelung mit Deutschen, die schließlich zur völligen Verdrängung der einheimischen polnischen Bevölkerung führte. Biskupskas Analyse belegt eindrücklich, dass das Konzept des Siedlungskolonialismus ein treffender Ansatz für die gemeinsame Untersuchung von Kolonialismus und Nationalsozialismus ist.
Aleksandra Szczepan widmet sich in ihrem instruktiven Beitrag der „dualen Qualität“ (S. 187) des osteuropäischen Raumes, der einerseits imaginiert, projiziert und erobert und andererseits erlebt, gelebt und erinnert wurde und wird. Szczepan weist auf Leerstellen in der Holocaust-Historiographie hin und macht überzeugend deutlich, dass post- und dekoloniale Ansätze auch bei der Dezentrierung der noch immer stark auf den Westen und Globalen Norden zugeschnittenen Forschung helfen kann, indem diese Ostmitteleuropa nicht nur als Objekt der Untersuchungen sondern als gleichberechtigten Partner in der Wissensproduktion betrachtet. Eine lange Zeit sei Osteuropa durch drei Perspektiven geprägt gewesen, durch die Ästhetisierung der Landschaft, das Othering seiner Bevölkerung und der Homogenisierung ihrer Identität. Szczepan schlägt vor, dem „counter mapping“ durch Holocaustüberlebende und Zeitzeug:innen mehr Beachtung zu schenken, damit man sich den „schwarzen Löcher“ des Holocaust behutsam nähern kann.
Nach den Forschungsbeiträgen enthält der Band eine Dokumentation der Podiumsdiskussion, die anlässlich der Tagung geführt wurde. Dabei erörterten Edward Kissi, Tom Lawson, Ulrike Lindner und Mirjam Zadoff die Chancen, Herausforderungen und Grenzen, die sich bei der gemeinsamen Betrachtung von Kolonialismus und Holocaust ergeben. Die Podiumsgäste thematisierten unter anderem die Bedeutung der Singularitätsthese sowie die Verbindung zwischen den beiden Phänomenen, die insbesondere durch vergleichende Genozidforschung hergestellt wird. Zudem thematisierten sie die Notwendigkeit, beide Phänomene gemeinsam zu betrachten, deren aktuelle Relevanz sich laut Zadoff insbesondere aus der Bedrohung durch rechtsradikale Ideologien speist.
Etwas verloren wirkt der in einem eigenen Kapitel verortete Quellenkommentar. In diesem analysiert Elizabeth Harvey die Memoiren von Charlotte Kahane, die ihre Identität als jüdische Polin dadurch verschleierte, indem sie eine vermeintlich „arische“ Identität annahm und in Sachsen als Zwangsarbeiterin bis zu ihrer Befreiung arbeitete. Obwohl die Quelle zweifellos faszinierend ist, bleibt ihre Einbindung in den Gesamtkontext des Bandes hinter den Möglichkeiten zurück. Eine Anreicherung durch relevante Fragestellungen und Perspektiven aus der Kolonialgeschichte oder auch die Benennung der Grenzen der verflechtungshistorischen Betrachtung hätte ihr Potential, zum Gesamtthema des Bandes beizutragen, sicherlich verstärken können. So jedoch bleibt die Darstellung der Quelle ohne explizite Verbindung zum übergreifenden Thema.
Den Abschluss des Bandes bilden die Projektbeschreibungen, die ein breites Spektrum an Forschungsthemen abdecken. Manuela Bauche, Danna Marshall, Volker Strähle und Kerstin Stubbenvoll beleuchten die Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Robin Bullers Beitrag widmet sich den osmanischen Juden in Paris. Tom Menger untersucht die koloniale Kriegsführung im britischen, niederländischen und deutschen Kolonialreich. Roni Mikel-Arieli thematisiert jüdische Deportierte auf Mauritius. Diese Projekte betonen sämtlich das in der analytischen Verbindung von Kolonialismus und Nationalsozialismus liegende Potenzial für die historische Forschung.
Insgesamt stellt der Sammelband einen bedeutenden Beitrag zur aktuellen Debatte über die Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus dar. Die Herausgeber:innen und Autor:innen zeigen durch eine Vielzahl von Perspektiven und Forschungsansätzen nicht nur die Komplexität der Thematik, sondern weisen auch auf neue Wege für künftige Untersuchungen hin. Die Stärke des Bandes liegt in der Vielfalt der Beiträge, die sowohl empirisch dicht als auch theoretisch fundiert sind. Sie stellen zusammen ein beeindruckendes Plädoyer für eine gemeinsame Analyse von Kolonialismus und Nationalsozialismus dar. Trotz kleinerer Kritikpunkte zeigt der Band eindrücklich, dass eine integrierte Betrachtung der beiden historischen Phänomene nicht nur möglich, sondern auch äußerst fruchtbar ist, um ein tieferes Verständnis globaler Gewaltgeschichten und deren Nachwirkungen zu erlangen. Der Band ist somit eine notwendige empirische Abkühlung der aufgeheizt geführten medialen Debatte um den „Historikerstreit 2.0“ und stellt eine wichtige Lektüre für alle dar, die sich ernsthaft mit den komplexen Beziehungen, Kontinuitäten und Zusammenhängen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus auseinandersetzen möchten.
Anmerkungen:
1 Vgl. als Auftakt der Debatte: Jürgen Zimmerer, Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zur Archäologie des genozidalen Gedankens, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1098–1119. Zu einem Band zusammengefasst finden sich dieser und weitere Beiträge in: Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011. Zur Kritik siehe etwa: Birthe Kundrus, Kolonialismus, Imperialismus, Nationalsozialismus? Chancen und Grenzen eines neuen Paradigmas, in: Claudia Kraft / Alf Lüdtke / Jürgen Martschukat (Hrsg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt am Main 2010, S. 187–210; Robert Gerwarth / Stephan Malinowski, Der Holocaust als »kolonialer Genozid«? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439–466. Zur Übersicht über die Debatte siehe: Thomas Kühne, Colonialism and the Holocaust: Continuities, Causations and Complexities, in: Journal of Genocide Research 15 (2013), S. 339–362.
2 Carroll P. Kakel III, The American West and the Nazi East. A Comparative and Interpretive Perspective, New York 2011.