N. Valsangiacomo u.a. (Hrsg.): Sinneslandschaften der Alpen

Cover
Titel
Sinneslandschaften der Alpen. Fühlen, Schmecken, Riechen, Hören, Sehen


Herausgeber
Valsangiacomo, Nelly; Mathieu, Jon
Erschienen
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Romed Aschwanden, Institut Kulturen der Alpen, Universität Luzern

Claude Reichle, Matthias Stremlow und Norman Backhaus entwickelten in den 2000er-Jahren ein Landschaftsmodell für den Alpenraum, um einen theoretischen Rahmen für „kulturwissenschaftliche Frage[n] der Perzeption und Repräsentation von Landschaft“ zu begründen.1 Dieses Modell beinhaltet unter anderem sechs Dimensionen von Landschaft: ästhetisch, identifikatorisch, politisch, ökonomisch, ökologisch sowie körperlich und sinnlich. Während die ersten fünf in zahlreichen Publikationen ausgiebig erforscht worden sind, steht die sechste Dimension diesbezüglich im Abseits. Dies ist zweifellos dem Umstand geschuldet, dass die Kulturgeschichte der Sinne eine junge Disziplin ist und sich „weiterhin in einem experimentellen Stadium [befindet]“ (S. 9). Mit dem vorliegenden Band präsentieren Nelly Valsangiacomo und Jon Mathieu eine höchst zu begrüßende Schau der bisher durchgeführten „Experimente“ im Alpenraum. Die fünf beteiligten Autor:innen rekapitulieren dabei nicht nur den state of the art, es gelingt ihnen auch, anregend zu vermitteln, welchen Gewinn die historische Auseinandersetzung mit Sinneslandschaften, der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer kulturellen Formung ermöglicht. Die Herausgeber:innen situieren den Sammelband im noch jungen Forschungsfeld der sensory studies und folgen den Spuren des französischen Historikers Alain Corbin. Es sei auffällig, so ist in der Einleitung zu lesen, dass die Fachgemeinschaft sich insbesondere Städten und Marktplätzen widme, Landschaften jedoch kaum behandle. Das Buch widmet sich nun dieser Lücke.

Die Buchbeiträge behandeln die fünf menschlichen Sinne in der Reihenfolge, wie sie Conrad Gessner 1563 in seiner Lehre der Seele (De Anima) festgelegt hat: Fühlen, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen – entgegen der aristotelischen Sinneslehre, die mit dem Sehen beginnt. Claude Reichle widmet sich dem Fühlen. Durch die einleitende Rekapitulation des (französischen) Wissenschaftsdiskurses zum Thema und das Ausbreiten theoretischer Argumente macht Reichle rasch klar, dass die körperliche Wahrnehmung von Landschaft äußerst schwer zu fassen ist. Anhand des „Sonnendoktors“ Arnold Riklin (1823–1906) und des Arztes Auguste Rollier (1874–1954), der in Leysin eine Klinik gründete, gelingt es dem Autor, die Thematik zu konkretisieren. In den Praktiken beider Kurärzte stand die Haut als Medium der Heilung sowie ihre Exponierung in der (Alpen-)Landschaft im Zentrum. Reichle spannt den Bogen von diesen „Landschaftskuren“ (S. 29) über die Lebensreformbewegung bis hin zur Ästhetik der Tourismusplakate des frühen 20. Jahrhunderts und zeigt damit auf, wie aufschlussreich und gleichermaßen vernachlässigt die Auseinandersetzung mit dem Fühlen ist.

„Welches könnte der Geschmack der Alpen sein?“, fragt Isabelle Raboud-Schüle einleitend in ihrem Beitrag über das Schmecken. Vorweg stellt sie klar, dass die Suche nach „typischen“ regionalen Produkten eine Folgeerscheinung der Globalisierung in den 1980er-Jahren und ein Produkt des Marketings ist. In ihrer Annäherung arbeitet sie heraus, wie lokal verfügbare Lebensmittel (Bitterstoffe der Alpenpflanzen) sowie Verarbeitungsmethoden (Versäuerung als Konservierungsmethode) spezifische Aromen hervorbringen. Im Falle der Alpen führe dies, so Raboud-Schüle, zu einer Prägung des Geschmacks durch das Bittere und das Saure. Ihr Beitrag schließt mit der Feststellung, dass zunehmend auch Produkte wie Heu oder Pflanzen wie etwa das Edelweiß (dessen Eigengeschmack „zwischen Blumen und Kräutern angesiedelt“ seien (S. 59)) Einzug in die Küchen halten: Das als „typisch“ Erachtete ist durchaus konjunkturabhängig.

Im nächsten Beitrag rekapituliert Beat Gugger die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Riechen. Für den Alpenduft verantwortlich zeigen sich insbesondere die Flora sowie die Saisonalität der landwirtschaftlichen Tätigkeiten: Beispielsweise wird der harzige Duft der Latsche beziehungsweise Bergföhre gerne mit dem „typischen Alpenduft“ assoziiert, ebenso wie der Duft frischen Heus – eigentlich aber, so Gugger, sei der Duft von „Schmierfett und Eisenabrieb“ (S. 68), also jener der Verkehrsinfrastruktur, gerade für Tourist:innen häufig der erste olfaktorische Eindruck bei ihrer Ankunft in den Alpen. Spätestens seit den 1960er-Jahren sind denn punktuell auch stinkende Abgase zunehmend präsent in der vielgepriesenen „würzigen Alpenluft“.

Von der Nase geht es weiter zu den Ohren. Nelly Valsangiacomo erkennt in der Untersuchung von Klängen einen Zugang, um bestehende Vorstellungen, Visionen und Traditionen zu hinterfragen. Die kulturhistorische Forschung nähere sich dem Gegenstand einerseits durch die Rekonstruktion von Klängen beziehungsweise Klanglandschaften, andererseits durch die Analyse des Wandels von Klangwahrnehmungen. Prägend für die klangliche Wahrnehmung und die Klangvorstellung von den Alpen war die Romantik, die das Bild der Alpen als ursprüngliches Paradies prägte. So wurden beispielsweise Hirtengesänge idealisiert, aber auch die Stille als alpiner Topos geschaffen. Wie Gugger schlägt auch Valsangiacomo den Bogen zu den gegenwärtigen Umweltproblemen: Neuerdings seien diese ebenfalls akustisch wahrnehmbar, Helikopterflüge verdrängten zusehends die sakrale Stille, die man in den Alpen zu finden erhoffe.

Die Romantik war schließlich auch prägend für die visuelle Wahrnehmung der Alpen, wie Bernhard Tschofen im letzten Beitrag verdeutlicht. Tschofen untermauert die These, wonach der „Gesichtssinn“ in den Alpen besonders prominent ist: Sowohl durch Darstellungspraktiken (bebilderte Reiseberichte, Panoramen) als auch durch „organisierte Aussichten“ (S. 118) – wie jene von der Rigi – war und ist er zentral für die Ausgestaltung der Alpenwahrnehmung. Einleitend vermittelt Tschofen zudem, dass die Alpen selbst die Alpensichten prägen: Die Topographie präfiguriert die Blickwinkel und das Fortbewegen in den Bergen, das Wege, Passstraßen oder Tunnels erfordert, strukturiert die Perspektive auf die Alpen maßgeblich. In der Untersuchung des Produktionsprozesses von Bildern und Blickregimes – sei es durch Mensch, Natur oder Technik – sieht Tschofen künftigen Forschungsbedarf.

Die fünf Beiträge sind unterschiedlich konzipiert, einige eher theorieaffin, andere stärker empirisch ausgerichtet. Allen ist gemeinsam, dass sie die jeweilige Sinneswahrnehmung unter dem Aspekt des Wandels betrachten und zeitabhängige kulturelle Prägungen herausarbeiten. Abgesehen davon stehen sie weitgehend autonom nebeneinander, es fehlen explizite Querbezüge. Themen, Quellenbezüge oder Argumentationslinien, die sich über mehrere Artikel erstrecken, sind aber durchaus zu entdecken: Der Umstand etwa, dass der Zürcher Gelehrte Conrad Gessner (1516–1565) in seinen Berichten sowohl über den Duft als auch den Klang in den Alpen schrieb, überrascht und fasziniert. Durch diesen Facettenreichtum, den die Autor:innen eröffnen, dient das Buch nicht nur als Einführung in die kulturhistorische und sinnesorientierte Erforschung der Alpen, als die es konzipiert worden ist. Es regt allgemein dazu an, den eigenen Blickwinkel auf die Alpen zu hinterfragen, die Ohren zu spitzen und die Nase in den Wind zu halten – sei es als Forscherin oder als Alpenbesucher.

Anmerkung:
1 Claude Reichler / Matthias Stremlow / Norman Backhaus, Ein Landschaftsmodell für den Alpenraum. Erkenntnisse aus einem schweizerischen Forschungsprogramm, in: Histoire des Alpes – Storia delle Alpi – Geschichte der Alpen 12 (2007), S. 307–321, hier S. 308. Online: <https://doi.org/10.5169/seals-12760> (05.05.2023).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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