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Titel
Die Briefe Karls des Kahlen. Einführung und Edition


Autor(en)
Schrör, Matthias
Reihe
Monumenta Germaniae Historica – Studien und Texte (69)
Erschienen
Wiesbaden 2022: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
152 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Meeder, Geschichte, Radboud Universität Nijmegen

Die spannungsgeladenen Ereignisse im August und September 869 folgten dicht aufeinander. Auf dem Rückweg von einem Papstbesuch erkrankte König Lothar II. von Lotharingien an einem tödlichen Fieber und starb am 8. August in Piazenca. Die Nachricht von seinem vorzeitigen Tod verbreitete sich schnell. König Karl der Kahle, der sich in Senlis aufhielt, wurde bereits nach zwei Wochen informiert. Schnell zog er nach Osten, um das Gebiet seines verstorbenen Bruders zu beanspruchen. Er versammelte einflussreiche Männer aus Lotharingien und seinem eigenen Reich zunächst in Attigny, dann in Metz. Einer von ihnen war der einflussreiche Erzbischof Hinkmar von Reims, der seinem Neffen Hinkmar von Laon schrieb, dass er “zum Wohle der heiligen Kirche und des Friedens des christlichen Volkes” nach Lotharingien gehe, weil “der Herr König mich in seinem Brief angewiesen hat” (sicut mihi domnus rex litteris suis mandavit...).1 Der Brief Karls des Kahlen, in dem Hinkmar gerufen wurde, ist heute nicht mehr erhalten, und abgesehen von der zentralen Botschaft (“komm sofort nach Lotharingien”) kennen wir weder Inhalt noch Ton oder Wortlaut. Dies gilt leider für die meisten Briefe, die vom (oder im Auftrag vom) König des westfränkischen Reiches (reg. 843–877) geschrieben wurden. Matthias Schrör bietet in seinem Buch Die Briefe Karls des Kahlen: Einführung und Edition eine lang erwartete wissenschafliche Aufarbeitung der erhaltenen und verlorenen Briefe Karls des Kahlen.

In seinem Vorwort legt Schrör sein Ziel dar, ein vollständiges und detailliertes Verzeichnis der königlichen Briefe vorzulegen, und zwar sowohl derjenigen, deren Text erhalten ist, als auch derjenigen, deren genauer Text verloren gegangen ist. Neben aktualisierten Beschreibungen und Regesten bietet das Buch auch neue Editionen ausgewählter Briefe. Damit wird eindeutig eine Lücke in der gegenwärtigen Forschung geschlossen, denn er weist darauf hin, dass “mehrere Schreiben bislang lediglich in frühneuzeitlichen Drucken vorlagen, auf die die Wissenschaft in Ermangelung kritischer Editionen dennoch angewiesen war” (S. VII) (in Wirklichkeit scheint dieser Umstand jedoch nur für Brief 38 zuzutreffen). Für die Regesten der Briefe Karls konnten sich die Historiker bisher auf die Informationen in den drei Bänden des Recueil des Actes de Charles II le Chauve roi de France von Georges Tessier stützen, die inzwischen etwa ein dreiviertel Jahrhundert alt sind. Wie Schrör in seinem Vorwort feststellt, bietet Tessiers Werk jedoch keine “genaue Anzahl” (S. VII) der Schreiben des westfränkischen Königs, da das vorliegende Buch den 28 von Tessier identifizierten Briefen zehn weitere hinzufügen kann.2

In diesem handlichen Buch beginnt Schrör mit einer sehr kurzen Einleitung von 16 Seiten, in der er auf die Überlieferung, die Kanzlei, die Rolle der Überbringer und die äußeren und inneren Merkmale der Briefe hinweist. Auf drei Seiten versucht er, die Unterscheidung zwischen Mandat und Briefen zu beschreiben, kommt aber (zu Recht) zu dem Schluss, dass “der Übergang vom Brief zum Mandat zuweilen fließend” ist und “eine strikte Unterscheidung deswegen nicht in allen Fällen möglich oder sinnvoll” ist (S. 4). Trotz dieser Überlegung taucht die Terminologie an verschiedenen Stellen des Buches wieder auf, nämlich dann, wenn Schrör auf S. 16 die Nummern genauer aufzählt und feststellt, dass 23 der Schriften als Briefe und 15 als Mandate klassifiziert werden. In den Beschreibungen der einzelnen Stücke wird die jeweilige Textsorte jedoch nicht immer eindeutig gekennzeichnet.

Der Hauptteil des Buches ist den Informationen über die 38 Briefe vorbehalten, die Schrör identifiziert hat. Die Texte von 16 dieser Briefe sind entweder ganz oder teilweise erhalten. Die anderen 22 sind verloren, Deperdita, und erhalten ein Asterisk nach ihrer Nummer. Die Informationen über die einstige Existenz der Deperdita stammen aus Verweisen auf sie in anderen Texten, wie dem oben erwähnten Brief von Hinkmar von Reims an seinen Neffen. Das königliche Schreiben, auf das er sich bezieht, trägt heute die Nummer 23∗. Manchmal sind die Verflechtungen sogar noch komplexer, wie im Fall von Brief 27∗, der von Hinkmar von Laon in einem Brief an seinen Onkel erwähnt wurde. Nur die Antwort des Onkels ist überliefert, aber sie bewahrt den früheren Hinweis auf den Brief Karls. Sechs Hinweise auf königliche Briefe finden sich in päpstlichen Schreiben (von Hadrian II. oder Nikolaus I.), und weitere Erwähnungen finden sich in der Geschichte von Flodoard von Reims, in den Annalen von St. Bertin, in den Briefen von Lupus von Ferrières oder in konziliaren Verlautbarungen und königlichen Privilegien.

Für jeden dieser 38 Einträge gibt Schrör ausführlich Hinweise auf frühere wissenschaftliche Arbeiten, wie zum Beispiel handschriftliche Zeugnisse (für die erhaltenen Briefe), frühere Editionen, Regesten und Literatur. Der Autor verweist sehr vorteilhaft auf die URLs der digitalisierten Manuskripte (sofern vorhanden). Meistens (aber nicht immer) gibt Schrör den genauen Wortlaut der historischen Hinweise auf die Deperdita in großzügigen Zitaten wieder. Dies ist sehr zu begrüßen, da es einen Einblick in die Art und Weise gibt, in der das Senden und Empfangen von Briefen beschrieben wird. Das ist es, was Robert Flierman in seinem neuen Projekt an der Universität Utrecht als “lettercraft” bezeichnet, das den frühmittelalterlichen Brief als performatives Medium anerkennt.3 Schrörs Beschreibungen bieten flüchtige Blicke auf die Handlungen, die mit der Kommunikation durch Briefe verbunden sind, darunter das Überbringen, Vorlesen und Erklären des Inhalts. Die sehr kurze Beschreibung des Überbringers geht nicht näher auf die Aufgaben der missi ein, deutet aber an, dass schriftliche und mündliche Kommunikation Hand in Hand gingen.

Es ist daher bedauerlich, dass der Autor sich nicht die Gelegenheit genutzt hat, einige seiner Überlegungen zu erläutern, mit denen er anhand bestimmter Formulierungen in historischen Quellen die ehemalige Existenz verlorener Briefe ableitet. Manchmal sind diese Hinweise eindeutig, wenn sie die Worte epistola, litterae oder praeceptum enthalten. Es hängt also von der Terminologie der mittelalterlichen Autoren ab. In anderen Fällen ist der Hinweis auf Deperdita weniger eindeutig. Die einstmalige Existenz von Brief 12∗ beruht auf dem Wort petitiones, Brief 17∗ hängt von dem Wort missaticum ab. Brief 16∗ wird aus einer Mitteilung von Nikolaus I. abgeleitet, die auf eine frühere Kommunikation zurückgeht, und zwar aufgrund von Wörtern wie retuleritis und „nos[...] frequenter [...] exhortari studueritis“4 (Schrör gibt das Zitat nicht an). Der Beleg für Brief 25∗ basiert auf dem einzigen Wort denuntians in den Annalen von St. Bertin, als Karl die Reise nach Gondreville ankündigte um Große aus der Provence und Hochburgund zu empfangen. Darin zeigt sich die Komplexität, die mit der Identifizierung des einmaligen Daseins von materiellen Briefen verbunden ist, insbesondere angesichts der Tatsache, dass schriftliche Kommunikation fast immer von mündlicher Kommunikation begleitet wurde. Als Karl 864 missi nach Toulouse und (zweimal) nach „Gothia“ schickte (wie die Annalen von St. Bertin berichten), kann man sich vorstellen, dass die Männer schriftliche Briefe mit sich führten. Diese Passage taucht jedoch nicht als Hinweis auf verlorene Briefe in Schrörs Liste auf. Auch wenn seine Argumente für oder gegen die Aufnahme eines Textes durchaus berechtigt sein mögen, hätte dieser Leser sie gerne im Buch erläutert gesehen.

Von den sechzehn überlieferten Briefen wurden zehn nicht erneut ediert: acht befinden sich in Wilfried Hartmanns MGH Concilia 3 (1984) und 4 (1998), während die Editionen von zwei Briefen durch Marshall und Schmitz als maßgeblich angesehen werden.5 Schrörs Entscheidung, diese Briefe nicht neu zu edieren, ist gerechtfertigt: Es wurden keine neuen handschriftlichen Zeugen entdeckt, und man muss sich vor einer Überfülle von Editionen ohne sinnvollen Grund hüten. Alle Briefe erhalten jedoch aktualisierte Regesten.

Sechs Briefe werden neu ediert (9, 15, 24, 33, 37, 38), wobei nicht in allen Fällen klar ist, warum Schrör sich dazu entschlossen hat. In seiner neuen Ausgabe von Brief 38, dem Brief von Hinkmar von Reims an Papst Johannes VIII., der auf Geheiß Karls geschrieben wurde, kann Schrör die Zeugnisse einer bisher nicht beachteten Handschrift aus dem sechzehnten Jahrhundert einbeziehen: ein bedeutender Fortschritt gegenüber den älteren Ausgaben, die noch auf Sirmonds Ausgabe aus dem siebzehnten Jahrhundert zurückgehen. Brief 15, dessen Edition in MGH Epp. 6 zu finden ist6, wird erneut “unter Berücksichtigung jüngerer Forschungsergebnisse” (S. 52) gedruckt, was wahrscheinlich bedeutet, dass dem Text erklärende Fußnoten hinzugefügt wurden. Bei anderen Neuauflagen wird die Begründung nicht explizit gemacht. Der Text von Brief 9, dem Brief Karls an Erzbischof Wenilo von Sens, wurde ohne nennenswerte Änderungen aus der Ausgabe von Tessier (die auf einer Abschrift aus dem 19. Jahrhundert beruht) übernommen. Das Gleiche gilt für den Brief 33. Der Rezensent konnte keine nennenswerten Unterschiede zwischen der neuen Ausgabe von Brief 24 und dem Text in der Ausgabe von 1925 in MGH Epp. 6 feststellen. In ähnlicher Weise wurde der Text von Brief 37 kürzlich von Jesús Alturo in Teil 112 der zweiten Ausgabe der Chartae Latinae antiquiores (2017) gedruckt7, auf welche Schrör ebenfalls verweist, aber erhält auch in diesem Buch eine neue Ausgabe.

Der Rezensent hätte sich zwar eine ausführlichere Einleitung und eine klarere Begründung für die Auswahl des Autors gewünscht, doch sollte dies nicht davon ablenken, dass dieses Buch eine bewundernswerte sorgfältige Zusammenfassung der Informationen über die erhaltenen und verlorenen Dokumente darstellt und künftigen Forscher:innen einen schnellen Zugang zu den Spuren der zweifellos einstmals umfangreichen brieflichen Kommunikation Karls des Kahlen ermöglichen wird. Es wird der Anfang vieler neuer wissenschaftlicher Fragen sein.

Anmerkungen:
1 Rudolf Schieffer / Ernst Perels u.a. (Hrsg.), Epistolae Karolini aevi VI (Monumenta Germaniae Historica Epistolae 8,2), Wiesbaden 2018, S. 309.
2 Georges Tessier (Hrsg.), Recueil des Actes de Charles II le Chauve roi de France, 3 Bde., (Chartes et diplômes relatifs à l’histoire de France 9.1–3), Paris 1943–1966.
3 Flierman, Robert, Lettercraft and epistolary performance in early medieval Europe, https://www.nwo.nl/en/researchprogrammes/nwo-talent-programme/projects-vidi/vidi-2021 (13.3.2023).
4 Ernst Dümmler / Ernst Perels u.a. (Hrsg.), Epistolae Karolini aevi IV (Monumenta Germaniae Historica Epistolae 6), Berlin 1925, S. 329.
5 Wilfried Hartmann (Hrsg.), Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843–859. Concilia aevi Karolini DCCCXLIII–DCCCLIX (Monumenta Germaniae Historica Concilia 3), Hannover 1984; Wilfried Hartmann (Hrsg.), Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 860–874. Concilia aevi Karolini DCCCLX–DCCCLXXIV (Monumenta Germaniae Historica Concilia 4), Hannover 1998; Peter K. Marshall (Hrsg.), Servati Lupi epistulae (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Leipzig 1984; Gerhard Schmitz, Wucher in Laon. Eine neue Quelle zu Karl dem Kahlen und Hinkmar von Reims, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 37 (1981), S. 529–558.
6 Dümmler / Perels, Epistolae.
7 Jesús Alturo (Hrsg.), Chartae Latinae antiquiores. Facsimile-edition of the Latin charters. Part CXII: Spain I (Chartae Latinae antiquiores Series 2, 112), Dietikon-Zürich 2017.

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