S. Rindlisbacher: Lebensreform in der Schweiz

Cover
Titel
Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen


Autor(en)
Rindlisbacher, Stefan
Reihe
Zivilisationen und Geschichte / Civilizations and History / Civilisations et Histoire 72
Erschienen
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 87,50
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Johannes Bosch, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Stefan Rindlisbachers Buch ist entstanden aus einem Forschungsprojekt, das in zwei Teilprojekten die Lebensreform in der Schweiz von ihrer Entstehung bis in die Gegenwart untersuchte.1 Während Eva Locher die Lebensreform seit 1950 behandelte2, konzentrierte sich Rindlisbacher auf die Periode von 1850 bis 1950. Damit liegt erstmals eine umfassende Geschichte dieser Bewegung in der Schweiz vor, die bisher nur anhand lokaler Beispiele untersucht wurde.3 Der Autor strebt mit seiner Arbeit eine integrierte transnationale Geschichte an, die möglichst viele Gruppierungen in der Schweiz in den Blick nimmt, um die wechselseitigen Verknüpfungen zu berücksichtigen und dem Umstand gerecht zu werden, dass sich viele ihrer Akteure nicht bloß einer einzelnen Strömung zurechnen lassen. Dafür werden die „zentralen Diskurse, Praktiken und Bewegungsstrukturen“ (S. 20) untersucht, die die als „lifestyle mouvement“ (S. 40) charakterisierte Bewegung prägten.

Rindlisbacher macht drei Phasen aus, in denen sich die Lebensreform in der Schweiz entwickelte: Während im 19. Jahrhundert vor allem Einzelpersonen, häufig auch Migrant:innen, Ideen verbreiteten und erste Infrastrukturen entwickelten, begann eine zweite Phase um die Jarhundertwende mit der Gründung des überregionalen Naturheilverbandes 1899, der Entwicklung der Reformwarenwirtschaft und der Diffusion von Lebensreformideen und -praktiken in die Jugendbewegung und Reformpädagogik. Schließlich lässt sich ab der Zwischenkriegszeit eine dritte Phase ausmachen, in der die zuvor getrennt organisierten Bewegungen sich zunehmend vermischten und Synthesen eingingen.

Das zweite Kapitel stellt die Geschichte der Schweizer Naturheilkunde dar, wobei sich der Blick zwangsläufig über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus richtet: Als ein früher bekannter Protagonist der Naturheilkunde hatte der Unternehmer Arnold Rikli ab den 1860er-Jahren eine weit über die Schweiz hinausreichende Wirkung auf die entstehende naturheilkundliche Bewegung – bezeichnenderweise gründete er seine eigene Naturheilanstalt aber im (heute) slowenischen Veldes. Die Schweiz bildete jedoch ebenfalls einen günstigen Rahmen für Naturheilanstalten, konnten diese doch an den beginnenden Gesundheitstourismus in der Höhenluft anknüpfen, der bis heute mit Orten wie Davos oder St. Moritz verbunden wird. Die Untersuchung konzentriert sich auf verschiedene Einrichtungen, vom Sanatorium „Lebendige Kraft“ des bekannten Zürcher Arztes Maximilian Bircher-Benner bis zum Sanatorium des für die Lebensreform emblematischen Monte Verità. Durch die Fokussierung auf die Praktiken der Naturheilkunde bietet Rindlisbacher einen erhellenden Blick auf die Normalität der alltäglichen Lebensreform, sodass sich etwa die Bedeutung des Monte Verità relativiert, der zwar ein „innovativer Knotenpunkt internationaler Kunstströmungen“ war (S. 89), aber im Hinblick auf die naturheilkundliche Praxis auf etablierten Wegen blieb.

Auch der Schweizer Vegetarismus lässt sich, wie Rindlisbacher im dritten Kapitel darlegt, nicht allein nationalgeschichtlich schreiben: Organisatorisch waren seine Vertreter:innen im 19. Jahrhundert an den „Deutschen Verein für naturgemäße Lebensweise“ angebunden. Ab etwa 1900 wurde Max Bircher-Benner zu einer der prominentesten Stimmen der organisatorisch eng mit der Naturheilkunde verbundenen Bewegung. Schweizer Vegetarier:innen nahmen an den internationalen Debatten der Zeit teil, die nicht nur den Fleisch-, sondern auch den Konsum anderer Genussmittel und insbesondere von Alkohol kritisierten. Der Genussmittelkonsum, so die Kritik, führe nicht nur zur Degeneration des Individuums, sondern durch die Schädigung der Keimbahnen zu einer erblichen Belastung der Nachkommenschaft. Diese Haltung implizierte eine Nähe zur Eugenik, wobei in den vegetarischen Publikationen eugenische Zwangsmaßnahmen wie die Sterilisation bis in die 1920er-Jahre zunächst abgelehnt wurden, ihre Befürwortung sich dann aber zunehmend verbreitete.

Das vierte Kapitel behandelt mit der Schweizer Jugendbewegung eine Bewegung, die traditionell nicht zur Lebensreform gezählt wird. Der sogenannte Wandervogel war jedoch gerade in der Schweiz geprägt von lebensreformerischem Gedankengut, was sich insbesondere in der Verbreitung des Abstinenzgedankens ausdrückte. Dies lässt sich, wie Rindlisbacher nachzeichnet, auf den Einfluss zweier abstinenter Schweizer Studentenverbindungen zurückführen, deren Mitglieder auch in der studentischen Jugendkultur des Deutschen Reichs wirkten und Gesundheitspraktiken in den „Wandervogel“ einbrachten. Nur in der Deutschschweiz verbreitet, war der „Wandervogel“ stark zum Reich hin orientiert und partizipierte auch an der Verknüpfung von Lebensreform und Jugendbewegung, wie sie insbesondere nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 an Bedeutung gewann.

Im fünften Kapitel stellt Rindlisbacher die Funktion der Reformpädagogik und ihrer organisatorischen Grundlage als Vermittlungsinstanz lebensreformerischer Praktiken und Wissensbestände dar. Die Nähe der Reformpädagogik mit ihrer Betonung individueller Entwicklung und (Selbst-)Erziehung zur Lebensreform und deren Wertschätzung des Individuums liegt schon auf konzeptioneller Ebene nahe. Rindlisbacher zeigt aber auch, welche Bedeutung Einrichtungen wie dem Berner Lehrerseminar zur Vernetzung von lebensreformerischen Akteuren und Ideen zukam. Die Zeitschrift des Seminars diente als gemeinsames Forum unterschiedlicher Akteure, in dem reformpädagogische, psychoanalytische und lebensreformerische Ideen amalgamiert wurden. Insbesondere Werner Zimmermann, ein theosophisch inspirierter, jugendbewegter Schweizer Philosoph, steht im Zentrum dieses Kapitels. Er partizipierte durch seine Schriften, die überwiegend im Reich verbreitet wurden, und seine Bemühungen um eine internationale Jugendbewegung an zentraler Stelle an der Vermittlung und Verbreitung lebensreformerischer Ideen zwischen verschiedenen Bewegungen. Seine auf Befreiung der Sexualität gerichtete Lehre spielte eine erhebliche Rolle bei der Entstehung der Schweizer Nacktkultur, die ab Ende der 1920er-Jahre mit Vereinsgelände und der Zeitschrift „die neue zeit“ eine organisatorische Struktur bekam.

Zimmermann stellte auch einen wichtigen Mittler zwischen lebensreformerischen individuellen Reformbemühungen und explizit politischen Programmen wie der Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells dar, wie das sechste Kapitel erläutert. Trotz ihrer individualistischen Reformauffassung zeigten sich Teile der Lebensreform offen für die durchaus widersprüchlichen politischen Konzepte der Bodenreform und Freiwirtschaftslehre, in denen auch eugenische und sozialdarwinistische Gesellschaftsauffassungen einen selbstverständlichen Platz hatten. Trotz zeitweiligen Aufschwungs während der Wirtschaftskrise ab 1929 blieben die Bemühungen um parlamentarische Wahlerfolge ebenso begrenzt wie die Versuche Werner Zimmermanns, mit Mussolini oder der NS-Bewegung in Deutschland in Kontakt zu treten. Nachhaltiger wirksam wurden dagegen die Siedlungsprojekte der Schweizer Lebensreform wie die „Obstbaugenossenschaft Heimgarten“ (gegründet 1893) in der Nähe von Zürich, die – trotz antiurbaner Rhetorik – die Vorzüge des Lebens im Grünen mit der Nähe zu städtischen Verdienstmöglichkeiten verband.

Auf der Grundlage einer sorgfältigen Quellenarbeit an einem umfassenden und inhaltlich diversen Korpus bietet Rindlisbacher eine Darstellung, die nicht nur die traditionell mit der Lebensreform verknüpften Bewegungen – Naturheilkunde, Vegetarismus, Nacktkultur – untersucht, sondern deren Entstehung in einem weiteren Rahmen reformerischer Bemühungen im 19. und 20. Jahrhundert verortet. Besonders überzeugt dabei, dass nicht (nur) die Ideen, sondern die Praktiken der Lebensreform im Fokus des Buchs stehen, das somit die Alltäglichkeit und Normalität lebensreformerischen Lebens darlegt, statt lediglich die virtuosen Erscheinungen barfüßiger Propheten und avantgardistischer Künstler:innen zu untersuchen.

Die transnationale Perspektive der Arbeit zeigt – auch darin liegt ein großes Verdienst – nicht nur die vielfältigen Verbindungen Schweizer Lebensreformer:innen nach außen, sondern die grundsätzliche Problematik einer auf den Nationalstaat begrenzten Lebensreform-Historiographie: Erst die erweiterte Perspektive macht deutlich, dass die (Deutsch-)Schweizer Lebensreform zwar in hohem Maße in reichsdeutsche Debatten und Entwicklungen eingebunden war, dennoch aber nicht nur deren lokale Ausprägung darstellte. Stattdessen bildeten sich eigenständige Organisationen, die mit den reichsdeutschen zwar im Austausch standen, aber doch einen spezifisch schweizerischen Rahmen bildeten. Freilich waren die meisten Entwicklungen auf die Deutschschweiz begrenzt, während sich die Entwicklung in der Romandie stärker an Frankreich orientierte: Dort entwickelte die Lebensreform eine erheblich geringere Dynamik; ihre Akteure rezipierten stärker französische Diskurse und Austausch zwischen den Sprachräumen fand nur in sehr geringem Maße statt. Umso erstaunlicher ist es daher, dass Rindlisbacher „den Schweizer Nationalstaat als abgrenzbaren Handlungsraum“ (S. 26) beschreibt und diesen als Untersuchungsrahmen festlegt. Gerade seine Studie zeigt schließlich, dass die Räume der Lebensreform als Produkt des lebensreformerischen Handelns zu begreifen und als Ergebnis der Austausch- und Interaktionsprozesse zu bestimmen wären.

Dieser Widerspruch zwischen konzeptioneller Ausrichtung und Forschungsergebnis mindert jedoch nicht die große Bedeutung dieses Buchs für die Lebensreform-Forschung, da sie zum ersten Mal eine umfassende Darstellung der Schweizer Lebensreform im 19. und frühen 20. Jahrhundert bietet und zugleich deren grenzüberschreitende Einbindung in größere europäische Entwicklungen betont. Sie füllt endlich eine wichtige Lücke in der Forschung zur europäischen Lebensreform.

Anmerkungen:
1https://www.lebensreform-zeitgeschichte.ch/aktuell/lebensreform-in-der-schweiz/ (02.11.2022).
2 Eva Locher, Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt am Main 2021.
3 Vgl. z.B. Eva Büchi, Als die Moral baden ging. Badeleben am schweizerischen Bodensee- und Rheinufer 1850–1950 unter dem Einfluss der Hygiene und der „Lebensreform“, Frauenfeld 2003.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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