Forschung kann nicht eben selten umstritten, ja zuweilen gar umkämpft sein. Für die Kreuzzugsforschung trifft dies in besonderem Maße zu. Auf diesem Feld wurden und werden bis heute regelrechte Grabenkämpfe ausgefochten, die einen Außenstehenden vielleicht irritieren mögen. Bereits die Namensgebung der unterschiedlichen Gruppierungen ist eigenwillig: „Pluralisten“ schreiben gegen „Traditionalisten“ an, die sich wiederum mit „Popularisten“ und „Generalisten“ konfrontiert sehen. Diese Bezeichnungen stammt aus der Feder von Giles Constable, der sich in einem 2001 publizierten Aufsatz der schwierigen Aufgabe gestellt hat, das undurchsichtige Forschungsfeld zu vermessen und dessen Akteursgruppen auf den Namen zu bringen. Inwieweit diese Namensgebungen sinnvoll sind und ob sich wirklich alle Kreuzzugsforscher einer dieser Gruppierungen zurechnen lassen, soll hier nicht das Thema sein. Entscheidend ist vielmehr, dass auch der hier zu besprechende Sammelband eindeutig durch diese Debatte motiviert und als Beitrag in selbiger gelesen werden kann, ja muss.
Denn noch bevor der Leser erfährt, dass jener Band aus einer Konferenz hervorgegangen ist, die bereits im Oktober 2017 an der Universität Marburg veranstaltet wurde, wird er darüber in Kenntnis gesetzt, dass sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung bis heute ein irreführendes und simplifizierendes Bild von der Kreuzzugsbewegung vorherrsche: „If a survey were to be held today to find out what is meant by a crusade, the answer which would probably be given most frequently is that it refers to the wars of the Latin Christians of the high Middle Ages in the Holy Land.“ (S. 23). Neben diesem – nicht wirklich wissenschaftlich fundierten – Potentialis der Gegenwart wird von den Herausgebern des Bandes, Paul Srodecki und Nobert Kersken, zudem eine Dokumentation angeführt, die von einem bekannten deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ausgestrahlt wurde und in der die Geschichte der Kreuzzüge auf den Gegensatz zwischen Orient und Okzident, zwischen Christentum und Islam reduziert worden sei. Doch damit nicht genug: Auch in der Forschung sollen die „so-called Nothern crusades“ ebenso wie andere Kreuzzüge an den Rändern Europas lange Zeit ein Schattendasein gefristet haben. Demgegenüber setzte sich die Konferenz ebenso wie der hier anzuzeigende Sammelband zum Ziel: „to trace the manifold manifestations of the peripheral crusades in a comparative perspective spanning the entire European region and (with Egypt) even beyond“ (S. 24).
Eingeweihte in die weitverästelte Debate on the Crusades erkennen unschwer, dass hier Vertreter eines sogenannten Pluralismus sprechen. Bereits in den 1970er-Jahren hatte Jonathan Riley-Smith just dieses Caveat gegen die traditionelle Sichtweise, wie sie etwa von Hans Eberhard Mayer vertreten wurde, vorgebracht. Doch was zu Riley-Smith’ Zeiten sicherlich bahnbrechend und wegweisend war, dürfte heutzutage weniger überraschen. Der Umstand nämlich, dass die Kreuzzugsbewegung nicht nur in geographischer Hinsicht, sondern auch hinsichtlich der anvisierten Feindgruppen deutlich breiter bzw. komplexer war, als dies die traditionellen Einführungen zeigen, dürfte mittlerweile durch die zahlreichen Publikationen von Riley-Smith und seines Schülerkreises hinlänglich bekannt sein. Um es noch weiter zuzuspitzen: In seiner Quintessenz vermag der hier anzuzeigende Sammelband nicht zu überraschen. Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass die Herausgeber und Beiträger – Beiträgerinnen sind leider deutlich unterrepräsentiert, was aber ein generelles Problem der Kreuzzugsforschung ist – in den Fallstudien bzw. im Einzelnen sehr wohl neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Diesen Eindruck gilt es sogleich auszuräumen.
Jeder der achtzehn Artikel, von denen zwei in deutscher Sprache und die übrigen auf Englisch verfasst wurden, erhöht unser Wissen über die „peripheral crusades”. Um dies aufzuzeigen, sei hier die Beobachtung von Kurt Villads Jensen herausgegriffen, der einen in der (Kreuzzugs-)Forschung bisher vernachlässigten Aspekt in den Fokus rückt, nämlich die Obsession vieler Kreuzfahrer und Missionare für heidnische Götterbilder (idols), womit er einen materialitätsgeschichtlichen Aspekt in die Kreuzzugsforschung einbringt. Sodann sei der Beitrag von Oliver Auge positiv hervorgehoben, der die Eroberung der Insel Rügen in Zusammenhang mit der Kreuzzugsbewegung setzt und dabei interessante Verbindungslinien (aber auch Unterschiede) aufzeigen kann. Beide hier herausgegriffenen Beispiele zeigen das Potential des hier zu besprechenden Buches samt dessen Systematik: Mit seinem weitgespannten geographischen Fokus, der sich von den baltischen Regionen über die Iberische Halbinsel, den Balkan bis nach Ägypten erstreckt, gelingt es dem Band, seine selbstgesetzte Zielsetzung einzulösen, nämlich (noch) mehr Licht auf die „peripheral crusades” im hohen Mittelalter zu werfen. Dem Rezensenten sei zum Abschluss indessen die Frage gestattet, ob es nicht an der Zeit wäre, nicht nur unser Wissen über die geographischen Spannweiten der Kreuzzugsbewegung zu vertiefen, sondern neue Leitthesen zur Thematik zu konzipieren, die ihrerseits am empirischen Material bzw. historischen Fallbeispiel durchdekliniert, adaptiert und – sicherlich ebenfalls – dekonstruiert werden können.