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Titel
Industriemoderne in der Provinz. Die Region Ingolstadt zwischen Neubeginn, Boom und Krise 1945 bis 1975


Autor(en)
Schlemmer, Thomas
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 57 = Bayern im Bund Bd. 6
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VI, 420 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Tilly, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Die Region Ingolstadt gilt heute als erfolgreicher bayerischer Wirtschaftsstandort, der über die Landesgrenzen hinaus vor allem als Sitz der Audi AG bekannt ist. Die vorliegende Studie von Thomas Schlemmer, als Habilitationsschrift an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen, fragt nach der historischen Gewordenheit der Region im mittelbayerischen Donaugebiet mit ihren spezifischen Eigenschaften und nimmt dafür einen wechselvollen Zeitabschnitt bundesrepublikanischer Wirtschaftsgeschichte in den Blick: die Jahrzehnte zwischen Kriegsende, Nachkriegsprosperität und ersten Krisenerfahrungen in den 1970er-Jahren.

Ziel ist es, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel der Boomjahre mit der „Nahoptik einer Regionalstudie“ (S. 4) aus verschiedenen Perspektiven abzubilden. Ausgehend von der Annahme, dass „der ökonomische Strukturwandel der Nachkriegszeit Veränderungsprozesse in den Sektoren Sozialstruktur und Politik induziert oder zumindest dynamisiert hat“ (S. 5), werden potenziell strukturprägende Kräfte wie die Automobil- und Mineralölindustrie sowie Indikatoren des Wandels wie die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktstrukturen, die Infrastrukturverhältnisse und politische Strukturen untersucht.

Der Fokus auf die spätere Boomregion Ingolstadt erscheint dabei zum einen vielversprechend, weil er einen provinziellen, ländlichen Raum mit einer industriell geprägten Kernzone einblendet und damit die Frage nach der Balance von Landwirtschaft und Industrie sowie von Stadt und Land aufwirft – mithin letztlich auch die Frage nach Wachstumsverläufen bei rückständigen oder zumindest räumlich disparaten Ausgangsbedingungen stellt. Zum anderen rückt dieses Erkenntnisinteresse quasi „huckepack“ auch den Entwicklungspfad eines Automobilherstellers in das Blickfeld, dessen Unternehmensgeschichte nach 1945 bislang hauptsächlich populärwissenschaftlich erschlossen war: die Auto Union GmbH bzw. die Audi NSU Auto Union AG als Vorläuferunternehmen der Audi AG. Der lückenhafte Forschungsstand zu dem Ingolstädter Autobauer mag mit einer nicht unproblematischen unternehmensgeschichtlichen Quellenlage zu tun haben, was die Studie jedoch mit einer breiten Basis anderer Aktengruppen – zum Beispiel Schriftgut staatlicher und kommunaler Herkunft sowie Betriebsratsakten – aufzufangen sucht.

So konzentrieren sich die Abschnitte über den Automobilproduzenten zunächst mehr auf das regionale Bezugssystem des Unternehmens. Auf diese Weise kann die Untersuchung die standortbezogene Sogwirkung des Automobilherstellers herausarbeiten, dessen Beschäftigungseffekte in den Expansionsphasen über die Stadt und den Landkreis Ingolstadt hinausreichten und auch entferntere Gemeinden des mittelbayerischen Donaugebietes erfassten. Im Zuge dieses Ausgreifens spielte auch die Nebenerwerbslandwirtschaft eine gewisse Rolle. Zwar lassen sich nur wenig konkrete Anhaltspunkte für die quantitative Bedeutung des „Arbeiterbauern“ – einer für industrielle Erschließungsprozesse im ländlichen Raum gleichsam prototypischen Figur – im Einzugsbereich des Automobilproduzenten finden (S. 105ff.). Gleichwohl sei an dieser Stelle angemerkt, dass diese Lücke einem spezifischen Quellenproblem geschuldet ist und daher nicht dem Autor angelastet werden kann.

Weiterhin beleuchten die Kapitel zu den Boom- und Krisenphasen des Automobilwerks schlaglichtartig unternehmensgeschichtliche Wendepunkte wie zum Beispiel die Unternehmenskrise der 1960er-Jahre und die konfliktbehaftete Eingliederung in den Volkswagenkonzern, die mit Sorgen um die Selbständigkeit der neuen Konzerntochter verbunden war. Insgesamt blieb auch nach konzernstrukturellen Veränderungen (wie zum Beispiel der Verlegung des Firmensitzes nach Neckarsulm im Zuge der Fusion mit NSU) das Gewicht des Ingolstädter Werks für die Region ungebrochen.

Dennoch veränderten sich – wie die Studie auf verschiedenen Ebenen herausarbeitet – die politischen Strukturen im Untersuchungszeitraum nicht in dem Maße, wie man angesichts der Prägung der Region durch einen großindustriellen Arbeitgeber annehmen könnte. So verweist zum Beispiel die quellenbasierte Rekonstruktion der gewerkschaftlichen Bindungen im Automobilwerk zwar auf einen beachtlichen Erfolg der Gewerkschaften, der jedoch nur phasenweise in einigen Kernzonen mit vergleichbaren Erfolgen der SPD einherging. Wie etwa die Analyse der DGB-Ortskartelle zeigt, hatte die Partei Schwierigkeiten, den ländlichen Raum zu erschließen und dafür eine „strategische Partnerschaft“ (S. 313) mit den Gewerkschaften nutzbar zu machen. Der Blick auf die lokalen politischen Eliten offenbart hingegen deutliche Indikatoren des regionalen Wandels und demonstriert beispielsweise die Professionalisierung der politischen Akteure in der Stadt sowie in stadtnahen Kommunen und Landgemeinden (etwa die zunehmende Verdrängung der Landwirte aus dem Bürgermeisteramt, S. 338). Allerdings stößt hier der Mehrwert der „Nahoptik“ bisweilen an seine Grenzen, wenn etwa der eine oder andere Lokalpolitiker im Kurzporträt dargestellt oder die Zusammensetzung der regionalen Kreistage rekonstruiert wird, was für den Nicht-Ortsansässigen im Detail eine eher ermüdende Lektüre darstellt.

Spannend hingegen erscheint die Rekonstruktion des Infrastrukturprojekts, das die Region im Laufe der 1960er-Jahre zu einem Standort der Mineralölverarbeitung und damit zum „Energiezentrum“ (S. 216) avancieren ließ: des vom bayerischen Wirtschaftsministerium vorangetriebenen Baus von drei Erdölfernleitungen vom Mittelmeer nach Ingolstadt, auf den die Errichtung von fünf Raffinerien im Großraum Ingolstadt folgte. Hier kann die Studie anschaulich zeigen, wie trotz dieser geräuschvollen Weichenstellung die Effekte der strukturpolitischen Maßnahme weit hinter den Erwartungen der Projektplaner zurückblieben: die Arbeitsmarkteffekte des kapitalintensiven Industriezweigs blieben letztlich bescheiden, und die im größeren Maßstab angestrebte „industrielle Kettenreaktion“ (S. 221) – wie zum Beispiel die Ansiedlung mehrerer petrochemischer Betriebe – blieb aus.

Insgesamt macht die Studie somit plausibel, wie charakteristische Wesensmerkmale der Region, die noch gegenwärtig greifbar sind oder gar als regionalspezifisches Manko gelten – so die Tendenz zur industriellen Monostruktur und die Schwäche des Dienstleistungssektors – historisch gewachsen sind bzw. im Untersuchungszeitraum eine entscheidende Prägung erfahren haben. Der sozioökonomische Strukturwandel der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte wird damit deutlich. Gleichwohl ist es ein bisschen schade, dass vorab nicht deutlicher über mögliche Interdependenzen der abgehandelten Teilbereiche nachgedacht wurde. Obwohl die Darstellung meist „intuitiv“ damit überzeugt, bestimmte Dimensionen des Strukturwandels einander zuzuordnen, bleibt der Zusammenhang implizit. Es wäre vielleicht schärfend gewesen, einleitend zu fragen, ob bestimmte „Funktionsweisen“ (S. 4) des Wandels empirisch überhaupt fassbar sein können, ob man etwa Eigenlogik oder Steuerung im Wandlungsprozess überhaupt identifizieren kann.

Diese Kritik ist jedoch nicht als beckmesserisches Theoriepostulat gemeint. Vielmehr fällt das Fehlen solcher Vorüberlegungen vor allem deshalb auf, weil die Studie eingangs selbst den Anspruch formuliert, „Funktionsweise [...] und Prozesshaftigkeit“ (S. 4) des Wandels transparent zu machen. Alles in allem handelt es sich um eine kenntnisreiche, quellengesättigte Untersuchung, die einen besonderen regionalspezifischen Entwicklungspfad im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum mit seinen Ungleichzeitigkeiten und Ungleichgewichten anschaulich herausarbeitet.

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