Dass sich dieses Buch zu lesen lohnen dürfte, deutete sich bereits an der (übervollen) Vernissage im Zürcher Sozialarchiv an: Eine Schauspielerin las Quellenauszüge vor, Schlaglichter auf fast sechs Jahrzehnte Drogengeschichte voller Wechselfälle, in denen neue Stimmen zu Wort kamen. Zum Beispiel lateinamerikanische Drogenschmugglerinnen im Frauengefängnis Hindelbank, sogenannte „Eselinnen“, die ihre Haftbedingungen bestreikten. Drogen, so viel wurde an jenem Abend klar, regten an und vor allem auf, sie bewegten. Die Geschichte der Drogen ist auch deshalb ein Dauerbrenner, weil sie von verschiedenen Seiten her geschrieben werden kann. Jüngst standen vor allem stoffzentrierte Blicke auf die Materialität, Produktion, Zirkulation und Epistemologie von Drogen und Medikamenten im Fokus wissenshistorischer Studien.1 „Die Schweiz auf Drogen“ stellt hingegen die „Sucht“ ins Zentrum und bringt damit erneut einen sozial- und politikhistorischen Zugang ins Spiel, mit einem Auge auf lokale Handels- und Konsumsettings.2 Erschlossen wird dies auch über Gespräche mit Zeitzeug:innen, z.B. mit Ex-„Junkies“, einer Gassenarbeiterin oder einem Drogenfahnder, was in dieser Quellennähe lange ein Forschungsdesiderat blieb und interessante Alltagsgeschichten eröffnet. Besonders spannend sind Figuren, die zwischen den Fronten lagen, Polarisierungen aufbrachen oder schlicht Leseerwartungen enttäuschen: ahnungslose Polizisten, die erst mal Anschauungsmaterial bestellen müssen; ein frömmelnder, das Rampenlicht suchender Abstinenzler; die Filterlifixer:innen des Zürcher Platzspitzes, die Hells Angels oder die Gassengewerkschaft Froschsyndikat.3
„Die Schweiz auf Drogen“ ist umfassend recherchiert, nuanciert, reich bebildert und bietet eine ganze Reihe neuer Einsichten: eine gewisse drogenpolitische Progressivität war in der parteipolitischen Mitte streckenweise verbreiteter als heute; überraschend auch der Befund, dass Westschweizer Städte meist für repressivere Handhabungen des „Drogenproblems“ optierten als deutschschweizerische. Aufgezeigt wird auch, wie die Drogenfrage mit Migrationsdebatten verknüpft wurde – prominent im Medien-Feindbild des „ausländischen Dealers“ oder in der diskursiven Verbindung von Drogen mit der „Mafia“. Diese mediale Zuspitzung auf ausländische Händler und inländische Abhängige verdeckte strukturelle Aspekte (S. 197). Auch die Aufarbeitung der Suchthilfe ist gewinnbringend, so zum Beispiel der Dauerkonflikt zwischen Abstinenz-orientierten und pragmatischen Ansätzen, die Frage der Versicherungen (wer zahlt?) oder die institutionelle Ausdifferenzierung der entstehenden Sozialarbeit, Gassenarbeit und Psychiatrie.
Was genau Sucht ist und worin sie gründet, wurde über die Jahre hinweg unterschiedlich beantwortet. Zunächst als moralische Charakterschwäche betrachtet, wurde sie ins Feld der Psychiatrie verschoben und damit zu einer Krankheit. Das medizinische Suchtkonzept stand jedoch weiterhin im Spannungsverhältnis mit einer Sicht, die Abhängigkeit als Devianz, Süchtige als Kriminelle und Konsum als strafbare Handlung bekämpfte. Mit den sozialen Umbrüchen nach 1968 wurde es dann denkbar, dass Drogenkonsum ein nachvollziehbarer Ausdruck des Leidens an der Gesellschaft sei, um letztlich doch einem Trias-Modell mit den Faktoren Persönlichkeit, sozialem Umfeld und Substanz Vorrang zu geben (S. 82). Die 1975 in der Schweiz in Kraft getretene Revision des Betäubungsmittelgesetzes beförderte schließlich – nebst der erstmals expliziten Strafbarkeit des Drogenkonsums – auch therapeutische Alternativen zum Strafvollzug nach dem Motto „Therapie statt Strafe“, was ein „Experimentierfeld“ für Medizin, Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik eröffnete (S. 129). Multifaktorielle Erklärungen setzten sich langfristig durch, zuletzt mit neuen Erklärungsansätzen aus der Hirnforschung, was paradoxerweise jedoch nicht zu einer Entkriminalisierung des Konsums führte.
Dass diese Erklärungsmodelle Konsequenzen für die Behandlung bzw. Bestrafung hatten, liegt auf der Hand. Mit der Verortung der Abhängigkeit im Sozialen, in der Familie, im Politischen, in der Psyche, im „Charakter“ oder in den Substanzen selbst änderten sich auch die professionellen Zuständigkeiten und der Umgang mit Betroffenen im Spannungsfeld zwischen Strafe und Therapie. Dass „Suchtexpert:innen“ heute medizinisches, psychologisches, sozialarbeiterisches und pädagogisches Wissen vereinen, hat auch damit zu tun, dass „Sucht“ nie restlos in disziplinärem Denken aufging.
Ein Strang des Textes bildet die Suche nach Gründen für Umschwünge der Drogenpolitik zwischen Liberalisierung und Repression. Polizeiliche Verfolgung und politische Repression hingen oft mit der öffentlichen Sichtbarkeit der „Szenen“ und mit medialen Konjunkturen zusammen, wobei deren Höhepunkt mit den offenen Szenen auf dem Platzspitz und dem Letten in Zürich sowie dem Kocherpark in Bern in der Dekade von 1985 bis 1995 lag (S. 159). Dabei waren die Drogenszenen weit „heterogener als ihr öffentlich sichtbarer Teil“ und der Anteil sozial unauffälliger Konsumierender stets relativ hoch (S. 149). Die Kausalität zwischen „Drogenproblem“ und medialer Thematisierung sowie politischer Reaktion wird von den Autoren sehr plausibel auf den Kopf gestellt. Vielmehr folgten Medien, Partei- und Gesundheitspolitik, Stoffzirkulationen und soziale Veränderungen stets auch ihren eigenen Logiken.
Das fünfköpfige Autorenteam, das teilweise eigene Erfahrung in der Suchthilfe mitbringt, geht die Geschichte über drei verschiedene Zugänge bzw. Schwerpunktsetzungen an, was zu vielen Querbezügen und einigen Redundanzen führt. In vier Zeitabschnitte gegliedert, ist dieser Aufbau zwar interessant, jedoch nicht unmittelbar einsichtig. Pro Zeitabschnitt folgt erstens ein medien- und politikhistorisches Kapitel (Christian Koller), zweitens eine sozialhistorische, vielfältige Konsum- und Handelsmuster beleuchtende Sequenz (Peter-Paul Bänziger) und drittens ein Blick auf Fachdebatten (Michael Herzig). Abgerundet werden diese Dreierschritte durch die Dekaden mit einem Prolog zur langen Vorgeschichte von Christian Koller und einem Schlussteil zur Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert von Jean-Félix Savary und Frank Zobel. Die Dinge sind verwickelt, gerade wenn es um Drogen geht: Medialität und Politik, Konsummuster, Handelswege, die Agency von „Junkies“ und Stoffen, Gesetzgebungen, institutionelle Settings und lokale Szenen, parteipolitische Interessen und Behandlungsansätze sind nicht leicht voneinander zu trennen und ein Überblick wird schwierig. Vom Aufkommen des sogenannten Drogenproblems in den 1960er-Jahren über die Prohibition der 1970er-Jahre, dem Wechselspiel zwischen Duldung und Auflösung der offenen Drogenszenen bis hin zur Medikalisierung und Therapeutisierung – so fassen Felix Gutzwiller und Peter J. Grob, die das Vorwort beisteuerten, diese Geschichte in groben Zügen zusammen (S. 9).
Die Stärken dieses Buches liegen jedoch nicht nur im Aufzeigen dieser Verwobenheit, sondern viel mehr noch in den empirisch dichten, sozialhistorischen Schlaglichtern, die es auf den Konsum, den Handel oder die Sex- und Gassenarbeit wirft. Mangels Quellen fehlte die Handelsthematik bisher in vielen Drogengeschichten. Dass dies hier nachgeholt wird, ist ein grosser Gewinn. Damit kommt auch in den Blick, wie eng die Drogenpolitik manchmal mit den Handelsinteressen der exportierenden Pharmaindustrie verbunden war, oder dass offene Drogenszenen auch komplexe Marktplätze mit einem über blosse Drogen hinausreichenden, diversifizierten Angebot waren (S. 198ff.). Hier erhalten auch kreative, selbstorganisierte Aktionen ihren Platz in der Geschichte, zum Beispiel wenn es um die Verbindungen zur Jugendbewegung, die Autonomen Jugendzentren oder Fixerräume geht.
Ein wichtiges Anliegen des Buches ist, die Problematisierungskonjunkturen von Drogen und Sucht nuanciert aufzuzeigen. Denn nicht alle Drogen machen abhängig und nicht alle Süchte richten sich auf illegale Substanzen. Nebst den legalen Drogen Alkohol und Tabak bezieht das Buch deshalb konsequenterweise auch Medikamentenabhängigkeiten mit ein (z.B. S. 27).
„Die Schweiz auf Drogen“ sei deshalb all jenen wärmstens ans Herz gelegt, die sich für Drogengeschichte interessieren, oder auch für eine Geschichte der Jugendbewegung, der Suchtarbeit, der Gesundheits-, Kommunal- und Parteipolitik, für überraschende Alltagsgeschichten, für Lokalgeschichte oder für eine konzise politische und mediale Zeitgeschichte der Schweiz – das Buch ist nämlich als all dies und mehr lesbar. Gerade die Einbringung bislang nicht gehörter Stimmen zeigt, dass Drogen ein ausnehmend spannender Kristallisationspunkt der modernen Geschichte bleiben und weiterhin Potential für neue Themenfelder und historiographische Zugänge bergen.
Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Robert Feustel / Henning Schmidt-Semisch / Ulrich Bröckling (Hrsg.), Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive, Wiesbaden 2019.
2 Vgl. z.B. René Renggli / Jakob Tanner, Das Drogenproblem. Geschichte, Erfahrungen, Therapiekonzepte, Berlin 1994.
3 Die Filterlifixer:innen tauschten diverse Hilfsmittel (z.B. Löffel oder frische Spritzen) gegen Heroin, das beim Spritzenaufziehen durch Zigarettenfilter in diesen zurückblieb (S. 206). Das selbstorganisierte Froschsyndikat warnte u.a. mit Blechfröschen vor Drogenfahndern (S. 209f.).