Mit dem Ende der DDR und deren Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 verschwand auch deren Armee, die 1956 gegründete Nationale Volksarmee (NVA). Von der SED-Führung als „Friedensarmee“ dargestellt, war sie Teil des Militärbündnisses Warschauer Pakt und „ein wichtiges Aushängeschild zur Betonung der internationalen Bedeutung des jungen Staates“ (S. 46). Zugleich partizipierte sie im Wettrüsten der verfeindeten Blöcke und hätte im Falle eines Krieges im Ost-West-Konflikt an der deutsch-deutschen Grenze an vorderster Front gestanden.
Der Politikwissenschaftler Philipp Schultheiß zeigt detailliert, reflektiert und inspirierend in seiner Dissertation, was geschieht, wenn eine Armee mehrfach verschwindet. Dabei geht es ihm nicht nur um die Auflösung der DDR-Streitkräfte 1990 und das Schicksal ihrer größtenteils arbeitslos gewordenen ehemaligen Soldat:innen1 in der Bundesrepublik, sondern auch um die Tatsache, dass bei der Auseinandersetzung mit der DDR und der Aufarbeitung der Verbrechen des SED-Regimes die Nationale Volksarmee trotz ihrer tragenden Rolle im Staat häufig keine Rolle spielte oder lediglich an der Peripherie auftauchte.
Bis in die 1990er-Jahre befand sich die NVA im Zentrum der „Militarisierung des DDR-Alltags“; ihr Ziel war die Absicherung der Herrschaft der SED nach innen (S. 52). Eine Militarisierung, die mit Auftritten der NVA beim Sandmännchen sogar bis ins Kinderfernsehprogramm vordrang. Insbesondere durch die Einführung der Wehrpflicht 1962 sollte die NVA einer „Herrschaftsabsicherung durch Verschmelzung von Volk und Armee“ (S. 52) dienen. Trotz der 2,5 Millionen DDR-Bürger:innen, die über die Jahre im sozialistischen Militär dienten, zeigt Schultheiß, dass bei der Aufarbeitung der DDR kein großes Interesse an einer Auseinandersetzung mit der Armee bestand. Das belegt er damit, dass sowohl bei den Beratungen der Enquete-Kommission als auch bei den staatlich vorangetriebenen Museums- und Gedenkstättenarbeiten der NVA keine Bedeutung zukam.
Im Fokus des öffentlichen Interesses sowie des Prozesses der Transitional Justice standen in den 1990er-Jahren die Tätigkeiten und Verbrechen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und der Grenztruppen. Beide sind deshalb bis heute im kollektiven Gedächtnis der vereinten Bundesrepublik weit tiefer verankert als die NVA.2
Schultheiß nimmt in seiner Arbeit das Sprechen und Schreiben über die Nationale Volksarmee nach 1990 aus zwei Perspektiven unter die Lupe. Diskursanalytisch betrachtet er zunächst einen Quellen-Korpus aus 198 Zeitungsartikeln, Schulbüchern und Spielfilmen, die sich im Rahmen des DDR-Aufarbeitungsdiskurses zwischen 1990 und 2015 mit den Streitkräften befassen. Anschließend nimmt er eine Analyse des Diskurses vor, basierend auf den Selbstdarstellungen ehemaliger NVA-Soldaten, mit denen Schultheiß zahlreiche Fokusgruppen- und biographische Einzelinterviews geführt hat.
Im Gegensatz zur Bundeswehr waren Frauen Teil der Streitkräfte der DDR. Mit der Auflösung der NVA 1990 übernahm die Bundeswehr aber lediglich „Angehörige aus dem medizinischen Dienst, weil andere Einsatzgebiete in der Armee der Bundesrepublik noch nicht für Frauen geöffnet waren“ (S. 57). Das Verschwinden der Soldatinnen spiegelt sich auch in der Arbeit wieder, da die 70 Interviewpartner zwar aus sämtlichen ostdeutschen Bundesländern stammen, aber alle männlich sind.
Schultheiß zeigt, dass im Aufarbeitungsdiskurs, trotz der Bedrohlichkeit der NVA, die „ständig an der Schwelle zum Krieg gegen den liberalen Westen gestanden habe“ (S. 152), kein Ruf nach strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Armeeführung geäußert wurde. Das DDR-Militär wird im öffentlichen Diskurs nicht als Täter betrachtet. Das zeigen auch die, sowohl von ost- als auch von westdeutschen Autor:innen vertretenen, Äußerungen zur „NVA als Garant der Friedlichen Revolution 1989“ (S. 133). Beide Seiten betonen, dass die Generals- und Offiziersränge ein bewaffnetes Vorgehen gegen die Demonstrationen im Herbst 1989 ablehnten. Die durch das MfS begangenen Menschenrechtsvergehen dominierten den Diskurs, sodass es bei den Äußerungen zu den Streitkräften primär um die „strenge Überprüfung der ehemaligen NVA-Angehörigen im Zuge eines Lustrationsprozesses“ und die Entfernung von politisch vorbelasteten Soldat:innen (S. 153) ging. Dies wurde bei der Vereinigung der beiden Armeen in einer demokratischen Gesellschaft für notwendig gehalten. Dass diese als „Armee der Einheit“3 primär ein leeres Versprechen blieb, zeigt Schultheiß durch die Analyse der Interviews mit den ehemaligen NVA-Angehörigen.
Die analysierten Gespräche drehen sich dabei häufig um persönliche Erfahrungen und biografische Brüche, die als diskriminierend wahrgenommen werden, auch wenn sich die ehemaligen Soldaten nicht als Opfer sehen. Sie sprechen außerdem viel über die Entsorgung der technischen Ausrüstung der NVA in der Bundesrepublik und sozialrechtliche Herausforderungen im wiedervereinten Deutschland. Alle Gesprächspartner sind überzeugt, dass die allgemeine Repräsentation der DDR und ihres Alltags im öffentlichen Diskurs eine korrekte Darstellung der NVA verhindere. Viele der Interviewpartner deuten dies als „Umgang eines kapitalistischen Systems mit der Vergangenheit eines sozialistischen Gesellschaftssystems“ (S. 158) und verweisen kritisch auf die Besserstellung der ehemaligen Angehörigen der verbrecherischen Wehrmacht nach 1945.
Im Blick auf die „NVA selbst, stellen die Interviewten kontrastierend heraus, dass die DDR-Armee als Friedensarmee erinnert werden solle und damit als Vorbild dienen könnte für die heutige Sicherheitspolitik“ (S. 156). Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sehen die Gesprächspartner als problematisch an. Sie stünden im „Kontrast […] zur Friedensorientierung der NVA und deren Verzicht auf Interventionen im Ausland“ (S. 167). In diesem Zuge erwähnt Schultheiß allerdings auch, dass die interviewten Ex-Soldaten im Kontext der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 häufig pro-russische und NATO-kritische Positionen einnehmen.
Schultheiß arbeitet heraus, dass die NVA-Angehörigen nach 1990 mit zwei zentralen Herausforderungen konfrontiert waren. Erstens waren sowohl ihr Staat als auch ihre Armee und damit ihre ökonomische Lebensgrundlage verschwunden. Zweitens war die Bundesrepublik in den 1990er-Jahren bereits eine „Post-Military Society“ (S. 197). Das Verhältnis der westdeutschen Bevölkerung zur Bundeswehr hatte sich durch die gesellschaftlichen Veränderungen der 68er- und die Friedensbewegung 1981 distanziert. Das heißt, dass die Anerkennung, die Angehörige der NVA als „Sozialistisch[e] Soldatenpersönlichkeit[en]“ (S. 51) und Uniformträger in der militarisierten DDR-Gesellschaft erfuhren, in einer militärisch desinteressierten Gesellschaft vollkommen verpuffte. Daran anknüpfend kommt Schultheiß zu dem Schluss, dass das Desinteresse gegenüber der NVA nicht nur auf die Dominanz der Staatssicherheit in der öffentlichen Wahrnehmung zurückzuführen ist, sondern die Gründe zugleich in einer Gesellschaft zu suchen sind, die sich bis zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 immer mehr zu einer Post-Military Society entwickelt hat.
Wie trotzdem eine Integration der NVA-Angehörigen in die Bundesrepublik erfolgte, arbeitet Schultheiß anhand des Deutschen Bundeswehrverbands heraus, der in vielen Soldateninterviews positiv hervorgehoben wird: „Als von der Post-Military Society [kursiv im Original] weitestgehend unbeeinflusster Raum wirkte der Verband als sozialer Ort, an dem die Soldaten als Vertreter eines gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzten Wertekanons zwischenmenschliche Anerkennung erfahren konnten.“ (S. 211) Der Deutsche Bundeswehrverband entschloss sich bereits früh, allen ehemaligen DDR-Soldat:innen, „unabhängig von einer Weiterverwendung in der Bundeswehr eine Mitgliedschaft zu ermöglichen“ (S. 214) und deren Interessen und Ansprüche in der Bundesrepublik zu vertreten. Herauszustellen, dass gerade diese zivilgesellschaftliche Organisation im Transitional-Justice-Prozess nach 1990 eine so wichtige Rolle spielte, ist ein Verdienst der Arbeit. Dabei bleibt allerdings die Frage offen, inwiefern gerade soldatische Männlichkeit als Bindeglied fungiert, gegenseitige Anerkennung und Zugehörigkeitsgefühl zwischen Militärangehörigen jenseits ideologischer Differenzen zu ermöglichen, da keine der ehemaligen Soldatinnen dazu befragt werden konnte.
Anmerkungen:
1 Auch bei der NVA herrschte kein Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen. Am 3. Oktober 1990 waren beispielsweise von 40.000 Offizier:innen 190 weiblich. Zusätzlich gab es in der NVA 400 Offiziersanwärterinnen. Vgl. Winfried Heinemann, Die DDR und ihr Militär, München 2011, S. 86.
2 Das zeigt auch der Titel des Dokumentarfilms von Signe Astrup „Die vergessene Armee“ (2017), der sich mit dem Leben von ehemaligen NVA-Soldaten in der Bundesrepublik beschäftigt. Der Trailer findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=2VzqepmCycw (zuletzt aufgerufen am 20.02.2023).
3 Die Maßnahmen zur Vereinigung der beiden Armeen liefen bei der Bundeswehr „unter dem Leitbild Armee der Einheit [Hervorhebung im Original]“ (S. 177). Der Begriff wird auch heute noch auf der Website der Bundeswehr genutzt, wenn es um ihre eigene Geschichte geht. Vgl. https://www.bundeswehr.de/de/ueber-die-bundeswehr/geschichte-bundeswehr/armee-der-einheit-wiedervereinigung (zuletzt aufgerufen am 20.02.2023).