J. M. Müller: Villen und Landhäuser im Vordertaunus

Cover
Titel
Villen und Landhäuser im Vordertaunus. Eine Kulturlandschaft im Rhein-Main-Gebiet


Autor(en)
Müller, Johannes Martin
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Menning, Historisches Seminar, Universität Tübingen

Zeig mir, wie Du wohnst, und ich sage Dir wer Du bist. In diesem Sinne hat sich die Forschung in Großbritannien in den letzten Jahren intensiv mit Country Houses beschäftigt und nach der materiellen Kultur und den sozialen Arrangements gefragt. Von hier aus – so zeigen zahlreiche Aufsätze und Monographien – lassen sich größere kulturelle und gesellschaftliche Transformationen im 18. und 19. Jahrhundert quellengesättigt erforschen und beschreiben.1 Für Mitteleuropa haben das herrschaftliche Wohnen und die damit verbundenen sozialen, kulturellen und materiellen Entwicklungen hingegen kaum das gleiche Interesse von Forscher:innen auf sich gezogen.2 Dass dies bedauerlich ist und sich beispielsweise für die zuletzt lebhaft diskutierte Geschichte des Kaiserreichs von hieraus neue Erkenntnisse gewinnen lassen, ergibt eine Lektüre des üppig bebilderten Bandes von Johannes Martin Müller, wenn das Buch an sich auch nicht immer die Erwartungen erfüllt und zuweilen zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt.

Müller wendet sich in seinem aus einer Masterarbeit im Fach Historische Geographie hervorgegangenen Werk den „Villen und Landhäusern“ im Vordertaunus, genauer in Kronberg und Königstein, zu. Nachdem der Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Frankfurter Naherholung erschlossen worden war, setzte in der zweiten Jahrhunderthälfte, später befördert durch die Eröffnung von Stichbahnen, eine rege Bautätigkeit der Frankfurter und deutschen Oberschicht im Umland der beiden Orte ein. Die zunächst vor allem für die Sommerfrische errichteten, später teils ganzjährig genutzten Häuser schauten von den Hängen des Vordertaunus auf die sich entwickelnde Metropole Frankfurt, den Spessart oder das Oberrheintal, auf die lokalen Burgen beziehungsweise Burgruinen. Industriellen- und Bankiersfamilien sowie Künstler und Ärzte ließen sich hier ebenso nieder wie die Kaiserin Victoria, Witwe Kaiser Friedrichs III. Deren Anwesenheit lockte auch Wilhelm II. sowie die britische Verwandtschaft öfters in den Vordertaunus. Doch sie stand auch mit den bürgerlichen und geadelten Familien in der Nachbarschaft (einschließlich jüdischen Familien) in regelmäßigem Kontakt.

Die Häuser und ihre Parks, deren Planer und Erbauer sowie die in ihnen und um sie herum gelebte Soziabilität werden von Müller in einzelnen Kapiteln seiner Untersuchung entfaltet und immer wieder mit Fotos und Kartenmaterial veranschaulicht. Zahlreiche Quellen hat er dabei erstmalig aufgetan. Insbesondere die Brieftaubenfotos – Bilder die durch am Bauch von Tauben befestigte Kameras mit Zeitauslöser gemacht wurden – vermitteln einmalige und in dieser Form wohl für keine andere Region um 1900 überlieferte Eindrücke. Leider bleibt jedoch die Materialgrundlage der Arbeit dünn, wenn es um das tatsächliche Zusammenleben in den Häusern geht. Hier zeigen sich die Grenzen von Müllers fachlich bedingtem Zugriff – aber sicher auch die unausgesprochenen Beschränkungen seiner ursprünglichen Masterarbeit. Die Grenzen der Kenntnis historischer Forschungsliteratur zeigen sich darüber hinaus, wenn gelegentlich die Feudalisierungsthese ihre Wiederauferstehung feiert (S. 132), während bei der Baubeschreibung doch die wesentlich höhere Komplexität der Befunde gezeigt wurde (S. 77). Statt eine Liste notwendiger Korrekturen zu erstellen und Ansprüche an die Arbeit zu erheben, die der Autor nicht befriedigen konnte oder wollte, scheint es jedoch sinnvoller das Forschungspotenzial zu verdeutlichen, welches sich aus einer Lektüre des Bandes ergibt.

Auffällig ist dann besonders, dass Müller zwar seinen Untersuchungsraum sehr ausführlich beschreibt (S. 32–41), es jedoch unterlässt, den Untersuchungsgegenstand genauer zu definieren. Erst im Laufe der Lektüre wird klarer, dass es ihm vorrangig bis ausschließlich um die wirklich großen und markanten Gebäude und nicht die vermutlich zahlreicheren kleineren Villen geht. Als nach zwei Fünfteln des Buchs dann die Begriffe „Landhaus“ und „Villa“ tatsächlich näher definiert werden (S. 117–118), scheint es merkwürdig, dass das kaiserliche Schloss Friedrichshof auch hierunter fällt und so große Aufmerksamkeit im Buch erhält. Man kann hierin ein Problem des Autors sehen – und in gewisser Weise ist es dies sicher auch. Es spiegelt sich darin aber, so scheint mir, ein größeres Problem, von dem aus sich neue Blicke auf die Sozialgeschichte des Kaiserreichs eröffnen.

Zwei Beispiele um dies zu illustrieren: So vermeldete eine Quelle aus dem Jahr 1893: „Es wird in Zukunft immer schwerer für die Erbauer von Villen“, und hier möchte der Sozialhistoriker an Bürger denken, „in Königstein ein Plätzchen zu finden, auf welches man eine größere Villa stellen könnte, denn jeder Hügel […] ist schon mit einem […] Palästchen geschmückt“ und jetzt denkt man an den Adel, das im Bau befindliche Schloss der Kaiserin Victoria oder ein feudalisiertes Bürgertum, nur um sich dann zu wundern, wenn es weiter heißt: „in denen gut situierte Frankfurter,“ und hier sind wir wieder beim allenfalls nobilitierten Bürgertum, „dem Stadtgetriebe nicht allzuweit entrückt, ihre Sommerfreuden genießen.“ (S. 82) Andere Beispiele unterstreichen dieses begriffliche Durcheinander: Ein Gartenplan des Anwesens des jüdischen Industriellen Ludwig Wilhelm von Gans bezeichnet das Hauptgebäude als „Herrenhaus“. (S. 181) Wer jetzt verwirrt ist, kann sich mit Müllers Hilfe auch die überlieferte Bausubstanz ansehen: So ließ sich der aus altem Adel stammende Frankfurter Bankier Albert Andrae de Neufville 1889/90 eine neogotische Traumburg bauen, die jedoch im Belvedere den Frankfurter Rententurm und im Stufengiebel die dortigen Bürgerhäuser zitierte. (S. 77) Etwas weiter erfährt man, dass sich in den Salons und auf den Tennisplätzen Bürgerliche und Adlige christlicher und jüdischer Konfession vielleicht nicht immer auf Augenhöhe aber doch häufiger begegneten.

Man könnte geneigt sein, hierin die ultimativ gescheiterten „Annäherungen [… von adligen] Grandseigneurs und Bourgeoisie“ im Frankfurter Umland zu sehen, die Stephan Malinowski um 1900 hauptsächlich in der Reichshauptstadt beobachtet hat.3 Freilich, „Annäherungen“ setzen voraus, dass sich distinkte Gruppen begegnen. Die im vorherigen Absatz zitierten Beobachtungen sprechen hingegen eher für eine Verwirrung der Kategorien, dafür, dass Menschen bei der Hausplanung, der Einladung zum Teekränzchen oder zum Tennismatch Identitäten konstruierten und dass dabei weniger große Strukturen die erste Rolle spielten, sondern das durch mehr oder weniger alltägliche Entscheidungen der Platz des Einzelnen in der Gesellschaft, sein Rang und sozialer Status immer wieder ausgehandelt wurden. Von solchen aus dem Wohnarrangement und der dadurch erzeugten Soziabilität generierten Situationen auszugehen, erlaubt es, die Geschichte des Kaiserreichs ergebnisoffener in den Blick zu nehmen, darüber die Schattenseiten jedoch nicht zu vergessen. Die Annahme einer Einladung zum Tee in der Villa der Rothschilds und ein latenter Antisemitismus müssen sich so nicht widersprechen. Gleichzeitig musste ein jüdischer Industrieller, der sich ein neobarockes Schloss auf den Hügel bauen ließ, seine kulturellen Wurzeln nicht für alle Zeit hinter sich lassen.4

Insofern könnte es sich für die zukünftige Forschung als produktiv erweisen, zunächst einmal von der Verwirrung und dem Verschwimmen von Kategorien und Begriffen im und am Haus der Oberschicht auszugehen und von hieraus erneut nach der Flugbahn der Sozialgeschichte des Kaiserreichs zu fragen.5

Anmerkungen:
1 Als Einstieg z.B. Jon Stobart, Comfort in the Eighteenth-Century Country House, London 2022.
2 Ewald Frie u.a., Landhäuser im Wandel. Gesellschaftliche Transformation in deutschen Regionen, 18.–20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 68 (2020), S. 103–117.
3 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, 3. Auflage, Berlin 2009, S. 121–144.
4 Vgl. dazu auch das Jewish Country House Project an der Universität Oxford. https://jch.history.ox.ac.uk/home [04.11.2022].
5 Zum Situativen in der Sozialgeschichte auch Ewald Frie, Stand halten. Adliges Handeln und Erleben in Preußen um 1800, in: Journal of Modern European History 19 (2021), S. 244–255.

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