M. Schmeitzner (Hrsg.): Die Diktatur des Proletariats

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Titel
Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision


Herausgeber
Schmeitzner, Mike
Erschienen
Baden-Baden 2022: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rhena Stürmer, Lehrstuhl für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Universität Leipzig

Der Tagungsband „Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision“, herausgegeben von Mike Schmeitzner, versammelt zwölf Beiträge, die sich mit den unterschiedlichen Interpretationen der „Diktatur des Proletariats“ vonseiten marxistischer Akteure im 19. und 20. Jahrhundert befassen. Neben demokratie- und revolutionstheoretischen Debatten werden auch exemplarische Fallbeispiele aus der politischen Praxis – etwa der Bayerischen Räterepublik 1919 oder der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung seit den 1950er-Jahren – untersucht. Der Band zeigt, dass der Begriff „Diktatur des Proletariats“ neben der autoritären Interpretation auch ein liberales Verständnis erhielt, das darauf ausgelegt war, breite (proletarische) Bevölkerungsschichten von demokratischen Herrschaftsprinzipien zu überzeugen. Etwa die Hälfte der zwölf Beiträge thematisiert die Ausformung dieses Konzepts in der politischen Praxis. Dabei wird deutlich, dass dieser schillernde Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten gefüllt und zur Legitimation der jeweiligen Staatsvorstellungen passgenau (neu-)konzeptionalisiert wurde.

Der erste Abschnitt versammelt Beiträge zur frühen Phase der marxistischen revolutions- und demokratietheoretischen Debatte. Wilfried Nippel skizziert die ideengeschichtliche Entwicklung des Diktatur-Begriffs bis ins frühe 20. Jahrhundert. Mike Schmeitzner und Uli Schöler diskutieren in ihren jeweiligen Beiträgen die innerlinke Kritik, die es von Kautsky beziehungsweise dem Menschewik Julius Martow an der von Lenin und Trotzki bemühten Diktatur einer Partei zur Absicherung der bolschewistischen Herrschaft gab. Für das Verständnis der weiteren Beiträge liefert der Aufsatz Nippels eine sehr gute Grundlage. Beginnend in der römischen Antike, in der die Diktatur als zeitlich begrenzte Herrschaftsform zur Lösung einer politischen Krise durchaus legitim war, zeichnet er die weitere Entwicklung nach. In der staatstheoretischen Diskussion der Frühen Neuzeit wurde eine Diktatur ebenfalls progressiv gedeutet und durch Machiavelli und Rousseau als Behelfsmittel zur Aufrechterhaltung republikanischer Prinzipien durch eine innerhalb verfassungsgemäßer Regeln agierenden, mit besonderen Vollmachten ausgestatteten exekutiven Herrschaftsinstanz akzeptiert. Die Bedeutungsdivergenz, die eine illegitime Herrschaft in die Begriffsbedeutung einschloss und damit den Diktatur-Begriff auch zum „Kampfbegriff“ (S. 21) machte, entwickelte sich Nippel zufolge im Verlauf der Französischen Revolution. Zu dieser Zeit wurde die Diktatur-Konzeption durch die politische Linke erstmals um den Revolutionsbegriff erweitert: Die Diktatur wurde nicht mehr allein als eine Herrschaftsform zur Aufrechterhaltung einer bestehenden (republikanischen) Ordnung verstanden, sondern enthielt auch Möglichkeit, mittels einer starken Exekutivgewalt eine neue politische Ordnung zu etablieren. Im Zuge der Revolutionen 1848/49 adaptierten Marx und Engels diesen revolutionären Diktaturbegriff und verbanden ihn mit ihrer klassentheoretischen Gesellschaftsdiagnostik, woraus sich die Vorstellung einer zeitweiligen proletarischen Diktatur im Revolutionsprozess auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft ergab. Nippel problematisiert hier nachvollziehbar die Unschärfe des Konzepts der „Diktatur des Proletariats“ in den politischen und revolutionstheoretischen Schriften von Marx und Engels, was in der Folgezeit zu immensen Deutungskämpfen führte. Er zeigt zudem, wie selten diese Begrifflichkeit letztlich in den Schriften von Marx und Engels auftauchte – anders als man angesichts ihrer Verwendung in sich auf den Marxismus berufenden politischen Systemen vermuten lässt.

Die Beiträge Helmut Altrichters, Béla Bodos und Bernward Antons konzentrieren sich im zweiten Teil des Bandes auf konkrete historische Kontexte, in denen der Begriff genutzt wurde. Während Altrichter die Gewaltgeschichte des sowjetrussischen Bürgerkriegs nacherzählt, liefert der Beitrag Béla Bodos über das Staatsverständnis in der ungarischen Räterepublik besonders aufschlussreiche Erkenntnisse. Anhand der Debatten des Galileo-Kreises skizziert Bodo die Interpretationen der bolschewistischen Herrschaft in der linksintellektuellen Szene Ungarns und veranschaulicht den Wandel bei Georg Lukács, der nach anfänglicher Skepsis eine auch auf Gewalt fußende Herrschaftspraxis als „Idee der befreienden Sünde“ (S. 114) befürwortete. Praktische Relevanz erhielt diese Debatte 1919, als nach innen- und außenpolitischen Krisen die von der Sozialdemokratie und der unter anderem aus dem Galileo-Kreis hervorgegangenen Kommunistischen Partei Ungarns getragene ungarische Räterepublik entstand. Ihre Repräsentanten verwendeten dabei sowohl die Bezeichnung der „Diktatur des Proletariats“ als auch die einer „proletarischen Demokratie“. Sie meinten damit einerseits die Konzentration der Herrschaft auf die beiden Arbeiterparteien, andererseits die Ausweitung der Mitbestimmung im politischen und wirtschaftlichen Leben – wobei laut Bodo die Bedeutung stets vom genauen Kontext abhing. Welche realpolitischen Folgen also das Verständnis von der „Diktatur des Proletariats“ hatte, zeigte sich erst in der konkreten Praxis. Für die ungarische Räterepublik bedeutete dies umfassende Enteignungen, den Ausschluss der bürgerlichen Parteien aus dem politischen Entscheidungsprozess sowie die Machtausübung durch Räte auf Dorf-, Gemeinde-, Bezirks- und Landesebene. Dabei zeigt Bodo, dass auch unter als „Diktatur“ proklamierten Bedingungen eine demokratische Teilhabe möglich und erwünscht ist. Der Autor beleuchtet nicht nur die linke Diskussion um die Legitimität der Räteherrschaft, sondern auch die Kontroversen um die historiographisch-politische Einordnung der Räterepublik in der ungarischen Geschichte: Von der politischen Rechten wurde die Räterepublik als vermeintlich jüdisches Projekt antisemitisch diffamiert, während sie vonseiten konservativer und liberaler Intellektueller als „historische Sackgasse“ (S. 110) eingeordnet wurde, welche die Bevölkerung nachhaltig von demokratischen und liberalen Politikvorstellungen entfremdete. In der realsozialistischen Lesart wurde die Räterepublik hingegen als Vorstufe der kommunistischen Herrschaft wertgeschätzt.

Im Kontext der Bayerischen Räterepublik war, so zeigt Bernward Anton, ein sprunghafter Anstieg der Verwendung des Terminus der „Diktatur des Proletariats“ ab Mitte 1919 zu verzeichnen, unter dem dann „meist eine antidemokratische, antiparlamentarische, auf Gewalt beruhende, von einer kommunistischen Partei ausgeübte Herrschaft verstanden [wurde]“ (S. 136). Dies ist umso bemerkenswerter, hatten die linken Akteure Bayerns bisher nicht zu einer radikalen Lesart politischer Herrschaft tendiert: Der linksradikale Flügel der SPD war im Kaiserreich kaum präsent, und im Zuge der Novemberrevolution übernahm lediglich eine kleine Gruppe von USPDlern um Eisner die politische Macht. Als revolutionstheoretisches Analyseinstrument, mit dem man die Ereignisse in Sowjetrussland zu fassen und seine eigene politische Praxis definitorisch zu schärfen versuchte, fand dann ab November 1918 laut Anton die Begrifflichkeit Eingang in den politischen Sprachgebrauch. Um sich von den avantgardistisch-diktatorischen Revolutionsvorstellungen der Bolschewiki und der KPD abzusetzen, benutzte die USPD auch den Begriff der „Diktatur des gesamten Proletariats“. Vonseiten der Bevölkerung wurden die konkreten, wenn auch nur kurzzeitig realisierten Maßnahmen – Ausbau der Macht zugunsten der Betriebs- und Soldatenräte, Sozialisierungen – schließlich mit dem Konzept der „Diktatur des Proletariats“ identifiziert, sodass er „während der Revolutionsmonate zu einem Gegenstand der politischen Alltagspraxis [wurde]“ (S. 157).

Im dritten Abschnitt des Bandes beschäftigen sich die verschiedenen Autoren mit den Interpretationen der „Diktatur des Proletariats“ von einzelnen historischen Personen. Stefan Weise nimmt in seinem Beitrag eine Begriffsbestimmung der „Arbeiterregierung" vor. Während Karl Marx die Pariser Kommune mit der Vorstellung einer Arbeiterregierung identifizierte, legte beispielsweise Carl Legien einen sozialstrukturellen Maßstab an: Ihm zufolge handele es sich dann um eine Arbeiterregierung, wenn die Minister einer Regierung allesamt Arbeiter sind. Jan Claas Behrends widmet sich in seinem Beitrag der Verschiebung der ideologischen Termini in der Sowjetunion: Während unter Stalin eher national und geopolitisch aufgeladene Begriffe und Konzepte bemüht wurden, kam es erst nach dessen Tod zu einer „Re-Ideologisierung und Renaissance des marxistischen Denkens [.]“ (S. 201). Mario Keßler befasst sich in seinem Beitrag mit vier Kritikern der DDR und ihrer Vorstellung von proletarischer Herrschaft. Neben Wolfgang Harich, Robert Havemann und Rudolf Bahro behandelt er die Überlegungen von Fritz Behrens – in der Vorstellung dieses weniger bekannten Kritikers liegt die eigentliche Stärke des Beitrags. Dieser forderte in seiner zu DDR-Zeiten nicht veröffentlichten Schrift eine Abkehr von leninistischen Prinzipien und favorisierte stattdessen eine auf Räten und Selbstverwaltung basierende, ökosozialistische Umformung der DDR.

Der vierte Teil des Sammelbandes vereint Beiträge, die sich anhand der jugoslawischen Selbstverwaltung (Marie-Janine Calic), den ostmitteleuropäischen kommunistischen Parteien in der Transformationszeit (Tom Thieme) sowie dem Eurokommunismus (Nikolas Dörr) und mit der jeweiligen Ausdeutung der „Diktatur des Proletariats“ befassen. Auch wenn der Eurokommunismus nur eine kurze Phase in der Geschichte der westeuropäischen kommunistischen Parteien darstellte, macht Dörr dessen Langzeitfolgen nachvollziehbar deutlich. Er skizziert anhand der italienischen, französischen und spanischen KP die Schwierigkeiten, die auf theoretischer und praktischer Ebene entstanden, als sich diese an der Sowjetunion orientierten Parteien vom zentralen Ideologem der „Diktatur des Proletariats“ entfernten. Zwar entsprachen sie damit auch der eher wohlfahrtsstaatlichen denn klassenkämpferischen Orientierung ihrer Anhänger- und Wählerschaft; die politischen Konzeptionen, die strategisch an die Stelle der marxistisch-sowjetischen Revolutionstheorie treten sollten, blieben indes unklar. In der Praxis setzten die Parteien, speziell auf regionaler Ebene und hier besonders die italienische PCI, schon vor dem Abschied von der „Diktatur des Proletariats“ auf reformorientierte Mitwirkung innerhalb der jeweiligen parlamentarischen Systeme, die „das Ziel einer proletarischen Diktatur zur bloßen theoretischen Semantik hatte werden lassen“ (S. 253).

Der Band, der auf eine gleichnamige Tagung aus dem Jahr 2021 am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden zurückgeht, beleuchtet ein Thema, welches in der neueren historischen Forschung vergleichsweise selten berücksichtigt wird. Durch die Theorie- und Begriffsarbeit bietet er Anregungen zu einer Auseinandersetzung mit den staatstheoretischen und politischen Grundlagen vergangener sozialistisch orientierter Herrschaftsformen, und könnte gleichermaßen kritisch-historische Impulse für die soziologisch-politikwissenschaftliche Debatte um alternative Formen des Regierens liefern. Die Beiträge bestechen durch ihre intensive Diskussion der ausgewählten Phänomene. Deutlich wird, wie divers das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ verstanden und angewendet werden konnte – von basisdemokratischen, räteorientierten Herrschaftsformen wie in der jugoslawischen Selbstverwaltung, bis zur stalinistischen Sowjetunion beriefen sich die unterschiedlichen Regime auf die proletarische Herrschaft zur Legitimation ihrer politischen Agenda. Neben einigen Flüchtigkeitsfehlern befremdet stellenweise der totalitarismustheoretische Duktus, etwa wenn mitunter die Gewaltgeschichte der Sowjetunion betont wird und das eigentliche Forschungsinteresse des Bandes in den Hintergrund gerät. Der Erkenntnisgewinn wird dadurch dennoch insgesamt kaum beeinträchtigt. Die Mischung von ideen- und begriffsgeschichtlichen Analysen und der praktischen Umsetzung marxistisch orientierter Regime verdeutlicht die Intensität des Ringens um die Ausdeutung des Konzepts innerhalb der politischen Linken, und welche realpolitische Relevanz die jeweilige Interpretation für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben hatte.

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